Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.01.2005. In der Welt polemisiert die Dramaturgin Beate Heine von der Berliner Schaubühne gegen die gesammelte deutsche Theaterkritik. Die NZZ flaniert durch die Plattenbausiedlungen der schrumpfenden Musterstadt Halle. In der FR beschreibt Natan Sznaider den Nahen Osten als Paradies der Zyniker. Die FAZ berichtet über eine Reideologisierung der KP in China. Die SZ entlarvt ominöse Mitarbeiter beim geplanten Zentrum gegen Vertreibungen.

Welt, 17.01.2005

Beate Heine, Dramaturgin an der Berliner Schaubühne, polemisiert gegen "die Übellaunigkeit der deutschen Theaterkritik":

"Kunst soll das Verschwinden sichtbar machen. Sicher. Aber das kann sie nicht, indem sie Altbewährtes reproduziert oder die romantischen Erwartungen mancher Kritiker von Liebe und Leid in früheren Zeiten erfüllt. In dieser Rückschau spiegelt sich die Furcht eines zerzausten Bürgertums wider, das verzweifelt sein Selbstverständnis sucht, Angst vor Verlust und sozialer Deklassierung hat. Auch Kritiker erfahren erstmals die harte Wirklichkeit am eigenen Leib, indem sie um ihre Legitimation kämpfen müssen, die Reisebudgets reduziert werden und ihnen immer weniger Platz eingeräumt wird. Das führt dazu, dass sie nur über bekannte Namen schreiben, Unbekanntes unbekannt bleibt, der Horizont des Kritikers unwillkürlich kleiner wird. Er beklagt die Mechanismen des Marktes und bedient sie zugleich. Und weil der Kritiker trotz seiner Not wahrgenommen werden will, vor allem von seinen Kollegen, führt sein Profilierungsdrang nicht selten in plakative Aburteilung."
Stichwörter: Theaterkritik, Bürgertum

NZZ, 17.01.2005

Joachim Güntner führt uns auf einer ganzen Seite durch die Plattenbausiedlungen von Halle, das sich als schrumpfende Musterstadt um den Titel einer Kulturhauptstadt bewirbt: "Über zwanzig Wohnblöcke des vorherrschenden elfgeschossigen Typs sind in der noch jungen, großen und dicht bevölkerten Plattenbausiedlung bereits abgerissen worden. Mehr als die Hälfte der Anwohner ist abgewandert, und wenn die Stadtplaner ihre Konzepte nicht wieder korrigieren, nämlich die Zahl der Abrisse erneut heraufsetzen müssen, so wird die Trabantenstadt im Süden Halles im Jahre 2010 von ihren einst 15 000 Wohneinheiten ganze 7000 verloren haben. Auf den frei gewordenen Flächen hält der Wald Einzug. Bewachsenes Terrain ist pflegeleichter als Rasen."

Und in einem Interview über die "graue Diva" sagt der Schauspieler Peter Sodann: Wir hatten in der DDR den Wahlspruch 'Trümmer schaffen ohne Waffen'. Diese Stadt, die vom Zweiten Weltkrieg kaum zerstört wurde, hat sich selbst verfallen lassen. Weil aber verfallene Häuser, anders als zerbombte, gerettet werden können, hat Halle die Chance, eine der schönsten Städte Deutschland zu werden."

Kurt Malisch schreibt zum Tod der lyrischen Sopranistin Victoria de los Angeles. Beatrice Eichmann-Leutenegger weist darauf hin, dass der Schweizer Schriftsteller Otto Marchi seit der Flut vermisst wird. Besprochen werden Eric Lacascades Inszenierung von Henrik Ibsens "Hedda Gabler" in den Ateliers Berthier des Odeon-Theatre de l'Europe (die Marc Zitzmann Glanz und Elend des französischen Theaters beispielhaft vorgeführt hat) und ein Abend der Merce Cunningham Dance Company in Mülhausen, eine umjubelte Aufführung von Benjamin Brittens "Billy Budd" im Münchner Nationaltheater und eine Inszenierung Verdis "Rigoletto" im Luzerner Theater.

