Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.01.2003. Die FAZ bewundert die federnd fatale Wucht von Racines "Phädra" in Patrice Chereaus Inszenierung. In der SZ sagt Cees Nooteboom, was ein Talleyrand einem Bush gesagt hätte. In der FR erzählt Anatolij Koroljow  vom Überleben im russischen Literaturbetrieb. Die NZZ stöhnt über den Wandel des Lektors zum Produktmanager. In der taz geht Gabriele Goettle über einen Truppenübungsplatz.

FAZ, 27.01.2003

Selten genug ist Gerhard Stadelmaier ergriffen, dann aber um so heftiger. In Paris hat er Patrice Chereaus Inszenierung von Racines "Phädra" gesehen, mit der zarten Dominique Blanc (Bild) in der Hauptrolle: "Sie nimmt nicht erst zum Schluss Gift. Sie scheint von Anfang an mit einer Art Pest infiziert: mit der Krankheit Liebe, die hier auch sofort die Krankheit Schuld ist. Kein Mythos - ein Mädchen, plötzlich dazu verdammt, bei einem furchtbaren, mörderischen Mythos mitzumachen." Und "Chereau, unter den großen europäischen Regisseuren der pessimistischste, der die kleinen Winkel hasst, der seine Figuren immer ins große Düstere zieht, wo er ihre Untergänge gnadenlos ausleuchtet, lässt auch hier keinen Ausweg: kein Trost, kein schöner Schein. Nur eine grandiose, federnd fatale Wucht."

Weitere Artikel: Auf einer Doppelseite wird eine Erzählung der viel gefeierten Autorin Judith Hermann abgedruckt - die Titelgeschichte aus dem gerade erscheinenden Erzählband "Nichts als Gespenster". Edo Reents begleitet den hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch auf Wahlkampftournee. Andreas Rossmann hat den Festakt zum 25-jährigen Bestehen des Europäischen Übersetzerkollegs in Straelen am Niederrhein besucht. Joseph Croitoru liest osteuropäische Zeitschriften, die sich mit der Lage der Universitäten in den betreffenden Gegenden befassen.

Auf der letzten Seite liefert Andreas Rosenfelder Impressionen von einer Sitzblockade des alten Europas vor amerikanischen Militärbasen in Geilenkirchen. Jordan Mejias porträtiert John M. Poindexter, der für Präsident Bush den neuen Geheimdienst Total Information Awareness leitet (deren Website heute morgen kurioserweise nicht funktionierte). Und Dietmar Polaczek weiß, warum die italienischen Intellektuellen zum Tod Giovanni Agnellis schweigen - sie wollten aus diesem Anlass nichts Böses sagen. Auf der Medienseite erzählt Jürgen Kaube, wie Ökonomen "den Sport fernsehgerecht aufbrezeln wollen". Und Jörg Hahn berichtet über das Projekt eines öffentlich-rechtlichen Sportkanals, in dem auch Minderheitensportarten ihr Recht bekämen. (Wir zahlen's ja!)

Besprochen werden Michel Reverdys "Medea"-Oper nach Christa Wolf in Lyon, eine Elena Liessner-Blomberg gewidmete Ausstellung in Schwerin und einige Sachbücher, darunter John Haldons Geschichte des byzantinischen Reichs.

