Heute in den Feuilletons

Verlagspiraten

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.06.2009. Die Enttäuschung war einhellig: Die Literatur des Bachmann-Wettbewerbs war allzu kompatibel. Fehlervermeidung war die Devise, meint die NZZ, und jung war die Literatur auch nicht, sekundiert die SZ. In der FAZ sieht Diedrich Diederichsen Michael Jackson als Inbild spätkapitalistischer Selbstdisziplinierungszwänge. Die Blogs greifen den Casus Heidenreich auf. Wer enteignet die Autoren?

NZZ, 29.06.2009

Ziemlich gelangweilt kehrt Andreas Breitenstein aus Klagenfurt zurück, wo das Bachmann-Wettlesen in diesem Jahr in seinen Augen einfach bieder ausfiel: "Realistisches Erzählen aus der leicht verunsicherten Mitte des Alltags dominierte. Surreales war ebenso rar wie Historisches und Experimentelles. Fehlervermeidung war fast schon alles. Ein Plan mittlerer Schwierigkeit sollgemäß erfüllt, und schon gehörte man zu den Besten." Der Preis für Jens Petersen geht aber unter diesen Umständen für ihn in Ordnung.

Weiteres: Der St. Gallener Historiker Michael Kempe erklärt in einem Hintergrund-Text, warum Piraten, nicht einmal die der Karibik, schwerlich als romantisches Ideal von Sozialrebellen und Freiheitskämpfer taugen. Besprochen werden eine Vespasian-Ausstellung in den Kapitolinischen Museen, Götz Spielmanns Thriller "Revanche", eine Aufführung von "Samson et Dalila" bei den St. Gallener Festspielen und eine Inszenierung von Glucks "Orphee et Euridice" in Stuttgart.
Stichwörter: Klagenfurt, Karibik

TAZ, 29.06.2009

Die große Gabriele Goettle porträtiert in ihrer neuen Reportage die Hirtin und Käserin Sophie Bayer, die in der Schäferei Hullerbusch in der Feldberger Seenplatte lebt und arbeitet, quasi in selbstgewählter Armut. "Sie kann Klauen schneiden, kleinere Krankheiten behandeln und sogar Schafe scheren mit der Hand, sie kann Wolle spinnen und verarbeiten, sie kann filzen und dergleichen mehr. All diese Fähigkeiten stellt Sophie Bayer kostenlos zur Verfügung."

Eine "umwerfende poetische Kraft" attestiert Wiebke Porombka Jens Petersens Klagenfurter Siegertext "Bis dass der Tod", hat ansonsten beim Bachmann-Wettlesen wenig Untiefen oder Überraschungen erlebt, dafür einen neuen Trend zum Minigolf.

Und Tom.

Aus den Blogs, 29.06.2009

Joachim Losehand greift in seinem Blog auf freitag.de den Casus Heidenreich auf (mehr hier) und beschreibt, wie sich die Rechtepraxis der Zeitungsverlage von der im Internet unterscheidet: "Während bisweilen im Internet illegal und nach der wild-wild-web-Methode 'don't ask - don't tell' die Souveränität des Urhebers ignoriert wird, ignorieren Verlage wie der der FAZ die Souveränität des Urhebers vertraglich und legal."

In Telepolis schreibt Peter Mühlbauer unter dem Titel "Verlagspiraten" zu den Standardverträgen vieler Verlagshäuser für die freien Autoren: "Das Verwenden von Texten ohne Wissen der Autoren wird in der FAZ (vor allem seit dem Heidelberger Appell) rechtlich unzutreffend, aber werbewirksam, als 'Enteignung' bezeichnet. Mit diesem Begriff rührt die Zeitung die Werbetrommel für eine neues Leistungsschutzrecht, mit dem angeblich diese 'Enteignung' von Autoren verhindert werden soll. Tatsächlich dürfte solch ein neues Monopolrecht die Position von Autoren aber eher verschlechtern als verbessern."

Sehr sarkastisch antwortet Henryk M. Broder auf der Achse des Guten auf einen Spiegel-Artikel Erich Follaths, der Achmadinedschad und Netanjahu als "Auserwählte" auf eine Stufe stellte: "Ahmadinedschad ist die Marionette eines Systems, dessen Machthaber in den Kulissen agieren, Netanjahu hat nach einer Wahl eine Koalition zusammengefügt, die über eine Mehrheit in der Knesset verfügt. Man muss ihn nicht mögen. Aber man kann sich nicht um die Erkenntnis drücken, dass er im Gegensatz zu dem iranischen Präsidenten demokratisch legitimiert ist."

