Heute in den Feuilletons

Ruin und Unfreiheit

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.11.2011. Die taz findet: Das neue Album von Loulou und Metallica ist für Nichtraucher nicht geeignet. Ein Leipziger StartUp schafft eine Flatrate für Bücher, berichtet Netzwertig. Wie groß ist die totalitäre Versuchung in Griechenland?, fragt Guy Sorman in Le Monde. Die SZ wirft einen ernüchterten Blick auf die Occupy Wall Street-Bewegung: dann doch lieber Kapitalismus. Die FAZ staunt über die Intensität der chinesischen Kulturpolitik.

TAZ, 04.11.2011

Aufrichtig erschüttert ist Klaus Walter nach dem Hören der Songs von Lou Reed, die dieser für eine Wedekind-Inszenierung Robert Wilsons schrieb und jetzt mit Metallica vertonte. Hochkomprimierten Panzersound, Weimarer-Dekadenz-Overkill und Kunststrebertum bescheinigt er dem Album "Lulu": "Nach zehn Minuten ist man geschlaucht wie nach acht Stunden Schach & Rauch mit Schmidt & Steinbrück. Heavy."

Alissa Staroub unterhält sich mit einem Aktivisten des digitale Protestkollektivs Anonymous, das für morgen eine Attacke auf Facebook angekündigt hat. "In großen Massen sollen auf allen möglichen Kanälen Informationen darüber verbreitet werden, was für Daten Facebook erhebt, wie diese Daten verwendet werden und wie unmöglich es ist, diese zu löschen ... Ziel ist es, dass so viele Benutzer wie möglich Facebook verlassen."

Weitere Artikel: Simone Schmollack informiert über eine gemeinsame Kampagne von Bravo und Familienministerium gegen Cybermobbing. Kristina Pezzei würdigt im Nachruf den Soziologen Hartmut Häußermann.

Besprochen wird das Album "Sauna Suit" der Formation Elektro Willi und Sohn und sehr gelobt - "klar, konzise, zugänglich" - das neue Buch "Laizität und Gewissensfreiheit" des inzwischen 80-jährigen kanadischen Philosophen Charles Taylor, das er zusammen mit seinem Kollegen Jocelyn Maclure verfasste (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Und Tom.

FR/Berliner, 04.11.2011

Harald Jähner erkennt in dem neuen chinesischen Geschäftsmodell, via Internetplattform putzige Sockenstofftiere in Deutschland zu verkaufen, Symbolcharakter: "Hier Infantilisierung, dort Fleiß und Cleverness - die Zukunft ist irgendwie schon entschieden." In Times mager blickt Judith von Sternburg neidisch nach Grobritannien, wo Regietheater noch echten Aufruhr erzeugt. Volker Weiß berichtet alarmiert von einer Veranstaltung in Hamburg, auf der sich die Antizionisten der Linkspartei tummeln werden. Eine Seite weiter vergleicht Nikolaus Bernau die Aufnahme Palästinas in die Unesco mit der der Bundesrepublik im Jahr 1949.

Besprochen werden unter anderem eine Ausstellung zu Ernst Ludwig Kirchners Architekturstudien auf der Mathildenhöhe Darmstadt und Roger Vontobels Inszenierung von Shakespeares "Was ihr wollt".

Weitere Medien, 04.11.2011

Guy Sorman glaubt in Le Monde, dass die Handlungsweise Papandreous einen ganz anderen Hintergrund hat, als man annimmt: "Griechenland ist ständig durch extremistische Gewalt bedroht, von nationalistischen Rechtsextremen und von marxistischen Linksextremen. Der Bürgerkrieg von 1947 bis 49, der durch eine anglo-amerikanische Intervention niedergeschlagen wurde, ist ein Gespenst, das die griechische Gesellschaft umtreibt, und das gleiche gilt für die Militärdiktatur der Jahre 1967 bis 74... Der Schuldenschnitt und das Referendum sind nur Versuche, die Versuchung einer marxistischen Revolution oder autoritären Machtübernahme einzudämmen."

Welt, 04.11.2011

Hannes Stein liest einen Sherlock-Holmes-Nachfolge-Roman des Autors Anthony Horowitz, der demnächst auch auf Deutsch erscheint (hier ein Auszug aus "The House of Silk"). Jan Küveler teilt den Spott der FAZ (mehr hier) über die hochfliegenden Pläne des neuen Präsidenten der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Heinrich Detering. Gerd Held schreibt zum Tod des Städteforschers Hartmut Häußermann.

Besprochen werden eine Giacometti-Ausstellung in Paris und Werner Herzogs 3D-Film "Die Höhle der vergessenen Träume" (mehr hier), zu dem Rüdiger Sturm auch ein Interview mit dem Regisseur führte.

NZZ, 04.11.2011

Stephan Templ bilanziert recht böse die bisherige Arbeit der Direktorin des Jüdischen Museums in Wien und ihre erste Ausstellung über jüdische Studiogründer in Hollywood. Unverzeihlich findet er, dass das von einem eigenwilligen Konditor geführte Cafe Teitelbaum durch das Stehcafe einer Großbäckerei-Kette ersetzt wurde. Geri Krebs berichtet von privaten Kulturinitiativen auf Kuba, die neuerdings toleriert werden, sofern sie keine allzu große Nähe zu den USA aufweisen. Tobias Rupprecht reist nach Nukus in Usbekistan, das als einstiges "Tahiti der Sowjetkünstler" eine monumentale Sammlung russischer Modernisten beherbergt. Gabriele Hoffmann besichtigt die neue vom koreanischen Architekten Eun Young Yi entworfene Stadtbibliothek in Stuttgart.

