Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.03.2005. Die SZ streift die Fesseln des Ökonomismus ab und erklärt das Ziel der Vollbeschäftigung zur Ideologie. In der NZZ annonciert Sonja Margolina einen neuen Historikerstreit. In der taz macht uns Gabriele Goettle mit einer Montessori-Lehrerin bekannt, die sehr dezidierte Ansichten über die Grenzen der Toleranz vertritt. In der Welt erklärt die Sängerin von Judith Holofornes von Wir sind Helden, warum sie mit größten Stolz nicht ironisch ist.

TAZ, 29.03.2005

Gabriele Goettle hat für ihre Reportage diesmal mit der Lehrerin Ulrike Kegler gesprochen. Sie ist Leiterin der Montessori-Gesamtschule in Potsdam und hat dezidierte Ansichten, was das Verhältnis von Freiheit und Struktur an ihrer Schule angeht. "Also, wir legen sehr großen Wert darauf, dass bestimmte Tendenzen, die an vielen anderen Schulen große Probleme verursachen, besonders Gewalt, bei uns sofort ausgegrenzt werden. Und sie haben es ja vorhin auch sehen können, wir haben zum Beispiel keine Schüler, die gepierct sind oder tätowiert. Unsere Kinder gehen aufrecht, weil sie sich frei fühlen, und wir haben fast keine adipösen Kinder, weil sie sich auch viel mehr bewegen. Also, unsere Kinder sehen auch anders aus als an den Gesamtschulen üblicherweise. Das Äußerste ist: Wir haben drei bis vier Schüler, die einen Ohrring tragen. Manchmal kommen ja hier Studenten und auch Lehrer her ? tock, tock, tock ? die sind vernietet und beringt hier und hier und hier. Eine kam mal von der Uni, voller Ringe, sie wollte hier ein Praktikum machen. Ich sagte ganz rigoros: Es tut mir Leid, ich muss das ablehnen, ich möchte meine Kinder an dieser Schule nicht mit ihrem Problem konfrontieren. Sie nannte mich intolerant, aber auf diesen verwaschenen Toleranzbegriff wird in solchen Momenten ja immer zurückgegriffen, auf dieses Alles-ist-möglich."

Weiteres: In seinen Briefen aus Bangladesch erzählt Jochen Neumeyer von einem Ausflug auf die Insel Saint Martin. Helmut Höge musste beim Angucken des Unterwasserfilms "Sharks 3D" "in paarmal den Kopf einziehen, um einer Makrele auszuweichen".

Schließlich Tom.

SZ, 29.03.2005

"Die Ideologie der Vollbeschäftigung ist zu einer Fessel geworden", schreibt der immerhin festangestellte Redakteur Jens Bisky im Aufmacher: "In der Fixierung auf die Trugbilder von Wachstum und Vollbeschäftigung werden andere Felder staatlichen Handelns vernachlässigt oder der Logik eines Einzelunternehmens unterworfen. Das hat abenteuerliche Folgen. Allen Beschwörungen zum Trotz verarmen und verkommen die Bildungsanstalten des Landes weiter, dabei wäre hier mit klaren Programmen, mit dem Mut, Prioritäten zu setzen, rasch etwas zu ändern. Aber der wachstumsfixierte Staat wirft sich mit ungeheurer Energie auf jenes Gebiet, auf dem Erfolge in hohem Maße ungewiss sind, und wurstelt dort, wo seine eigentlichen Aufgaben liegen, einfallslos weiter."

Weiteres: Leider nur in einem kurzen Text berichtet Siggi Weidermann von dem andauernd heftigen Schlagabtausch um die Ermordung Theo van Goghs. So hat der Schriftsteller Geert Mak offenbar den Kurzfilm der nun ebenfalls mit dem Tod bedrohten Politikerin Ayaan Hirsi Ali mit Propagandafilmen von Goebbels verglichen. Wolfgang Schreiber verehrt den Dirigenten und Komponisten Pierre Boulez, der seinen achtzigsten Geburtstag mit Daniel Barenboim und einer Konzertreihe in Berlin beging. Evelyn Roll hat in der Zwischenzeit "rohe Ostern" mit "schamlosen" Bildern von Terri Schiavo und dem Papst verbracht. Christian Jostmann befürchtet, dass die Beschlüsse von Bologna, also die Einführung von Bachelor- und Master-Studien vor allem kleine Fächer und Hilfswissenschaften bedroht. Fritz Göttler unterhält sich mit dem Krimiautor Elmor Leonard über die Verfilmung seiner Vorlagen zu "Get Shorty" und dem Sequel "Be Cool".