TAZ, 27.01.2003

Gabriele Goettle hat das Feuilleton heute ganz für sich und beglückt uns mit einer ihrer grandiosen Reportagen. Diesmal hat sie sich mit dem Werkzeugbauer Werner Nietschmann auf dem Schießplatz Kummersdorf herumgetrieben, dem kaiserlich-demokratisch-nationalsozialistisch und schließlich rein sozialistischen Militärversuchsgelände südlich von Berlin. "An einem überschwemmten Waldstück entlang gehen wir zu Fuß, über einen Hügel muss man steil hinaufklettern um ins Untergeschoss des ehemaligen Uranmeilers hinunterschauen zu können. Damals hatte es einen Holzaufbau, wie eine Bockwindmühle, für den Fall der Explosion (!) Die Russen benutzten das kleine 'Bassin' dann als Löschwasserbecken. 'Wir hatten ja das Hahn-Meitner-Institut hier, und sie haben eine Spur gemessen. Also wenn jetzt, nach knapp 60 Jahren, der Geigerzähler noch reagiert, dann ist eine gewisse Strahlung vorhanden, aber sie haben gesagt, dass man wenigstens 100 Jahre hier stehen müsste, um 1 Bequerel abzukriegen.' Elisabeth fragt: 'Ist das ein Hollunder, der dort unten im Reaktor so schön heranwächst? Herr Nietschmann nickt und sagt: 'Es ist einer, sogar ein seltener, er ist blau blühend! ... So, das wars, jetzt habe ich kalte Füße, fahren wir zu mir nach Hause, was Heißes trinken.'"

Was der Fotograf Sebastiao Salgado (Kurzporträt) auf dem Weltsozialforum verloren hat, erklärt er Gerhard Dilger und Katharin Koufen in einem Interview auf der Tagesthemenseite: "Ich komme aus einer ganz besonderen Realtiät, und das ist Brasilien - mit all seinen Widersprüchen und all seiner sozialen Bedürftigkeit. Ich habe angefangen zu fotografieren und habe eigentlich von Anfang an nur soziale Themen fotografiert. Wirtschaftswissenschaften sind ja eigentlich Sozialwissenschaften, und wenn man die Wirtschaft von einer anderen Seite betrachet, landet man beim Sozialen. Meine Fotografie (einige Beispiele) hat mich dazu geführt, die Welt von dieser anderen Seite zu betrachten."

Auf der Medienseite traut Dirk Eckert der Offenheit nicht ganz, die das Pentagon den Reportern für einen zweiten Golfkrieg verspricht. "Damit die Journalisten die richtige Perspektive einnehmen, wollen die Militärs sie diesmal ganz nah bei sich haben. Denn im letzten Golfkrieg hätten die 'Geschichten über individuellen Heldenmut' gefehlt, klagte Dan Hatlage vom US-Verteidigungsministerium."

Schließlich Tom.

FR, 27.01.2003

Im russischen Literaturbetrieb weht ein rauer Wind, wie der Romancier Anatolij Koroljow mit einer gehörigen Prise Galgenhumor erzählt. Die Autorengagen sind ein schlechter Witz, das Copyright wird ignoriert, und die Mengenvorgaben kaum zu schaffen. Weshalb hinter vielen großen Namen Autorenkollektive stecken, wie eine Freundin Koroljows vermutet. "Bei einem unserer Krimistars zum Beispiel glaubt Sprachwissenschaftlerin Schalimowa sechs Ghostwriter identifizieren zu können, von denen jeder einen Teil eines Romans schreibe und Spuren wie Fingerabdrücke hinterlasse. Einer von ihnen sei ein älterer Mann mit Magengeschwür, der oft über vegetarische Speisen und Magenmedizin schreibt. Außerdem kenne er sich in fernöstlicher Literatur aus und liebe es, mit entsprechenden Zitaten zu prahlen. Ein zweiter Ghostwriter sei jünger, liebe Sport und Autos, sei offensichtlich ein ehemaliger Verkehrspolizist und benutze häufig ihren Jargon. Und wahrscheinlich nähe ein siebter Ghostwriter die verschiedenen Teile abschließend zusammen."

Sehr obskur, dieses Weltwirtschaftsforum in Davos. Rudolf Walther geißelt nicht nur das ebenso undurchsichtige wie profitable Geschäftsgebaren des Organisators Klaus Schwab, sondern hält die Veranstaltung auch für recht unbedeutend. "Das Forum - eine Art Klassentreffen von 1400 Topmanagern, 750 Politikern und 300 Journalisten - verdankt seine Prominenz einer grotesken Fehleinschätzung. Lukas Schmutz von der Basler Zeitung (23.1.03) sprach von einem 'überschätzten Meeting in dünner Luft' - wo keine neuen Ideen geboren oder finsteren Pläne ausgeheckt werden, sondern unverbindlicher small talk zelebriert wird."

