Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.04.2005. Benedikt XVI. kam zu spät für die deutschen Feuilletons. Darum mehr oder weniger die üblichen Themen. Die SZ meint: "Das Kapital wird darüber hinwegkommen, dass der Standort einmal so schlecht über die Unternehmer redet, wie Unternehmer über den Standort zu reden pflegen." Die FAZ staunt über neue Stalin-Denkmäler in Russland. In der FR fragt Richard Wagner: Wem nützt Gerhard Schröders Anbiederung bei den Chinesen?

FR, 20.04.2005

Die Argumente von Bundeskanzler Gerhard Schröder für eine Aufhebung des Waffenembargos gegen China hat Richard Wagner alle schon mal gehört - in den Achtzigern, als man sich im "fruchtbaren Dialog" mit der SED versuchte und die Dissidenten links liegen ließ. Das gleiche Spiel wiederhole sich heute. Aber wem nützt es, fragt sich Wagner. "Was hat Deutschland davon, wenn es seine Menschenrechtspolitik aufgibt, um mit den Befürwortern eines Kapitalismus ohne Demokratie in China oder auch mit Putins autoritärem Russland ins Geschäft zu kommen? Wahrscheinlich gar nichts. Die Konzerne, die in China produzieren lassen, haben sich längst von der Nationalökonomie abgekoppelt, unter anderem mit Hilfe dilettantischer Bilanz-Gesetze, die von der Schröder-Regierung verabschiedet wurden und dazu führten, dass kaum noch Steuern von diesen Groß-Unternehmen in Deutschland gezahlt werden. Ihre Investitionen tätigen sie ohnehin in China."

Besprochen werden die Ausstellung "Walls, Doors, Floors and Stairs" der britischen Bildhauerin Rachel Whiteread im Kunsthaus Bregenz und Bücher, darunter Attila Jozsefs Gedichte (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 20.04.2005

"Oh mein Gott! Ratzinger neuer Papst", stöhnt die taz auf Seite 1. In einem Kommentar auf den Tagesthemenseiten nimmt Philipp Gessler den Satz aufs Korn, den Benedikt XVI. nach seiner Wahl den Gläubigen auf dem Petersplatz sagte: "'Ich bin nur ein einfacher demütiger Arbeiter im Weinberg des Herrn.' Einfach ist er nicht, demütig kaum - und ein Arbeiter ist der Intellektuelle auch nicht. Die Kirche geht schweren Zeiten entgegen."

Auf den Kulturseiten interessiert sich Barbara Schweizerhof kaum für das Thrillerhafte in Sidney Pollacks Film "Die Dolmetscherin": "Was im Gedächtnis bleibt, ist dagegen die ungeheuer zarte Geschichte zwischen Sean Penn als Tobin und Nicole Kidman als Silvia."

Weitere Artikel: Jörn Schafaff berichtet über die 7. Sharjah International Biennial "Belonging" in den Vereinigten Arabischen Emiraten. Jan-Hendrik Wulf wirft einen Blick in die Zeitschriften Sinn und Form und Wespennest, die sich den Erinnerungen an Krieg und Terrorismus widmen.

Und Tom.

Berliner Zeitung, 20.04.2005

Arno Widmann kommentiert die Papstwerdung von Kardinal Ratzinger folgendermaßen: "Kaum jemand zeigte sich so überzeugt von seiner Aufgabe, der Kirche zum Triumph zu verhelfen, wie weiland Kurienkardinal Ratzinger. Keiner hat die Kirche so autokratisch, so autoritär als den Apparat des Vatikans begriffen, wie der jetzige Benedikt XVI. Seine Wahl, so erklärte die 'Initiative Kirche von unten' sei 'eine Katastrophe'. Benedikt XVI. wird das lesen und er wird lächeln darüber und er wird denken: Recht habt ihr. Für Euch wird es eine Katastrophe sein. Als Jesus seine Jünger versammelte und sie aufforderte zu verkünden, das Himmelreich sei nahe, da sagte er ihnen: 'Sehet, ich sende euch wie Schafe mitten unter die Wölfe; seid daher klug wie die Schlangen und arglos wie die Tauben!' Klug wie die Schlangen ist Benedikt der XVI. Unter die Gläubigen ist er bisher gefahren wie ein Wolf unter die Schafe, dass er arglos sei wie die Tauben, hat ihm noch niemand nachgesagt."

