Heute in den Feuilletons

Kaum koschere Leber

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.03.2013. Der Tagesspiegel schaut mit Maurizio Pollini ins Laboratorium der Komponisten. Rue89 erklärt, warum Bernard-Henri Lévy jetzt nicht mehr nach Libyen darf. In der taz ist Najem Wali verzweifelt über den Irak im Zustand der Selbstverwaltung. Die NZZ erklärt, warum Google News nicht so gut funktioniert, wie es sollte. In der FAZ betrachtet Botho Strauß Govaert Flincks "Susanna und die beiden Alten". Alle gratulieren Philip Roth zum Achtzigsten.

TAZ, 19.03.2013

Niedergeschmettert betrachtet der Schriftsteller Najem Wali zehn Jahre nach dem Einmarsch der Amerikaner die Lage im Irak, der sich in die Staatenriege von Somalia, Kongo und Sudan einreiht. Komplett gescheitert: "Wer heute im Irak lebt oder wer sich in den Straßen Bagdads umschaut, braucht weder Theoretiker für Demokratie noch Spezialist in Wirtschaft oder Politik zu sein, um sich ein anschauliches Bild von dem Chaos und dem Verfall zu machen, die allerorts um sich greifen. Getoppt wird dieser Eindruck noch von Straßen und Brücken voll tiefer Rillen im Asphalt, Schulen mit gähnenden Löchern anstelle von Türen, Krankenhäusern in katastrophal unhygienischem Zustand und völlig versumpften Spielplätzen. Das ganze Land scheint dem Verfall preisgegeben zu sein."

In einem spannenden Gespräch unterhält sich Ingo Arend mit dem türkischen Kurator Vasif Kortun über die Entwicklung der Türkei und ihrer Kunstszene in den vergangenen zwanzig Jahren. An der Regierung Tayyip Erdogans findet er überraschend wenig auszusetzen: "Keine der großen Institutionen, die hier entstanden sind, favorisiert irgendetwas Religiöses. Natürlich könnte der Staat mehr für die Kultur und den öffentlichen Sektor tun. Aber die Idee der alten Öffentlichkeit ist überall verschwunden. Nicht nur in der Türkei. Wir erleben ein seismisches historisches Beben. Wir leben in einem Zeitalter der Nachöffentlichkeit... Wir leben in einer Ära prä 1750 und post 89."

Weiteres: Julia Grosse bewundert die "Impro-Performances", zu denen sich Londoner Pendler jeden Morgen wieder von der britischen Bahn nötigen lassen müssen. Georg Patzer besucht die Roberto-Matta-Ausstellung im Museum Frieder Burda in Baden-Baden

Welt, 19.03.2013

Mehrere Autoren gratulieren Philip Roth mit chronologisch sortierten Reminiszenzen zum Achtzigsten. Jan Küveler schreibt zu "Portnoys Beschwerden": "'Doktor Spielvogel', klagt der 33-jährige Portnoy einem deutschstämmigen Psychiater sein Leid, 'ich lebe in der Mitte eines jüdischen Witzes! Nur, dass es kein Witz ist!' Und ob es einer ist! Portnoys Zweckentfremdung einer ohnehin kaum koscheren Leber für seine autoerotischen Verzweiflungstaten - nachher wird die hassgeliebte Mutter das derart malträtierte und marinierte Stück Fleisch zum Essen servieren -, hat sich als maximal fruchtbar für den amerikanischen Humor erwiesen."

Weitere Artikel: Dankwart Guratzsch würdigt Pritzker-Preisträger Toyo Ito. Frank Schmiechen porträtiert den "Zweiten von links bei Kraftwerk", Karl Bartos, der eine neue Platte herausgebracht hat. Jenny Hoch hat Romeo Castelluccis Inszenierung des "Hyperion" in der Berliner Schaubühne gesehen. Und Manuel Brug bespricht Recital-Alben von Anna Prohaska und Julia Lezhneva.

Hier Lezhneva mit Händel:


NZZ, 19.03.2013

Stefan Betschon klärt auf der Medienseite darüber auf, wie der Story-Rank funktioniert, nach dem für Google News die Nachrichten klassifiziert werden: "Eine lange Nachricht ist besser als eine kurze, eine schnell publizierte Nachricht besser als eine, die später kommt. Eine Nachricht zu einem Thema, zu dem es auch viele andere Nachrichten gibt, ist wichtiger als eine, die thematisch eigene Wege geht. Eine Nachricht von einem großen, international aufgestellten Medienunternehmen, das viele Journalisten beschäftigt, viele Nachrichten produziert und stark frequentierte Websites unterhält, ist wichtiger als eine Nachricht aus einer kleinen, wenig bekannten Redaktion."

Weiteres: Joachim Güntner bilanziert die Leipziger Buchmesse. Markus Bauer berichtet von den Protest der freien Kirche "Biserica Ortodoxa Romana", der fast neunzig Prozent der Bevölkerung Rumäniens angehören, gegen die Einäscherung des rumänischen Regisseurs und Schauspielers Sergiu Nicolaescu.

