Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.07.2001.

FAZ, 13.07.2001

Der israelische Autor David Grossman berichtet von dem ersten Treffen israelischer und palästinensischer Friedensaktivisten seit neun Monaten. Es war enttäuschend, wegen der Wiederholung der immergleichen Argumente, schreibt er. "Und doch war es ein eminent wichtiges Treffen. Denn in diesen Tagen, in denen der Dialog zwischen Israelis und Palästinensern fast ausschließlich mit wechselseitigen Schüssen, Morden, Hassausbrüchen und Hetztiraden geführt wird, ist es wichtig, auch andere Worte auszusprechen, Worte leiser Hoffnung, Sympathiebekundungen für das Leid des jeweils anderen Volkes, Verurteilung der von den eigenen Leuten begangenen Schandtaten."

Edo Reents hat Helmut Kohl in Speyer weinen sehen, als er den ehemaligen EU-Kommissar Romani Prodi umarmte: "Diesen Moment verfolgten die Trauergäste, die sich zur Messe für Hannelore Kohl im Kaiserdom zu Speyer eingefunden hatten, wie ein bedeutsames Schauspiel, aufmerksam und wohl auch voller Respekt, jedenfalls ohne die zudringliche Neugier, die in vergleichbaren Situationen den Menschen zumindest unterstellt wird und die das Hinsehen zu einem Gaffen macht. Ein Schaupiel war es tatsächlich, was die Leute da zu sehen bekamen, eines, das der Hauptakteur, der Kohl auch in dieser Stunde war, mit jener Symbolkraft auflud, die auch die Jahre seiner Kanzlerschaft geprägt hatte."

Katja Gelinsky berichtet über die Klage des Düsseldorfer Juristen Peter Wolz gegen die amerikanische Regierung: Er nennt sie der "passiven Mittäterschaft" an Auschwitz schuldig und verklagt sie im Namen seiner Mandanten auf 40 Milliarden Dollar. Die Regierung beruft sich auf die völkerrechtliche "Doktrin der Staatssouveränität".

Weitere Artikel: Der amerikanische Psychologe Mihaly Csikszentmihalyi denkt in einem ganzseitigen Essay über Psychologie im Zeitalter der genetischen Planbarkeit von Menschen nach. Martin Kämpchen schreibt über Zensur an Büchern in Indien. Joseph Hanimann sieht in der kabylischen Revolte in Algerien Anzeichen für eine Demokratisierung des Landes - die Berbersprache Tamazigh soll offiziell anerkannt werden. Marlis Prinzip legt eine Reportage über die Forschungen Reinhold Messners und des ebenfalls bergsteigenden Arztes Oswald Oelz zu den "Akutsymptomen eines Höhenhirnödems" vor. Und Andreas Rosenfelder legt in einer anderen Reportage, die sich ebenfalls sommerlochbedingt in den Kulturteil verloren zu haben scheint, Reaktionen auf die Schließungen eines Ausbesserungsweks der Deutschen Bahn in Leverkusen dar. Schließlich gratuliert Horst Bredekamp dem Historiker Nicolai Rubinstein zum Neunzigsten.

Besprochen werden die neue Dauerausstellung im Landesmuseum Schloss Gottorf, die auf der Leihgabe eines Sammlers beruht, Tony Gatlifs Film "Vengo", eine Ausstellung von Werken Vija Celmins und Toba Kheedoris im Basler Museum für Gegenwartskunst, eine Maren Roloff-Ausstellung im Kunstverein Ellwangen und Dein Perrys Tanzfilm "Bootmen".

Auf der Schallplatten-und-Phono-Seite geht es um die CD "Im Zauber von Verdi" von Fumio Yasuda und um den Countrysänger Jim White (dessen bei Luakabop zu hörendes Lied - Vorsicht: Real Audio - "Handcuffed to a Fence" bei den Perlentauchern zum Hit wurde).

TAZ, 13.07.2001

Nils Michaelis schreibt über Reggae und Dancehall in Deutschland, die ihr ihre Birkenstock-Image verloren haben und jetzt ein riesiges Publikum anziehen. "'Man hatte manchmal den Eindruck, dass sich da Schulklassen geschlossen verabredet hatten', staunt Deeroy, Szeneaktivist und Betreiber des Dub-Store im Prenzlauer Berg, 'eigentlich hätte man das Ende dieser Welle längst erreichen müssen, aber es geht immer weiter. In Berlin kann man an jedem Abend zu einer gut besuchten Dancehall-Veranstaltung gehen.'"