Aus den Blogs, 04.11.2011

Clemens Wergin antwortet in seinem Welt-Blog auf einen Artikel Frank Schirrmachers, der angesichts der Griechenland-Krise von einem "Machtkampf zwischen dem Primat des Ökonomischen und dem Primat des Politischen" schrieb: "Es handelt sich hier keinesfalls um die Machtergreifung der Märkte, sondern um eine seit Jahrzehnten andauernde Selbstentmachtung der Politik durch eigene Verantwortungslosigkeit. Seit Jahrzehnten leben die postmodernen westlichen Demokratien konstant über ihre Verhältnisse. Die Bürger haben dabei kräftig mitgemacht, weil sie stets dazu geneigt haben diejenigen zu wählen, die ihnen mehr Verteilungsversprechen gemacht haben ohne sich groß zu fragen, wie das alles finanziert werden soll."

Das Leipziger Start-Up PaperC plant eine Flatrate für Fachbücher. Wer sie abonniert, soll freien Zugang zu tausenden Büchern haben, berichtet Martin Weigert in Netzwertig: "Die Flatrate, deren endgültiger Preis noch nicht feststeht, laut PaperC-Geschäftsführer Martin Fröhlich aber im Bereich von 10 bis 20 Euro pro Monat angesiedelt sein wird, erfüllt diese Ansprüche der Nutzer. Dank einer neuen HTML5-Reader-Webapp und dem Wechsel auf E-Books im EPUB-Format werden sämtliche in der Flatrate enthaltenen Bücher auf allen erdenklichen Endgeräten einwandfrei zu lesen sein - mittels Offline-Caching auch, wenn man gerade nicht online ist."

SZ, 04.11.2011

Gustav Seibt schüttelt sich vor Grausen, wenn er die Umverteilungsforderungen der Occupy-Bewegung liest, denn seiner Meinung nach ist mit Blick in die Geschichte ausgemacht: Die politische Steuerung der Wirtschaft "führten nicht nur in den ökonomischen Ruin, sondern auch in die Unfreiheit. Ruin und Unfreiheit nahmen unter totalitären Staatsbedingungen extreme Formen an. Es spricht aber wenig dafür, dass eine sogenannte demokratische Steuerung von Wirtschaft zu besseren Ergebnissen führte."

Weiteres: Ein "Feuerwerk der Einfälle" hat Reinhard Brembeck bei Andrea Moses' Berlioz-Inszenierung "La Damnation de Faust" an der Staatsoper Stuttgart erlebt. Nach dem "Coldplay"-Konzert ist sich Martin Wittmann sicher: "Coldplay" waren früher "nicht nur kleiner, sondern besser. Auch, weil sie kleiner waren". Stefan Kornelius unterhält sich mit Nixons einstigem Gegner George McGovern über Radikalität in den USA. Helmut Kerscher hat den Nachruf auf den Juristen Gerd Roellecke verfasst.

Besprochen werden eine Ausstellung mit mittelalterlicher Kunst im Bucerius Kunstforum Hamburg, eine Ausstellung im Schloss Köpenick über einen Prozess gegen den preußischen Kronprinz Anno 1730, Sharr Whites "Der andere Ort" am Nationaltheater Mannheim, Oliver Pys "Sonne" an der Berliner Volksbühne und Bücher, darunter den im Zeitraum von 30 Jahren entstandenen Roman "Der Tunnel" von William H. Gass (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 04.11.2011

Mark Siemons kommentiert das Vorhaben der chinesischen Kulturpolitik, über "Kultur in Großbuchstaben" eine Binnenstärkung der Nation zu bewirken: "Unabhängigen chinesischen Intellektuellen ist natürlich klar, dass sich ein blühendes Kulturleben nicht behördlich verordnen lässt... und dass der gelenkte Moral-Diskurs im Land bisher eher das Gegenteil befördert hat; schon Schulkinder lernen, dass die schönen Worte bloß das Machtgeflecht dahinter dekorieren und dass es daher in Wirklichkeit vor allem auf Durchsetzungsfähigkeit und Opportunismus ankommt." Dass die chinesische Kunst eine Steuerung von Peking aus ganz gewiss nicht nötig hat, versichert uns Andreas Platthaus in seinem Bericht von der 5. Biennale in Chengdu.

Weitere Artikel: Der Vorschlag, die Eurokrise durch die Einrichtung der "Vereinigten Staaten von Europa" abzuwenden, hält der Schweizer Philosophieprofessor Hermann Lübbe für einen weiteren Schritt in Richtung einer Katastrophe. Winfried Wehle stellt anlässlich einer neuen Edition die Poetik des Lyrikers Salvatore Quasimodo vor. Warum hat es die Skulptur in Zeiten des Körperkults so schwer, fragt sich Eduard Beaucamp in seiner "Kunststücke"-Kolumne und gibt den Museen zugleich Präsentationsempfehlungen. Oliver Jungen berichtet von dem Skandal, dass der Verlag "Gehlen und Schulz" fehlerstrotzende Exemplare von Kafkas "Schloss" EU-gefördert in Millionenauflage an Schulen verschenkt. Verena Lueken gratuliert Mike Nichols zum 80. Geburtstag. Swantje Karch empfiehlt die Ausstellung mit Arbeiten des Medienkünstlers Aernaut Mik im Museum Folkwang in Essen.

Besprochen werden Jez Butterworths Stück "Jerusalem", das nun nach zweijähriger Tour wieder in London angekommen ist, Michail Glinkas Musikepos "Ruslan und Ljudmila", mit dem das Moskauer "Bolschoi"-Theater eröffnet wurde, der Film "Nur für Personal", Oliver Pys "Die Sonne" an der Berliner Volksbühne und Elias Khourys Roman "Yalo" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).