Auf der Medienseite feiert Willi Winkler den New Yorker für achtzig Jahre "unverantwortlich heiteres Drüberstehen" und seine "elegante Distanz zu Gelderwerb und auch sonst allen irdischen Sorgen".

Besprochen werden die Ausstellung surrealistischer Fotografie in der Hamburger Kunsthalle ("Ob aufgereihte Schweinsfüße auf dem Schlachthof bei Eli Lotar oder der dreckige Abwasch als Nature morte bei Roger Parry, nichts scheint sicher vor dem sicheren Blick für Gevatter Tod und Brüderchen Trieb" schreibt Jörg Heiser beglückt), die Schau "What's new pussycat", für die das Frankfurter Museum für Moderne Kunst seine Sammlung neu geordnet hat (und die Dirk Peitz für einen ziemlich gelungenen Spaß hält), die Berliner Schau "Hieroglyphen um Nofretete", Christina Paulhofers Inszenierung von Christopher Hamptons Psychoanalyse-Drama "Die Methode", Calixto Bieitos Aufführung von "Cavalleria Rusticana" und "Bajazzo" in Hannover und Bücher, darunter Gernot Wolframs Debüt "Samuels Reise" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr)

NZZ, 29.03.2005

Kontroversen ziehen auf, und sie haben wieder einmal mit der Zeit des Zweiten Weltkriegs zu tun, an die in den unterschiedlichen europäischen Ländern äußerst divergierende Erinnerungen zirkulieren, schreibt Sonja Margolina ("Wodka"). Sie beschreibt die Rehabilitierungen baltischer SS-Soldaten im Namen einer nationalen Erinnerung, die vor allem von Stalin traumatisiert ist, aber auch die Lücken des russischen Geschichtsbildes: "Obwohl die These von der spiegelbildlichen Ähnlichkeit beider totalitären Regime während der Perestroika gerade in der Sowjetunion in Umlauf gebracht worden war, wurde der 'Große Vaterländische Krieg' davon ausgenommen. Der Mythos vom Sieg über Nazideutschland ist heute - nach der Niederlage im Kalten Krieg - die einzig verbliebene Identifikationsfigur der russischen Nation. Er bietet Kompensation in einer Situation, in der die Früchte der Freiheit auf sich warten lassen."

Sehr kritisch setzt sich der China-Korrespondent der NZZ Urs Schoettli in einem längern Essay mit der neuen Führung der KP Chinas unter Hu Jintao auseinander: "Die Behörden greifen derzeit wieder schärfer durch gegen alles und alle, die sie als Gefährdung der bestehenden Ordnung ansehen. Hu Jintao hat in unzweideutigen Worten verlauten lassen, dass die westliche Demokratie für China nichts sei und dass sich an der absoluten Macht der Kommunistischen Partei und ihrer Nomenklatur nichts ändern werde. Man gibt sich populistischer, doch hinter den Bildern, die die Führenden gar beim Händedruck mit Aids-Kranken oder bei rührseligen Begegnungen mit den Hinterbliebenen der Opfer von Bergwerkunglücken zeigen, verbirgt sich ein kompromissloser Machtanspruch."

Besprochen werden zwei veristische Opern in Hannover, Strawinsky-Ballette in Bern und Basel, eine Ausstellung des Architekten Patrick Berger in Paris und einige Bücher, darunter Marie N'Diayes Roman "Rosie Carpe" und eine Abhandlung Modernität und Nostalgie in der Schweizer Baukultur.