Weitere Artikel: Eva Schweitzer spekuliert, ob das neue World Trade Center nach den Plänen von Antoni Gaudi (mehr hier) gebaut wird - die Entürfe stammen aus dem Jahr 1908. Petra Kohse wundert sich in Times mager ein wenig über ihren sehr deutschen Nachbarn Yilmaz, unterstützt ihn aber doch in seinem Bemühen, Herr Schulz zu sein. Zwei Meldungen befassen sich mit der Forderung der Kulturmisterin Christina Weiss nach Haustarifverträgen für die Theater und dem Tod des britischen Hitler-Experten Trevor Roper.

Auf der Medienseite mokiert sich Jürgen Roth über die Flut an Journalistenpreisen (hier eine Liste der 200 bekannteren), etwa den "Journalisten-Preis für Lebensfreude von Moët & Chandon", den - wer sonst - Dieter-Bohlen-Feder Katja Keßler entgegennehmen durfte.

Besprochen werden Stephane Braunschweigs Inszenierung der "Gespenster" von Ibsen in Frankfurt und Jens Roselts Kammerspiel "Dreier" in Hamburg.

NZZ, 27.01.2003

Über den Wandel des Lektors zum Produktmanager, dessen Marketingkonzepte mehr gefragt werden als literarische Urteilskraft, macht sich Joachim Güntner recht verzweifelte Gedanken. Dabei lässt er zwei quasi stellvertretend für die Lektorengenerationen Hansjörg Graf (früher Piper und List) und seine Tochter Tanja Graf (Piper) zu Wort kommen. "Hansjörg Graf: 'Es entspräche nicht den Fakten, würde man bloß um eines künstlichen Kontrastes willen behaupten, dass der Lektor der fünfziger und sechziger Jahre in einem Wolkenkuckucksheim gelebt hätte.' Tanja Graf: 'Die erfolgreichen Bücher, die du gern erwähnst, sind oft Bücher, die sich sehr gut verkauft haben und auch ein sehr hohes literarisches oder wissenschaftliches Niveau besaßen. So etwas verlegen wir alle gern. Was ich interessanter finde, ist, um bei Piper zu bleiben, dass eine Gaby Hauptmann, Autorin von Titeln wie 'Suche impotenten Mann fürs Leben', insgesamt fünf Millionen Exemplare von ihren Büchern verkauft hat. Die finanziert anspruchsvolle literarische Sachen mit, auch neue deutsche Literatur, die zwar viel Presse bekommt, sich aber nicht so gut verkauft, wie sie sollte.'"

Christoph Egger hat bei den Solothurner Filmtagen Versprechen auf die Zukunft ("On dirait le sud" von Vincent Pluss), ausnehmend schöne Filme (zum Beispiel "Ich hiess Sabina Spielrein" von Elisabeth Marton) und gnadenlose Klatschsucht erlebt. Frank Peter Jäger fürchtet, dass sich das Dessauer Bauhaus mit seiner neuen akademischen Ausrichtung zunehmend verzettelt. Claudia Schwartz hält die neue französische Botschaft von Christian de Portzamparc für einen "willkommenen Akzent" im "eintönigen Umfeld" des Brandenburger Tores". Dass der berliner sie nicht mag ("Bunker!"), findet Schwartz nur natürlich: "Wo das Herz für ein Barockschloss schlägt, weckt das Zeitgenössische weiterhin den Berliner Widerspruchsgeist. Von Walid Khazendar ist das Gedicht "Jetzt vor uns" zu lesen.