FR, 17.01.2005

Der israelische Soziologe Natan Sznaider fürchtet, dass Bombe um Bombe in seiner Region alles beim alten bleibe. "Der Nahe Osten ist zum Paradies der Zyniker geworden. Pessimismus gehört zum guten Ton und ist risikolos. Die Skeptiker haben gute Karten, recht zu behalten. Und diejenigen, die nach jeder Wende nun endgültig den Frieden anbrechen sehen, werden mitleidig angelächelt, wie man kleine Kinder belächelt. Die Politik vollzieht sich hier oft im Rausch der richtigen Gesinnung. Das ist einer der Gründe, warum sie auf Außenseiter eine solche Faszination ausübt."

Weiteres: Armin Petras zeigt sein unter dem Pseudonym Fritz Kater verfasstes Stück "3 von 5 Millionen" an den Kammerspielen des Deutschen Theaters in Berlin. Nikolaus Merck möchte aber trotz aller Sympathie für Petras dem "Roadmovie am Müggelsee" keinen Oscar verleihen. Denn auf einen hübschen Beginn folgt "ein 90-minütiger Sinkflug, eine Bruchlandung in Zeitlupe". Thomas Fechner-Smarsly schlägt nach einem Blick auf das neue Flugsicherheitsgesetz in Times mager vor, die Passagiere doch gleich eine Verzichtserklärung auf jegliche Grundrechte unterschreiben zu lassen.

Ansonsten wird viel besprochen, und zwar Benjamin Brittens Männer-Oper "Billy Budd" in "dezidierter Peter-Mussbach-Optik" an der Münchner Staatsoper und verschiedene lokale Ereignisse.

TAZ, 17.01.2005

Andreas Klaeui hat Eric Lacascades "hyperästhetischer" Inszenierung von Henrik Ibsens "Hedda Gabler" am Odeon-Theater in Paris beiwohnen dürfen, und ist aber nur von einer hingerissen: Isabelle Huppert. "Da muss man dann schon von einer Huppert-Ästhetik sprechen: dieser eigentümlichen Dialektik von Zerbrechlichkeit und Rigidität, von intensiver emotionaler Bewegung und gleichzeitig einer kühlen Distanz zum Gefühl und zu sich selbst, mit der Isabelle Huppert Momente größter Direktheit schafft."

Weiteres: Der Gesetzentwurf zum Verbot von Vaterschafstests irritiert, weil er an die dunklen Zeiten des Geschlechterkampfs erinnert, meint Dirk Knipphals. Anne Hufschmid kündigt einen Krimi an, den der mexikanische Schriftsteller Paco Ignacio Taibo II zusammen mit dem "literarisch ambitionierten Guerillastrategen" aus der Region Chiapas, Subcomandante Marcos (mehr), geschrieben haben soll.

Für das Tagesthema steht Sebastian Moll früh auf, um die Arbeiten zum Christo-Projekt The Gates im Central Park zu besichtigen. In der zweiten taz drängt Susanne Lang zu eine Revolution des Mutterbilds, das immer noch auf die Frau als Familienverantwortliche ausgerichtet ist. Mathias Urbach empfiehlt Feuerlöscher. Im Fall Rudolph Moshammer bleiben für Jan Feddersen noch ein paar Fragen offen. Niklaus Hablützel informiert über die digitalen Fingerabdrücke des Napster-Gründers Shawn Fanning.

Besprochen werden Armin Petras' selbst verfasstes und am Deutschen Theater in Berlin ebenso selbst aufgeführtes Stück "3 von 5 Millionen" (Die Inszenierung zerfällt in einen "grandiosen ersten Teil" und einen "unentschieden zweiten", meint Katrin Bettina Müller) sowie Henning Ritters Lesung aus seinem Buch "Nahes und fernes Unglück. Versuch über das Mitleid".

Endlich Tom.