Welt, 29.03.2005

Michael Pilz hat sich mit Sängerin Judith Holofernes über das "großartige zweite Album" ihrer Band Wir sind Helden unterhalten. "Fiel die erste Platte durch Parolen auf, widmet sich Judith Holofernes heute den Gefühlen. Zeilen der 'Reklamation' finden sich längst im deutschen Sprachschatz wieder. 'Ich will mein Leben zurück' oder 'Müssen nur wollen'. Hinter solchen Zeilen lauerte ein deutliches, durchdachtes Unbehagen an der Welt. Kritik wurde geäußert an Konsum, Karriere und sozialer Kälte. Die Musik dagegen wirkte derart fröhlich, daß man Wir sind Helden für ironisch hielt. Das weist die Sängerin weit von sich: 'Ironie bedeutet Distanzierung. Und das tue ich mit größtem Stolz nicht.'"
Stichwörter: Holofernes, Judith, Musik

FR, 29.03.2005

"Sorgfältig, nachdenklich, schrille Effekte meidend", kurz: durchaus gelungen findet Hans-Klaus Jungheinrich Christian Pades Inszenierung von Mussorgskijs musikalischem Volksdrama "Chowanschtschina" an der Oper Frankfurt. Effekt genug bietet wohl schon die Handlung, die von Machtkämpfen zwischen Adel und religiösen Gruppierungen erzählt und mit der gemeinschaftlicher Selbstverbrennung der sektiererhaft-fundamentalistischen "Altgläubigen" endet: "Ohne funebren Pomp die Schlussszene mit wie Flammen(seelen) an einem Gerüst nach oben schwebenden gelben Altgläubigen-Obergewändern." Lob auch für Bühnenbildner, Sänger und den Dirigenten Kirill Petrenko.

Weiteres: Klaus Walter hat sich mit Josh Homme von der kalifornischen Band Queens of the Stone Age unterhalten und dabei erfahren, woher dessen Liebe zur Marschmusik kommt: "Der Groove ist extrem wichtig. Für mich kommt er von ganz früher, Bluegrass, Polka, Marschmusik. Alle haben unterschiedliche Herzfrequenzen. Vor allem Marschmusik. Die hat ein fast wagnerianisches musikalisches Drama. Ich glaube, ich bin der einzige Marsch-Mann." Besprochen werden eine Hesses "Steppenwolf" am Burgtheater, ein Buch über "Jenseitsmythen der Menschheit" und ein Merve-Bändchen mit dem Titel "Das Irrsal hilft" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 29.03.2005

Im Aufmacher wirft Andreas Platthaus einen kritischen Blick auf die Ausstellung zur Kolonialgeschichte Kongos im Königlichen Museum zu Zentralafrika im belgischen Tervuren, die sich noch nicht ausreichend von kolonialistischen Klischees gelöst habe. Dirk Schümer umreißt die Atmosphäre der "Ruhe vor dem Sturm" und des "nicht enden wollenden Abwartens vor dem Tod eines siechen Potentaten wie seinerzeit bei Tito, Breschnew, Franco" im Vatikan. Eleonore Büning schildert Pierre Boulez' Geburtstagsglück bei den Festkonzerten mit der Berlinern Staatskapelle. Felicitas von Lovenberg präsentiert Erzählungen Yann Martels, die ab heute als Feuilletonroman in der FAZ abgedruckt werden. Martin Halter hat sich einen wiederaufgefundenen Stummfilm von Kurt Goetz über Friedrich Schiller angesehen.

Auf der Medienseite werden deutschsprachige Tageszeitungen aus aller Welt (zum Beispiel die New Yorker Staats-Zeitung oder das Argentinische Tageblatt) vorgestellt.

Auf der letzten Seite erinnert Dietmar Dath an den Quantenmechaniker J. S. Bell, der sich auch über erkenntnistheoretische Fragen den Kopf zerbrach. Patrick Bahners kritisiert missmutige Äußerungen der Evangelischen Kirche in Berlin zur Anerkennung der Zeugen Jehovas als einer Körperschaft öffentlichen Rechts durch ein Berliner Gericht. Und Anita Boomgaarden präsentiert uns "Tux", den Open-Source-Pinguin der Linux-Gemeinde.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Druckgrafik Max Beckmanns in der Kunsthalle Karlsruhe, Mussorgskys "Chowanschtschina" in Frankfurt, ein Diaghilew-Abend des Wiener Staatsopernballetts, Christoph Hamptons Stück "Die Methode", inszeniert von Christina Paulhofer in Zürich und Bill Condons "Kinsey"-Film.