Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.05.2003. In der SZ erstellt Ivan Nagel anlässlich der "Agenda 2010" ein "Falschwörterbuch der Sozialreformen". In der FAZ begründet Emmanuel Todd, warum er einst gegen Europa war und heute gegen Amerika ist. Die NZZ sieht Harald Szeemann auf dem Weg vom Tiefseetaucher zum Hochseefischer. Die taz erinnert daran, dass es eigentlich schon in den Achtzigern keine Arbeit gab. Nicht in der FR setzt sich Wolfram Schütte mit der Cannes-Berichterstattung seiner jüngeren Filmkritikerkollegen auseinander.

SZ, 30.05.2003

Empört über die "Grobheit und Wut", mit denen der rotgrünen Regierung die "schroffsten Einschnitte" in das soziale Gefüge der Bundesrepublik "abgepresst" wurden, erstellt Ivan Nagel (mehr hier) ein kleines "Falschwörterbuch der Sozialreformen": Dieses "muss mit dem Wort 'Sozialreform' beginnen. Man stelle sich einen (SPD-)Wirtschaftsminister vor, der zwischen Schmerz und Stolz verkündet, er habe wegen Sparzwängen das Gehalt seiner Sekretärin 'reformiert'. Die Wirtschaft dürfte die feinsinnige Formulierung begrüßen. Wir aber dürfen unser Wörterbuch befragen: Wieso heißen die Industrie- und Handelsverbände in Mediendeutsch stets 'die Wirtschaft', und deren gesammelte Interessen: 'der Markt'? 'Die Wirtschaft schlägt vor', 'der Markt weigert sich' - und wir schlucken es Tag für Tag...

Kirchen, Schlösser und Paläste sind in Petersburg tipptopp renoviert, nur ein Gebäude wurde offensichtlich vergessen, wie der russische Journalist und Schriftsteller Ilja Stogof bemerkt: die Petersburger Bastille, das Kresty-Gefängnis: "Die ersten Gefangenen wurden 1876 ins 'Kresty' gebracht, und seitdem hat sich nichts verändert. Die einzige Neuerung in den fünfziger Jahren war eine Reparatur in den Toilettenräumen. Das Geld dafür hatte ein Mitarbeiter des sowjetischen Raumfahrtprogrammes, Sergej Koroljow, aufgebracht. Seinerzeit hatte Koroljow aus politischen Gründen gesessen und unter dem Geruch der Exkremente gelitten. Als er später den Stalinpreis bekommen hatte, überwies er ohne zu zögern die Kohle für diese vornehme Sache."

Weitere Artikel: Offenbar ganz ohne Anlass schreibt der schwedische Autor Richard Swartz ("Ein Haus in Istrien") eine hübsche Hommage auf Italo Svevo (mehr hier und auf Italienisch hier), der uns mit der "Krankheit unserer Epoche" bekannt gemacht hat: "der Unfähigkeit zu lieben". Swartz beginnt mit dem alles in allem überzeugenden Satz: "Das Leben ist, bei Licht besehen, natürlich ein Skandal, vor allem wenn man bedenkt, wie es endet."

Francesco Bonami, Direktor der 50. Kunstbiennale von Venedig, erklärt im Gespräch mit Holger Liebs sein Konzept von der "Diktatur des Betrachters": "Ich will den einzelnen Kunstbetrachter wieder ins Recht setzen. Vor dem Kunstwerk ist man immer allein. Wir wollen dem Betrachter Zugangsschlüssel zur Kunst an die Hand geben. Das fängt schon bei der Videokunst an. Ich möchte nur Videos zeigen, die zum einen kurz und zum anderen sofort verständlich sind."