FAZ, 20.04.2005

Zu Benedikt XVI. kann das FAZ-Feuilleton wegen eines zu frühen Redaktionsschlusses nicht viel bringen. Patrick Bahners fragt, ob Ratzinger nicht ein verkappter Calvinist sei, denn sein Bild der Kirche als Schifflein erinnert ihn an die Nussschale, ein Emblem der Calvinisten. Und Christian Geyer fantasiert über Ratzinger und den Historismus.

Sechzig Jahre nach dem Krieg errichtet man Stalin neue Denkmäler. Je abstrakter der Schrecken durch die historische Entfernung wird, schreibt Kerstin Holm, desto mehr macht man Stalin in Russland wieder zur nationalen Integrationsfigur: "Dumasprecher Gryslow würdigte den Diktator als außergewöhnlichen Menschen, wie er Russland heute fehle. Während der Kriegsjahre habe Stalin Weltpolitik gemacht - wenngleich seine 'innenpolitischen Übertreibungen' ihn nicht schmückten, sagte Gryslow anlässlich des 125.Geburtstages des 'Völkervaters'. Die Sehnsucht der Volksseele nach Größe und Ordnung findet Ersatzbefriedigung in neuen Stalin-Denkmälern, die im Mai überall im Land emporsprießen werden. Im ostsibirischen Krasnojarsk, der einstigen GULag-Metropole, ist ein Stalindenkmal mit der Weihinschrift 'von dankbaren Nachfahren' geplant."

Weitere Artikel: Andreas Platthaus fühlt sich durch sozialdemokratische Boykottaufrufe gegen Unternehmen, die Stellen streichen, an den "höflichen Faschismus" erinnert, der nach einem Buch Wolfgang Schivelbuschs einst Roosevelts "New Deal"-Politik nachgesagt wurde. Andreas Rossmann hat sich auf einer Veranstaltung kulturpolitische Positionen der NRWSPD erläutern lassen. Jürgen Kaube geißelt in der Leitglosse den Zuschnitt des neuen schleswig-holsteinischen Ministeriums für Wirtschaft, Wissenschaft und Verkehr. Oliver Jungen verfolgte eine Bonner Veranstaltungsreihe der Friedrich-Ebert-Stiftung zu den Untaten des Pol-Pot-Regimes, auch eine Fotoausstellung zum Thema ist dort zu betrachten. Michael Gassmann freut sich, dass im renovierten Bahnhof Rolandseck wieder Musik gemacht wird.

Auf der Medienseite schreibt Dirk Schümer über die Vatikan-Berichterstattung des italienischen Fernsehens. Michael Hanfeld spekuliert über die Frage, ob und wann Springer Mehrheitsaktionär bei Pro 7 Sat 1 wird.

Auf der letzten Seite besucht Schlachtenhistoriker Andreas Kilb die Gedenkstätte auf den Seelower Höhen bei Berlin, wo der "Endkampf" um Berlin begann. Und Eberhard Rathgeb fragt, inwieweit Alfred Toepfer, der den jüngst von Ariane Mnouchkine abgelehnten Hansischen Goethe-Preis stiftete, ein Nazi war.

Außerdem wurden die Filme des Wettbewerbs in Cannes bekannt gegeben.

Besprochen werden Sidney Pollacks neuer Film "Die Dolmetscherin" mit Nicole Kidman und Sean Penn, eine Ausstellung über den Bibel- und Talmud-Kommentator Raschi in Worms, eine Ausstellung mit Gemälden aus Max Slevogts Berliner Jahren in Wuppertal, eine Ausstellung mit Werken des Plakatkünstlers Hans Hillmann in Offenbach und eine Ballett des wichtigen Jungen Choreografen Sidi Larbi Cherkaoui in Genf.