Besprochen werden Peter Steins Inszenierung "Letztes Band" mit Klaus Maria Brandauer im ostbrandenburgischen Neuhardenberg, die Ausstellung "Qin - Der unsterbliche Kaiser und seine Terrakottakrieger" im Bernisches Historisches Museum,
und Bücher, darunter Ernest Farrés' "Edward Hopper. 50 Poemes / 50 Gedichte", Mo Yan Roman "Frösche" von und Walter Gronds autobiografischer Roman "Mein Tagtraum Triest" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

Tagesspiegel, 19.03.2013

Frederik Hansen besucht in Mailand den Pianisten Maurizio Pollini, der gerade eine Tournee vorbereitet, in der er Beethoven mit zeitgenössischen Komponisten paart: "'Beethoven hat immer das Neue gewagt, sein ganzes Leben lang', erklärt Pollini. 'Das Voranschreiten war für ihn der Zweck aller Kunst.'" Deswegen müsste sich auch das Abonnement-Publikum auch mal für was anderes als die Klassik und Romantik interessieren, meint Pollini: "'Es ist doch ein ganz tolles Gefühl, so nahe am kreativen Prozess dran zu sein, ins Laboratorium der Komponisten zu schauen! Zu Beethovens Zeit übrigens wollten die Leute am liebsten nur Uraufführungen hören - und nicht so olle Stücke, die schon zehn Jahre alt waren!'"

Aus den Blogs, 19.03.2013

Bernard-Henri Lévy wäre gern bei den Geburtstagfeiern der libyschen Revolution in Tripolis dabei gewesen, berichtet Maryline Dumas in Rue89. Schließlich hat er einiges zu ihrem Gelingen beigetragen, indem er die internationale Intervention betrieb. Aber das Rathaus der Stadt macht nicht mit: "'Wir haben ihn nicht eingeladen', erklärt uns ein Verantwortlicher der Stadt, 'wenn er kommt, schließen wir die Tür. Wenn der Premierminister ihn eingeladen hat, soll er doch zum Premierminister gehen.' Die Sicherheitslage ist angespannt, das Rathaus fürchtet einen Anschlag, denn Bernard-Henri Lévy ist Jude, und das könnte Islamisten als Vorwand dienen, das Rathaus anzugreifen, erklärt man uns."
Stichwörter: Levy, Bernard-Henri, Rue89, Duma

FAZ, 19.03.2013

In der Berliner Gemäldegalerie versenkt sich Botho Strauß in Govaert Flincks "Susanna und die beiden Alten": "Hier ist die Blöße immer noch erschreckend, und sie erschreckt wie jede Epiphanie mit Unverständlichkeit." Mark Siemons erläutert die Hintergründe des "chinesischen Traums einer Renaissance der chinesischen Nation" und warum dieser "eigentümlich leer" ist. Andreas Rossmann berichtet von der Düsseldorfer Tagung "Die normale Stadt und ihre Häuser". Peter Kemper gratuliert den Yardbirds zum 50-jährigen Bestehen. Außerdem schaut sich die FAZ auf einer Seite mit kleineren Artikel nach dem Stand der "Homoehe" im Ausland um. Zudem jetzt online: Hubert Spiegels Geburtstagsgruß an Philip Roth aus der gestrigen Ausgabe.

Auf der Medienseite setzt die FAZ ihre seit Samstag anhaltende Werbekampagne für die ZDF-Wehrmachtsschnulze "Unsere Mütter, unsere Väter" in Form von zwei Artikeln fort.

Besprochen werden eine CD mit Aufnahmen der Sopranistin Anna Prohaska, ein amerikanischer Fernsehfilm über Dick Cheney, ein "Idomeneo" an der Oper Frankfurt, ein "Wilhelm Tell" im Zürcher Schauspielhaus, ein "Hyperion" an der Berliner Schaubühne und Bücher, darunter Martina Lewyckas Roman "Die Werte der modernen Welt unter Berücksichtigung diverser Kleintiere" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

SZ, 19.03.2013

Ungarn hat sich bis heute nicht von seinen historischen Traumata erholt, erklärt Richard Swartz, der auch deutlich macht, dass Viktor Orban die sentimental-aggressive Stimmung im Land nur allzugut artikuliert: "Ungarn ist ein Land ohne echte demokratische Traditionen, geprägt von Feudalismus, Faschismus und Kommunismus. Als Gegengewicht fungierten der Begriff der Nation und die Vorstellung der Freiheit. Aber mitten in der europäischen Krise ist das Risiko groß, dass die nationalen Traumata die politische Tagesordnung bestimmen, eingefärbt durch die Perspektive des kleinen Nationalstaats."

Weiteres: Tim Neshitov erläutert, warum es so lange gedauert hat, dass die 1997 von den bayerischen Behörden konfiszierte Raubkunst aus zyprischen Kathedralen erst heute an Zypern zurückgegeben werden. Johan Schloemann führt Gründe aus Mythologie, Geopolitik und Wirtschaftsgeschichte dafür an, warum Zypern trotz seiner Lage vor der Haustür des Nahen Ostens zu Europa zählt. Der Autor Chandran Nair erklärt Felix Stephan im Gespräch seine Kritik an der Ideologie des Wachstums. Till Briegleb porträtiert den Schauspieler Fabian Hinrichs, den seit seinem Tatort-Auftritt im vergangenen Dezember Millionen Deutsche in ihr Herz geschlossen haben, auch wenn er - siehe dieses Interview für Cargo - gar nicht auf Harmonie gebürstet ist. Christopher Schmidt gratuliert Philip Roth zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden der deutsche Fantasyfilm "Rubinrot", Händl Klaus' "Gabe/Gift" am Schauspiel Köln und Bücher, darunter Ulrike Jureits "Ordnen von Räumen" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).