Cornelia Bolesch richtet unser Augenmerk auf den EU-Konvent, der zum "Totengräber der europäischen Kultur" werden könnte. Durch seine Verfassungsvorschläge nämlich drohe die Kulturpolitik unter die Räder des internationalen Handelsrecht zu geraten. Reinhard Schulz beklagt den Tod des italienischen Komponisten Luciano Berio, der der "Avantgarde geräuschvoll Schnippchen" geschlagen hat. Joachim Kaiser verabschiedet sich vom "zärtlichen Literatur-Freund" Francois Bondy. Fritz Göttler meldet, dass das Poesiealbum der Antoinette Faure, in dem Marcel Proust den legendären Fragebogen ausgefüllt hat, für 120.000 Euro versteigert worden ist.

Besprochen werden Dieter Dorns Inszenierung von Jean Genets "Die Wände" am Bayerischen Staatsschauspiel, die Ausstellung "1803" in Regensburg, das Konzert von Metallica in Berlin und Bücher, darunter Ulrich Barths Studie "Religion in der Moderne" und Jakob Arjounis Märchen "Idioten" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 30.05.2003

Ansgar Werner, seit zwanzig Jahren mehr oder weniger erfolgreiche Ich-AG, warnt in der Serie über "die Zukunft der Arbeit" davor, sich unnötig zu verschleißen: "Die Arbeitsgesellschaft war schließlich bereits in den Achtzigerjahren komplett zerrüttet. Dass damals Jugendliche überhaupt noch Berufswünsche geäußert haben sollen, kann man getrost unter der Rubrik biografische Legenden verbuchen. Meine weisere Oma zum Beispiel fragte mich immer nur: 'Hast du dir schon überlegt, ob du später mal rauchen willst!?'"

Wie immer am Freitag gibt es in der taz heute Musik: Jonathan Fischer erzählt, wie Dancehall aus Jamaika mit den Riddims von Sean Paul (mehr hier oder hier) vom machistischen Backgroundtrash zum "Konsenssound für diesen Sommer" geworden ist. Thomas Winkler versichert, dass der deutsche Offbeat von Seeed oder Mellow Mark wirklich tanzbar sei, auch wenn es an den Texten noch ein wenig hapert ("Geh uns bloß nicht auf den Sack, weil du zu feige bist zu tanzen/ Zieh die teure Jacke aus, du Körperklaus"). Und Stefan Müller wartet nach dem Erflog von Panjabi MC noch auf den großen Durchbruch des indischen Banghra.

Auf der Medienseite berichtet Sven Hansen, dass das indonesische Militär bei seinem Krieg in Aceh nun auch auf die Strategie "eingebetteten Korrespondenten" setzt.

Besprochen wird Phillip Noyce Aborigine-Roadmovie "Long Walk Home".

Und schließlich Tom.

FR, 30.05.2003

Wie verweisen hier auf ein Stück des ehemaligen FR-Kritikers Wolfram Schütte im Titelmagazin. Schütte setzt sich hier mit der Cannes-Berichterstattung seiner jüngeren Kollegen auseinander - und ist nicht begeistert: "Für die individuelle Qualität und Eloquenz der derzeitigen Generation der schreibenden deutschen Filmkritik in FAZ, FR oder SZ (um die es hier geht) habe ich den denkbar höchsten Respekt. Nur denke ich: sie ist eher selbstreferentiell als selbstreflexiv; sie analysiert zwar das ihr vorgesetzte Angebot auf das Feinste, unterlässt es aber, über den Tellerrand hinaus zu blicken; sie ist eher autoritätsfixiert (wenn auch durchaus innerhalb ihres Horizontes kritisch) als antiautoritär..." Waren die deutschen Journalisten denn mal antiautoritär?

Und in der eigentlichen FR kommentiert Christian Schlüter die Freilassung Metin Kaplans, des selbsternannten Kalifen von Köln. Er fürchtet, dass sich Deutschland mit einer Auslieferung die völkerrechtswidrige türkische Verfassung zu eigen mache. Karl Grobe erinnert sich an seine weißen Nächte in Petersburg. Überwältigt von Jean Genets "Die Wände" Münchner Residenztheater ruft Peter Michalzik aus: "Was für ein Stück! Es muss über die Ufer jedes Theaters treten, zu lang, zu wild, zu groß - abgründig, abweisend, überbordend - zu stachlig, zu schrecklich, zu schön." Bernhard Uske schreibt einen Nachruf auf den Komponisten Luciano Berio. Rudolf Walther verabschiedet den Publizisten Francois Bondy. Und in der Kolumne Times mager erklärt Ina Hartwig, was Proust so prousty machte, nämlich seine charmante Mischung "aus absurder Überbildung und entwaffnender Kindlichkeit".