NZZ, 20.04.2005

Die Moskauer haben die Nase voll von der architektonischen Verschandelung ihrer Stadt, berichtet Marina Rumjanzewa. Etwa 400 historische Bauten sind in der letzten Zeit abgerissen worden, darunter Prachtstücke wie das das Hotel "Moskwa". (Hier eine Chronik der Verluste auf einer website von Abrissgegnern). Zum Ausgleich beglückt Bürgermeister Juri Luschkow die Moskauer mit einem Stil, der als "Luschkow-Empire" oder "Tortenstil" berühmt wurde. "Mit Letzterem sind üppige rosa-weiß-gelbliche Kreationen gemeint, überladen mit allerlei Schnörkeln. Sie wimmeln nur so von Säulen, Pylonen oder Pilastern, und jedes zweite Haus hat ein Türmchen. Von diesen wurde in letzten Jahren um die 250 auf Moskauer Dächer aufgepflanzt." Den Moskauern reicht es jetzt. "Wenigstens darüber, was sie nicht mehr haben wollen und was sie nicht schön finden, sind sie sich allmählich einig. Weniger klar sind die Vorstellungen dessen, was man will und was schön ist. Die westliche Architektur gilt dabei nicht unbedingt als Vorbild. Viele empfinden sie als 'trockene Geometrie'. Sie sind mit ihrer Formensprache nicht vertraut."

Weitere Artikel: Aldo Keel berichtet kurz über den Zorn der Munch-Erben, die dem Norwegischen Rundfunk verbieten wollen, in Zukunft den Namen des Malers zu nennen, den die Journalisten offenbar immer wieder falsch aussprechen: "Offenes 'u' oder 'o', das ist hier die Frage", behauptet Keel, ohne uns jedoch darüber aufzuklären, wie es nun richtig ist. Sabine Haupt stellt das neue Reformationsmuseum in Genf vor.

Besprochen werden die Ausstellung "Über Schönheit" in Berlin und Bücher, darunter Andreas Maiers Roman "Kirillow" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).


SZ, 20.04.2005

"Das Kapital wird darüber hinwegkommen, dass der Standort einmal so schlecht über die Unternehmer redet, wie Unternehmer über den Standort zu reden pflegen", springt Thomas Steinfeld dem Antikapitalisten Franz Müntefering bei: Selbstverständlich hat der Kapitalismus auch Gesichter, und selbstverständlich gibt es Spekulanten, die 'wie Heuschreckenschwärme' über Firmen herfallen und sie ausplündern. Warum soll man das nicht sagen dürfen? Weil man auf diese Weise, wie Edmund Stoiber meint, mögliche Investoren verschrecke, so als wären diese Investoren böse Überväter, die man auf gar keinen Fall verärgern dürfe? Wie feige ist doch diese Haltung, und was für ein Duckmäusertum spricht daraus!"

Jens Bisky kritisiert die Pläne des Berliner Kultursenators Thomas Flier zum Mauergedenken an die Mauer als "kleinteilig, verzagt, unentschlossen". Derselbe Autor meldet, dass Schleswig-Holstein künftig auf das Kultusministerium verzichtet. Nathan Shachar Cremona erinnert daran, welch unheiligen Einfluss das Opus Dei noch immer Lateinamerika hat. Auf der Medienseite setzt uns das bewährte Team Klaus Ott, Hans-Jürgen Jakobs und Ulf Brychcy über die neuen Strategien des Springer-Chefs Mathias Döpfner in Kenntnis.

Rainer Rother, Leiter der Kinemathek des Deutschen Historischen Museums, beschreibt in der Reihe zum Ende des Zweiten Weltkriegs, wie unterschiedlich dieser Moment bereits in den ersten Spielfilmen dargestellt wurde. Robert Probst liest die letzten Flugblätter.

Besprochen werden Sydney Pollacks Thriller "Die Dolmetscherin" (dessen Konstruktion für Susan Vahabzadeh auf arg tönernen Füßen steht), Volker Löschs Inszenierung von Gogols "Revisor" als wilder Polit-Sause ("Einige Zuschauer fühlten sich merklich angepisst", bemerkt Christine Dössel), Philip Himmelmanns Inszenierung des "Rosenkavalier" in Nancy, ein Konzert von Christian Tetzlaff und Leif Ove Andsnes in München Und Bücher, darunter Julia Spinolas "Die großen Dirigenten" und Philipp Luidls Buch über die Schrift Fraktur "Die Schwabacher" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).