Weitere Artikel: Martin Ebner berichtet kurz über den ersten internationalen Kongress der Stadtplaner in Schanghai, und H.P. Daniels schreibt den Nachruf auf den Musiker Hermann Brood, der sich am Mittwoch vom Dach eines Amsterdamer Hotels stürzte.

Besprochen werden Tony Gatlifs Flamenco-Film "Vengo", HipHop-CDs von Afrob ("Made in Germany") und Tefla & Jaleel ("Interview") und "heißer Scheiß in Sachen neuer Soul": ein Konzert der Sängerin Erykah Badu in Hamburg. "Baustein für Baustein werden Rhythmen und Basslines aufgeschichtet, über denen Badu nur zu summen braucht - der Groove stellt sich praktisch von selbst ein. Es ist diese klare Geometrie, dieses abgespeckte Soundgerüst, das viel Platz lässt für die fast schlafwandlerischen Monologe vom on and on des Lebens. Schleichend kommt der Mensch zum Ziel."

Schließlich Tom.

FR, 13.07.2001

Nathan Sznaider berichtet aus Jedwabne, wo der polnische Präsident Aleksander Kwasniewski in einer Zeremonie, die vom polnischen Fernsehen übertragen wurde, über das Massaker an den Juden von Jedwabne von 1941 sprach: "Die Rede des Präsidenten hat alle Erwartungen übertroffen. Er entschuldigte sich im Namen Polens bei den Juden Jedwabnes... Keine Apologetik war mehr zu hören. Keine Ausreden mehr wie: Die Deutschen haben es getan, oder die Juden waren wie immer schuld an ihrem eigenen Unglück, haben sie doch in den zwei Jahren der sowjetischen Besatzung, die dem Massaker in Jedwabne vorausgingen, mit den Bolschewisten zusammengearbeitet. Die Rede des Präsidenten war klar. Polen haben die Juden ermordet. Nachbarn. Ohne Wenn und Aber."

Erik Meyer schildert die Auseinandersetzungen um die Berliner Love Parade, der bekanntlich der Status einer Demonstration aberkannt werden soll (was bedeutet, dass die Veranstalter für das Wegräumen des Drecks selber bezahlen müssten): "Wer die konservativen Vorstellungen und damit verbundenen ordnungsrechtlichen Vorstöße zum Versammlungsrecht kennt, ahnt, dass die Paraden der Techno-Szene Präzedenzfälle für eine Verschärfung der Gangart gegenüber anderen Veranstaltungen sein könnten. So stellen viele der in den Ablehnungsbescheiden formulierten Argumente verallgemeinert auch den Demonstrationsstatus von ähnlich konzipierten Kundgebungen wie dem Christopher Street Day in Frage."

Weitere Artikel: Der Jurist Erik Jayme beschreibt anhand zweier Rubens-Gemälde, die sich heute in Stuttgart und Karlsruhe befinden, wie verwickelt die Situation bei so genannter Beutekunst sein kann - im übrigen weist er auf die Internetadresse LostArt hin, wo man nach Kunstgegenständen suchen kann. Sebastian Engelbrecht resümiert eine Tagung der World Hebrew Union in Berlin. "tt" schreibt zum Tod des Rocksängers Hermann Brood. Besprochen werden die Verfilmung von Cormac McCarthys "All die schönen Pferde", ein "Lohengrin" in Karlsruhe und eine Berliner Ausstellung zum 50. Geburtstag des Goethe-Instituts.