Besprochen werden Phillip Noyce's Film "Long Walk Home", Werner Schroeters "Norma"-Inszenierung an der Düsseldorfer Oper und Politische Bücher, darunter neue Schriften zu den Menschenrechten von Etienne Balibar und Michael Ignatieff, Malcolm Sylvers' Anatomie einer Weltmaht "Die USA" , Tom Segevs post-zionistisches Manifest "Elvis in Jerusalem" sowie Reinhard Blomerts Abschied von der New Economy "Die Habgierigen" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

NZZ, 30.05.2003

Der Ausstellung "Blut & Honig" der Sammlung Essl in Klosterneuburg bei Wien widmet Samuel Herzog einen Bericht und verbindet folgende Überlegung mit dem großen Ausstellungsmacher Harald Szeemann: "Früher senkte sich Harald Szeemann wie ein Tiefseetaucher vertikal in den Gefühlsozean seiner Zeitgenossen ab: Innerhalb der sogenannt westlichen Kunst, deren Kanon er seit den sechziger Jahren wesentlich mitprägte, suchte er nach 'privaten Mythologien', nach möglichst intensiven Lebensäusserungen oder genauer nach jenen Kippmomenten, in denen eine Attitüde plötzlich Form wird. Vor einigen Jahren allerdings begann diese vertikale Tendenz immer stärker in eine horizontale Bewegung umzuschlagen: Aus dem Tiefseetaucher wurde ein Hochseefischer, der die Weltmeere bereiste und überall virtuos die glänzendsten Fänge aus dem Wasser zog."

In der NZZ heute fast nur Besprechungen. So werden die Ausstellung "Alte Klöster, neue Herren - Die Säkularisation im deutschen Südwesten 1803" in Bad Schussenried und der Auftritt der britischen Tanztheatergruppe DV8- Physical Theater im Londoner Tate Modern besprochen. Alfred Zimmerlin berichtet vom Auftritt des österreichischen Musikers und Komponisten Bernhard Lang im Collegium Novum im Rahmen der "Differenz/Wiederholung"-Reihe. Schließlich noch zwei Nachworte. Renate Windisch-Middendorf erinnert an den Dichter Moses Rosenkranz. Zum Tod des Komponisten Luciano Berio schreibt Thomas Gartmann, er sei ein "Uomo universale" gewesen und verkörpere wie kaum ein Anderer die Spannung zwischen Tradition und Experiment.

Auf der Filmseite gratuliert Peter W. Jansen Bob Hope zum Hundertsten. Besprochen werden der Film "La vie promise" von Olivier Dahan und der Film "Solino" von Fatih Akin. Jürgen Kasten schreibt über die Novellierung der deutschen Filmförderung.

Auf der Medienseite bespricht "H. Sf." ein (auf englisch erschienenes) Buch über die legendäre, leider eingegangene Zeitschrift Lingua Franca: Alexander Stars "Quick Studies".



FAZ, 30.05.2003

Gleich zwei interessante Beiträge von Kulturkorrespondent Jürg Altwegg in der heutigen FAZ. Auf Seite 1 des Feuilletons interviewt er den französischen Anthropologen und Demographen Emmanuel Todd ("Weltmacht USA"), der vor ein paar Jahren noch den Euro schmähte und Frankreich von Deutschland befreien wollte und nun Europa als Bastion gegen den angeblich verfallenden Hegemon Amerika hochrüstet. Er selbst erklärt es so: "Europa als politisches Konzept und Einheit interessierte mich nicht, weil ich absolut proamerikanisch eingestellt und voller Vertrauen in die Vereinigten Staaten war. Ich sah keine Notwendigkeit, ein Gegengewicht zu schaffen. Erst die Einsicht, dass die Amerikaner zum Störfaktor wurden und Unordnung in die Welt brachten, hat mich zu einem 'Europäer aus Vernunft' gemacht." Auch die weitere Perspektive der deutsch-französischen Freundschaft malt Todd aus: "Die nächste Etappe der Zusammenarbeit muss eine wirtschaftspolitische Konzertation sein - mit dem Ziel, die Maastricht-Kriterien zu umgehen."