FAZ, 17.01.2005

Zhou Derong konstatiert in einem seiner stets informativen Berichte aus der Volksrepublik China eine Reideologisierung der Partei, die sich in vergessen geglaubten Formen manifestiert: "Zunächst wird in jeder Stadt ein 'Bildungsbüro zur Wahrung der Kommunistischen Avantgarde' gebildet. Dann sollen von der Zentrale zusammengestellte Parteidokumente studiert werden. Anschließend sammelt die zuständige Parteiorganisation Kritiken aus der Basis und gibt diese an die betroffenen Funktionäre weiter. Danach trifft man sich zur 'demokratischen Diskussionsrunde', und der Funktionär übt öffentlich Selbstkritik. Wird diese akzeptiert, hat er seine Zugehörigkeit zur kommunistischen Avantgarde bewiesen. Ärger bekommt der, dessen Selbstkritik abgelehnt wird. Ihm droht nicht nur ein Ausschlussverfahren, sondern in schweren Fällen auch eine Strafverfolgung. Diese Prozedur muss jedes Mitglied in den nächsten achtzehn Monaten über sich ergehen lassen."

Weitere Artikel: Im Aufmacher berichtet Heinrich Wefing über die Eröffnung der neuen Kopenhagener Oper, bekanntlich eine Schenkung des dänischen Milliardärs Märsk Mc-Kinney Möller. Günter Paul erzählt uns "was der Saturnmond uns erzählt". Jürgen Kesting schreibt zum Tod der Callas-Antagonistin Victoria de los Angeles. Dirk Schümer fürchtet in der Leitglosse, dass der Landschaftsschutz für eine in einem berühmten Gedicht Giacomo Leopardis besungene Landschaft in den Marken gelockert werden könnte. Berhard Bueb, Direktor der vornehmen Privatschule Schloss Salem, fordert wieder mehr Autorität und Eros, ferner angemessene Kleidung und Abschaffung des Beamtenstatus für den heutigen Lehrer. Gerhard Stadelmaier kommentiert in einer seiner getarnten Kurzmeldungen einige Äußerungen deutscher Dramaturgen bei der Jahrestagung ihrer Gesellschaft. Kerstin Holm besucht das Kunstmuseum der sibirischen Provinz Krasnojark. Dietmar Dath beschuldigt die Grünen sowie die Poststrukturalisten in einem Denkstück auf der Sachbuchseite, hinter die Erkenntnisse der marxistischen Lehre zurückgefallen zu sein.

Auf der letzten Seite entwirft Doris Achelwilm eine historische Soziologie des "Groupies". Andreas Platthaus bedauert, dass eine Pressekonferenz zu akademischen Fälschungen des Frankfurter Paläoanthropologe Reiner Protsch von Zieten wegen eines Gerichtsbeschlusses nicht abgehalten werden durfte. Und Andreas Rosenfelder war dabei, als der Nestor der Computerkritik, Joseph Weizenbaum, im Kölner Literaturhaus eine Geschichte des 20. Jahrhunderts anhand von Filmausschnitten erzählte.

Besprochen werden Benjamin Brittens Oper "Billy Budd" unter Kent Nagano und Peter Mussbach in München, die Stücke "Moskauer Eis" von Annett Gröschener und "3 von 5 Millionen" von Fritz Kater in Berlin und Lutz Dammbecks Dokumentarfilm "Das Netz" über den Una-Bomber Theodore John Kaczynski.

SZ, 17.01.2005

Der Historiker Ingo Haar weist auf eine "skandalöse Quelle" im geplanten Zentrum gegen Vertreibung hin. Die von der ersten Bundesregierung in Auftrag gegebene "Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa" baut auf Interviews auf, die der Kollege Friedrich Valjavec unter offensichtlich recht dubiosen Kriterien angefertigt hat." Auf Initiative der Vertriebenenverbände durften einige ehemalige NS-Führer, die in keine Verbindung mehr mit ihrer Vergangenheit gebracht werden wollten, die Zeugenberichte ihrer früheren Untergebenen aus der NS-Volksgruppe durchlesen und, falls ihre Namen vorkamen, Streichung veranlassen. Auch andere Fakten, die auf eine Kontinuität der Eliten hinwiesen, tilgte die Redaktion. Darüber hinaus rechnete die Redaktionsgruppe die unter Hitler bereits 1939/40 freiwillig umgesiedelten Deutschen den Vertreibungsopfern zu. Der Hinweis auf den Holocaust fehlt."