Morgen findet auf Initiative des Familienministeriums eine Tagung gegen Kinderpornos im Netz statt (als gebe es sie nur dort). Eine Erklärung wird vorbereitet, die die höchst umstrittenen Netz-Zensurmaßnahmen Ursula von der Leyens unterstützt, mit von der Partie sind große deutsche Medienkonzerne, berichtet Philip Steffan in netzpolitik.org: "Laut unseren Informationen sitzen alle großen Social Networks in Deutschland... mit im Boot. Damit werden diese sich ebenfalls klar hinter die vom Familienministerium und dem Zugangserschwerungsgesetz vorgegebene Marschrichtung 'sperren statt löschen' und gegen ein zensurfreies Internet stellen."

Welt, 29.06.2009

Dass es in der Regel Verwertungsrechte der Industrie sind, die Urheberrechte des Autors zunichte machen, erfährt man auch aus einem Artikel von Gerd Midding über die Filme des Drehbuchautors Jean-Claude Carriere und den Filmregisseur und Schauspieler Pierre Etaix: "Als Erbe der großen Stummfilmkomiker hat er mit Jacques Tati den hintergründigen Slapstick im europäischen Kino wieder heimisch gemacht, in dem er auf die Sprache der Gesten und Requisiten vertraut. Der wehmütige Trotz des Unterlegenen, der aus seinen Filmen spricht, führte nun die beiden Freunde in die Pariser Kinemathek. Denn ihre Filme sind unsichtbar geworden. Aufgrund eines juristischen Wirrwarrs führen sie eine Geisterexistenz, können seit Jahren nicht aufgeführt werden."

Weitere Artikel: "Ziemlich kleine, manchmal gar kleinmütige Literatur" hörte Elmar Krekeler in Klagenfurt: "Eine Literatur für mobil, das Magazin der Bundesbahn". In der Leitglosse erzählt Krekeler, wie mau der Literaturbetrieb in Klagenfurt die Nachricht vom Tod Michael Jacksons aufnahm. Michael Pilz liefert eine mögliche Erklärung in seinem "Nachtrag auf einen Außerirdischen: "Dass die rocksozialisierte weiße Mitte nie etwas mit Michael Jackson anzufangen wusste, ist kein Wunder. Sie hatte ja alles." Sascha Westphal macht einen Streifzug durch die Geschichte des englischen Gangsterfilms. Karola T. Kallweit stellt den amerikanischen Comedy-Star Sarah Silverman vor. Manuel Brug hatte immerhin einmal Spaß mit Haydn-Opern: in Potsdam mit "Philemon und Baucis" und "L'infedelta delusa".

Besprochen werden eine Doppelausstellung über den Mediziner, Forscher und Maler Carl Gustav Carus in Dresden, die Uraufführung des Dokudramas "Dutschke" beim Filmfest München und die Disney-Dvds "Pinocchio" und "Dornröschen".

FR, 29.06.2009

Der Künstler Cornelius Kolig spricht im Interview über Jörg Haider, Kärnten und sein Gesamtkunstwerk "Paradies", das gerade im Essl-Museum bei Wien gezeigt wird. Warum Geschlechtsorgane und Ausscheidungen darin so wichtig sind, erklärt er folgendermaßen: "Das hat einen ganz einfachen Grund. Fragen Sie einen Wissenschaftler, wie er Leben und Organisches definieren würde. Es gibt da einerseits die Stoffwechselvorgänge und dann die Reproduktion, das heißt Liebe, Sexualität und Weitergabe der Form. Damit verbunden ist auch der Tod. Ich dachte mir, wenn ich mich auf diese drei Dinge konzentriere, ist das ein Fundament, auf dem Petrus seine Kirche errichten könnte. Das sind Dinge, die Bestand haben und immer verstanden werden."

Weitere Artikel: "Leblos und glatt" fand Christoph Schröder die Texte beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb. Das Video über die getötete Iranerin Neda ist echt, hat Harry Nutt aus dem Blog von Paulo Coelho erfahren, der den Email-Wechsel mit dem neben ihr knienden Arzt dokumentiert.

Besprochen werden eine Aufführung von Becketts "Warten auf Godot" in New York, die Aufführung von Niccolo Jommellis Oper "Demofoonte" mit Riccardo Muti in Salzburg und Paris, das filmische Großwerk "Die Gesamtheit allen Lebens und alles Darüberhinausgehende" der Tödlichen Doris in der Frankfurter Galerie Parisa Kind, Ray Cooneys Farce "Außer Kontrolle" in Darmstadt und und CDs mit den Klavierkonzerten von Prokofjew und Beethoven, eingespielt von Jewgenij Kissin ("Keiner kann das heute so wie Kissin: die Klänge massieren und zugleich in blitzenden Stahl einkleiden, sie dem Hörer in die Ohren stoßen und dort festschrauben und dabei noch weinen wie Schubert. Darin liegt die Magie seines Spiels. Man ist daran gekettet, hoffnungslos. Man wird es nicht los", schreibt Jürgen Otten).