Besprochen werden Patrice Chereaus Inszenierung von Racines "Phedre" ("Racine ohne Semikola - was für eine Revolution!"), Händels Oratorium "Il trionfo" im Zürcher Opernhaus, Christine Mielitz' "Cosi fan tutte"-Inszenierung bei den Salzburger Mozartwochen sowie ein Konzert des Collegium Novum in Zürich

SZ, 27.01.2003

Donald Rumsfelds Seitenhieb auf das alte Europa wirkt wie eine Koffeintablette zur rechten Zeit. Plötzlich wachen die Intellektuellen auf, heute Cees Nooteboom (mehr hier). "Dies hätte ein gerechter Krieg sein können, wäre er nicht präventiv. Es gibt zu viele Ambiguitäten in der amerikanischen Politik: Tschetschenien, Israel. Wirkliche Helden messen nicht mit zweierlei Maß. Ein Talleyrand hätte Bush gesagt, er müsse über Saddams dunklen Schatten hinweg auf den Rest der islamischen Welt blicken, wo eine Niederlage in den Terror der Rache münden kann. Aber Talleyrand konnte Napoleon auch nicht aufhalten."

Weitere Artikel: Alexander Kissler fragt sich, ob der Staatsvertrag zwischen der Bundesregierung und dem Zentralrat der Juden, der heute unterzeichnet wird, zur Integration oder Spaltung führen wird. Sonja Zekri hat sich mit Sibylle Quack, Geschäftsführerin der Stiftung für das Holocaust-Mahnmal, über Pathos und Information, unterirdische Stelen und staatliche Symbolik unterhalten. Zwei Mächte ringen in der texanischen Seele, erklärt uns Petra Steinberger, und hängt gleich eine kleine Kulturgeschichte der Heimat George Bushs an. Amateur Andreas Bernard war in Weimar ein wenig überfordert beim sachkundigen Vortrag Klaus Theweleits über Fußball als Grundschicht der Sozialisation.

Joachim Riedl berichtet von der nationalen Abwehrschlacht Österreichs um die Kronen-Zeitung. Reinhard J. Brembeck zermartert sich den Kopf darüber, wer das kongeniale Intendanten/Musikdirektor-Duo Peter Jonas und Zubin Mehta an der Müchner Staatsoper beerben wird. Thomas Steinfeld hält die Entscheidung der Frankfurter Buchmesse, die Staaten der arabischen Liga zum Gastland 2004 zu erklären, für eine "waghalsige Spekulation". "skoh" beteiligt sich trotzdem an den Spekulationen über den unbekannten Käufer von Andrea Mantegnas "Christus in der Vorhölle" (ob es hier dabei ist?), das bei Sotheby's für knapp 30 Millionen Dollar unter den Hammer gekommen ist. Hans Belting schreibt zum Tod Ernst Kitzingers, der Doyen der Byzantinistik. Und Gustav Seibt gratuliert schließlich den "Vierteljahrheften für Zeitgeschichte" zum Fünfzigsten.

Auf der Medienseite würdigt Willi Winkler in der Journalisten-Serie den Reporter Karl Marx, der mit 64 Jahren in London starb, "ein staatenloser Schreiber in London, totgearbeitet mit rücksichtsloser Kritik an den Verhältnissen."

Besprochen werden Patrice Chereaus sensationelle Inszenierung von Racines "Phädra" in Paris, Andre Turnheims Variante von Arne Sierens' "Mein Neger" in Leipzig, die Dortmunder Ausstellung "Palast des Wissens" über die Kunst- und Wunderkammer Peters des Großen (mehr hier), die beswingte Beethoven-Darbietung des türkischen Pianisten Fazil Say in München, und viele Bücher, darunter "Aufgewacht. Mauer weg", Susanne Leinemanns Angriff auf die bademantelgeschütze Selbstverliebtheit der Generation Golf, zwei neue Bücher über Leben und Werk von Karl May sowie Gerold Späths neuaufgelegter und ehrenwert scheiternder Roman "Unschlecht" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).