Die Unesco hat eine Kultur-Konvention vorgelegt, die weltweit festlegen soll, was Kultur ist und demnach vom Freihandel ausgenommen, also subventioniert werden darf. Heute berät eine hundertköpfige Expertendelegation in Berlin über das Dokument, Sonja Zekri weist im Aufmacher des Feuilletons auf das Diffizile einer Kulturdefinition hin. "Es zeigt sich, dass die Neigung zur Ausweitung des Kulturbegriffes, der von der Damenhandtasche bis zum Requiem alle Spuren menschlichen Gestaltungswillens als potenziell kunstträchtig einstuft, den Blick auf die Kernprobleme eher verstellt. Wer das Porsche-Design ernsthaft in den Rang eines nationalen Kulturgutes erheben will, würde es möglicherweise in den Genuss staatlicher Förderung kommen lassen und müsste sich dann aber seine Argumente gegenüber japanischen Autobauern gut überlegen."

Weiteres: Reinhard J. Brembeck bespricht die Aufführung von Benjamin Brittens Oper "Billy Budd" unter Dirigent Kent Nagano und Regisseur Peter Mussbach am Münchner Nationaltheater recht zurückhaltend. "Die Verallgemeinerung nimmt dem Geschehen viel von seiner verstörenden Wucht. Denn Billy Budds Erscheinen soll als Riss in der Weltgeschichte empfunden werden. Doch Nathan Gunns Budd wird dem weder von der Erscheinung noch von der Stimme her gerecht: Er ist nett, aber eben kein (Erlösungs-) Engel. Am schönsten ist sein ausgiebig zur Schau gestellter nackter Oberkörper."

Weitere Artikel: Andrian Kreye berichtet auf der Medienseite von Journalistenbestechung und Propagandapaketen der amerikanischen Regierung. Fritz Göttler meldet sich von der Verleihung der Bayerischen Filmpreise, wo "Der Untergang" die Dramaturgie des Abends blockierte (Ergebnisse hier). Göttler unterhält sich auch angeregt mit dem alten Freund, frischgebackenen französischen Ehrenlegionär und Filmregisseur Martin Scorsese über den neuen "Aviator" und die alte Liebe zum europäischen Film. "Natürlich, ich versuche immer noch, so viele europäische Filme wie möglich zu sehen." Jens Malte Fischer schreibt zum Tod der großen Sopranistin Victoria de los Angeles.

Besprochen werden die Uraufführung von Fritz Katers (alias Armin Petras) Stück "3 von 5 Millionen" am Deutschen Theater Berlin, Jon Fosses "Lila" als deutschsprachige Erstaufführung unter der Leitung von Jens Zimmermann am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg, ein Abend mit den Münchner Philharmonikern unter der Leitung von Ingo Metzmacher, und Bücher, darunter Michael Scheuers kritische Einschätzung des Kriegs gegen den Terror "Imperial Hubris", die kritische Ausgabe des dritten Bands des von Friedrich Engel und Karl Marx verfassten "Kapital" sowie französische Neuerscheinungen über Jean Genet (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Tagesspiegel, 17.01.2005

Nicola Kuhn reibt sich angesichts des neuen Gründungsboom in der deutschen Museumslandschaft verwundert die Augen. "Wie können sich die Kommunen noch solch edle Hüllen leisten? Sie vermögen es kaum, wie sich bei genauerer Betrachtung erweist. Beim Ando-Bau und dem Burda-Museum handelt es sich um private Stiftungen, in Berlin, Leipzig, Stuttgart stammen die Planungen aus früheren Jahren, als noch niemand recht an das Ausmaß der Mittelknappheit glauben wollte. So bringt die aktuelle Gründungseuphorie auch keine neuen Prunkbauten hervor wie einst in den fetten Achtzigerjahren. Die Vorzeigeobjekte von einst, etwa in Stuttgart und Mönchengladbach, wirken heute wie abgewrackt; den architektonischen Aufschneidereien der Postmoderne ist längst die Puste ausgegangen ist. Auch die Erlebnisarchitektur der Neunziger a la Libeskind wie beim Jüdischen Museum in Berlin oder dem Guggenheim-Museum in Bilbao, wo die Kunst an zweiter Stelle rangiert, ist offenbar passe. Die neuen Häuser geben sich quadratisch-praktisch, schlicht in der Kubatur, ohne größere Extravaganzen.