NZZ, 13.07.2001

Knut Henkel beschreibt die wechselvolle Geschichte der ehemaligen Hauptstadt Nicaraguas, Leon, das langsam verfällt. Das hat "auch politische Ursachen. Leon war spätestens seit dem erfolgreichen Attentat des jungen Dichters Rigoberto Lopez Perez auf den Diktator Anastasio 'Tacho' Somoza am 21. September 1956 in Ungnade gefallen. In den Augen des diktatorisch regierenden Somoza-Clans galt es als Widerstandsnest. Diesem Ruf wurde die Stadt in den folgenden Jahren durchaus gerecht. Sie wurde zu einer Hochburg des FSLN, der sandinistischen Befreiungsfront, deren Gründer nahezu ausnahmslos in Leon studierten. - Hochburg der Sandinisten ist Leon bis heute geblieben, doch von der kulturellen und intellektuellen Blüte der Stadt ist wenig geblieben, bedauert Maria Sacasa de Prego. Die alte Kulturstadt sei auf den Hund gekommen. Wo früher 42 Magazine und 4 Tageszeitungen verlegt wurden, gibt es gerade noch zwei schmalbrüstige Wochenzeitungen. Und im Mitte der neunziger Jahre wiederaufgebauten Theater der Stadt sind Dramen und Opern Mangelware. Niveauvolle Darbietungen finden wenig Zuspruch, klagt die 62-jährige (Theater-)Direktorin. Für ein attraktives Programm fehlen ihr die Mittel. Die Region ist seit 1983, dem Jahr des grossen Baumwoll-Crashs, verarmt."

Besprochen werden Klavierabende von Andreas Staier und Zoltan Kocsis bei den Zürcher Festspielen und Ausstellungen - über Kleingartenkolonien im Filmmuseum Potsdam, den "(im)perfekten Menschen" im Deutschen Hygiene-Museum in Dresden und den Architekten Jean Nouvel im Kunstmuseum Luzern.

SZ, 13.07.2001

Ulrich Raulff denkt über die Deutschen und ihr Verhältnis zur Geschichte nach. Nach 68 habe in Deutschland alle Welt "historisch, das heißt fortschrittlich" gedacht. Doch jetzt mache sich "ein neuer Biofatalismus" breit. "Die Gesellschaften des Westens proben den Auszug aus der Geschichte, und sie tun das nicht zum ersten Mal. Schon einmal, im Abgang der ersten, klassischen Moderne, warfen sie sich einem Antihistorismus in die Arme, der das Schicksal suchte und am Ende eine Lebenswissenschaft fand: den modernen Rassediskurs, in dem der Einzelne und seine Geschichte nichts, das biologische Verhängnis aber alles war." Anders als Karl Heinz Bohrer sieht Raulff den Grund für das Desinteresse an Geschichte vor allem "in den Absurditäten des deutschen Bildungssystems". Geschichte sei nun mal "eine fremde, häufig unheimliche Welt, der man sich nur um den Preis intellektueller Anstrengung nähert. Und von diesem Gedanken scheint sich das deutsche Bildungswesen Tag für Tag gründlicher zu verabschieden."

Der Filmemacher Hans-Christian Schmid ("21") beschreibt, woran das Hochschulfilmfest in München scheiterte, das dieses Jahr erstmals mit dem Filmfest zusammenfiel. "Die ausländischen Studenten kommen zwar vorbei, aber die Studenten der Münchner Filmhochschule lassen sich nicht blicken. 'Das mit unseren Studenten ist ein Skandal', sagt der HFF-Professor Wolfgang Längsfeld, der das Festival vor 20 Jahren gegründet hat. Vor allem, dass sie sich in den Programmen mit den internationalen Studentenfilmen kaum blicken lassen, kann er sich nicht erklären. 'Vor 15 Jahren waren viel mehr Studenten da. Warum die jetzt nicht mehr kommen, weiß ich auch nicht.'"

Weitere Artikel: Fritz Göttler wirft einen Blick in Zeitschriften (vor allem die Cahiers du Cinema, die Eric Rohmers neuem Film "Eine Engländerin in Paris" eine Sondernummer gewidmet haben), Michael Hepp gratuliert dem Literaten Harry Pross zum Kurt-Tucholsky-Preis, und Michael Ott denkt über die Faszination der Tour de France nach: "Die Tour ist eine enzyklopädische Erfassung menschlicher Räume und Grenzen, ein Durchspielen widersprüchlichster Tugenden (Vernichtungswillen, Opferbereitschaft, Ritterlichkeit, Fairness: 'Ich bin kein Kannibale'); ein letztes Heldenepos zwischen taktischer Schläue und gottgesandter Niederlage."

Besprochen werden Lee Tamahoris Film "Im Netz der Spinne", Bernard Sobels Inszenierung des "Ubu roi" beim Theaterfestival in Avignon, das Gastspiel Daniel Barenboims und der Berliner Staatskapelle in Madrid und ein Krimi von Manuel Vazquez Montalban (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).