Auf der Medienseite nimmt Altwegg Bernard-Henri Levys neues Buch "Qui a tue Daniel Pearl" (Leseprobe) auseinander, das die Geschichte des von Islamisten in Pakistan enthaupteten Journalisten Daniel Pearl nachrecherchiert, aber leider Gottes als "Romanquete", als eine Reportage, die glaubt, ohne literarische Elemente nicht auszukommen. Die gleichgeschaltete französische Literaturkritik hat kein kritisches Wort über das Buch verloren, so Altwegg. Er selbst empfindet Unbehagen: "Pearl ist ein Märtyrer seines Berufs. Ihm ein Denkmal zu setzen gereichte jedem Autor zur Ehre. Würde aber auch eine gewisse Zurückhaltung voraussetzen. Genau sie lässt Levy völlig vermissen. Es gibt Kapitel, in denen jeder zweite Abschnitt mit 'Ich' beginnt. Was sich als Hommage ausgibt, ist so egomanisch und narzisstisch, dass man getrost von einer Vereinnahmung sprechen darf."Hier die Seite der Daniel-Pearl-Foundation.

Weitere Artikel: Michael Jeismann erzählt die Geschichte eines von dem amerikanischen Millionär Karl Heinz Johannsmeier gesponserten Mahnmals für die Opfer des DDR-Regimes, das ohne öffentliche Abstimmung von der Stadt Jena einfach durchgepowert werden soll. Gerhard R. Koch schreibt zum Tod des Komponisten Luciano Berio. Jürg Altwegg (fleißig, der Mann!) schreibt zum Tod des Publizisten Francois Bondy. Andreas Rossmann resümiert einen Essener Vortrag des Bagdader Museumsdirektors Donny George Youkhanna, der noch einmal eine genauer Schadensbilanz der Plünderungen zog. Hubert Spiegel hat einem Treffen deprimierter Buchhändler in Karlsruhe beigewohnt - nur Versandhändlern wie Amazon und Weltbild geht es gut, und das Internet ist heute für acht Prozent der Umsätze gut, so Spiegel. Dietmar Polaczek freut sich über neue Aktivitäten und Orientierungen der Villa Massimo in Rom.

Auf der letzten Seite schildert Kerstin Holm die Feiern der Stadt Petersburg als reine Fassadenveranstaltung - wirtschaftlich und politisch sei Petersburg hinter Moskau zurückgeblieben. Wolfgang Sandner porträtiert ein Phänomen: denn 99-jährigen Pianisten Willy Sommerfeld, den letzten lebenden Stummfilmbegleiter, der morgen wieder im Berliner Arsenal aufspielt. Und Harald Staun bringt Impressionen von der Tagung "Total vernetzt" über die Zukunft der Computer- und Kommunikationstechnologie. Auf der Medienseite erfahren wir von Michael Hanfeld, dass "die Verhandlungen um die Übernahme der Reste des ehemaligen Kirch-Imperiums durch den amerikanischen Medienunternehmer Haim Saban .. entweder kurz vor dem Scheitern oder knapp vor dem Durchbruch" stehen.

Besprochen werden Dieter Dorns Inszenierung von Genets "Wänden" im Münchner Residenztheater (laut Gerhard Stadelmaier "eine hübsche, etwas lange weilende schwarze Messe als Kindergeburtstag für Erwachsene"), Strawinskys "The Rake's Progress" in Dresden und Bahman Ghobadis Film "Verloren im Irak".