FAZ, 29.06.2009

Diedrich Diederichsen erkennt in den Irrungen des Michael Jackson nicht eine erratische Abweichung - sondern den Gehorsam gegenüber den Imperativen unserer Zeit: "Auch darin ist Jackson symptomatisch für die historische Verschiebung der vergangenen Jahrzehnte: An die Stelle des väterlichen Befehls ist der getreten, den wir uns selber geben - du sollst nie aufhören, dich zu optimieren! Selbstdisziplin ist gnadenloser als Gehorsam. Sie kennt kein protestierendes Gegenüber, kein Aushandeln, kein Verweigern. Der Verfasser der größten hedonistischen Hymne, 'Don't Stop Till You Get Enough', hat Hedonismus nie gelernt, er konnte sein eigenes Programm nur als Gnadenlosigkeit gegen sich selbst durchsetzen.

Weitere Artikel: Sandra Kegel fand die in Klagenfurt verlesenen Texte insgesamt wenig überzeugend, immerhin hat mit Jens Petersen für sie der beste Autor gewonnen. Tobias Rüther wendet sich, Jan Fleischhauers Konservatismus-Konversions-Pamphlet in der Hand, nach links und nach rechts und wird nirgends so richtig fündig. In der Glosse blickt Andreas Kilb mit Verachtung auf die kleinteiligen Pläne für den Berliner Ex-Flughafen Tempelhof. Katja Gelinsky berichtet über erste Ansätze zu dringend nötigen Gefängnisreformen in den USA, wo einer von hundert Bürgern im Knast sitzt. Zum anstehenden runden Geburtstag gratuliert wird dem Philosophen Alain Finkielkraut (60), dem Opernregisseur Peter Mussbach (60), dem Autor und Publizisten Ferdinand Mount (70), der Mezzosopranistin Brigitte Fassbaender, dem Historiker Eberhard Jäckel (80) und dem Dichter Hans Bender (90).

Besprochen werden die Uraufführung von William Forsythes Choreografie "The Returns" in Hellerau, das Auftaktkonzert des Rheingau Musik Festivals, bei dem Paavo Järvi Mahlers Neunte dirigierte, ein Kölner Konzert des Liedermachers Gisbert zu Knyphausen, Installationen von Jorge Pardo im Düsseldorfer K21, und Bücher, darunter Kojima Nobous Roman "Fremde Familie" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 29.06.2009

Burkhard Müller zieht ein leicht deprimierendes Fazit des Klagenfurter Wettlesens (mehr zu den Bachmann-Preisträgern hier): "Das alles war fast ausnahmslos nahezu perfekt gemacht. Autoren und Autorinnen wussten sämtlich, wie man die altehrwürdigen Gattungen der Prosa kunstgerecht bestellt. Man darf der Klagenfurter Veranstaltung alles Mögliche nachsagen, bloß eines nicht: dass sie noch viele Spuren von Jugend aufwiese."

Weitere Artikel: Orhan Pamuk singt ein Lob des Verlaufens in Venedig. In den Nachrichten aus dem Netz meditiert Tobias Kniebe über entlassene Filmkritiker aus Zeitungen (zum Beispiel Christoph Egger von der Neuen Zürcher Zeitung, hier sein Abschied von der Filmkritik) und die Frage, ob sie durch Blogs zu ersetzen sind. Laura Weissmüller berichtet von einem Kongress zur Frage: "Wie bringt man die Kultur in die Schulen?" Catrin Lorch berichtet von einer Expertenanhörung zur Zukunft des Kölner Stadtarchivs. Franziska Augstein gratuliert dem NS-Historiker Eberhard Jäckel zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden die Ausstellung "Baroque 1620-1800: Style in the Age of Magnificence" im Victoria & Albert Museum London, Ereignisse des Theaterfestivals von Neapel, Ursula Meiers Film "Home" mit Isabelle Huppert, eine Choreografie von William Forsythe in Dresden, rumänische Filme auf dem Münchner Filmfest, einige DVDs von Autorenfilmen und Bücher, darunter Nazim Hikmets nachgelassener Roman "Die Romantiker" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).