Heute in den Feuilletons

Einmal die ersten!

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.11.2012. Bestürzung - und Bitterkeit - herrscht über die Insolvenz der FR. Die taz meint: In der Not ist Häppchenjournalismus der Tod. In der FR selbst schwärmt Navid Kermani von Kleist. Die NZZ geht in Siena in die Schule der Gesten. In der SZ erklärt Werner Herzog, dass der Weg zum Filmemachen eher über den Sexclub führt als über ein Studio.

FR/Berliner, 14.11.2012

"Es ist nicht das Ende der Frankfurter Rundschau!" beschwört die FR in einer traurig dünnen Mitteilung ihre Zukunft nach der gestrigen Insolvenz: "Wir werden Ihnen aus Nepal berichten wie aus Südafrika, aus Berlin wie aus Frankfurt-Bonames. Wir werden über große Politik und kleine Fahrraddiebe schreiben, über Sport und Kultur und Wirtschaft." (Laut Spiegel online kommentierte ein FR-Mitarbeiter die Insolvenzmeldung mit beträchtlich mehr Realitätssinn: "Einmal die ersten! Endlich ein Trend, den wir nicht verschlafen haben.")

Im Feuilleton spricht Navid Kermani , der am Sonntag mit dem Kleist-Preis ausgezeichnet wird, im Interview mit Joachim Frank über seinen Dichterhelden: "mich bewegt das Überbordende, aber auch das Sperrige seiner Sprache. Besonders die Prosa seiner Erzählungen widerspricht allem, was man heute in 'Creative Writing'-Seminaren lernen würde, ist manchmal umständlich bis hin zum Komischen, mit überlangen, vollgepackten Sätzen, die jeder für sich eine ganze Erzählungen enthalten und oft nur durch 'dergestalt, dass'-Konstruktionen zusammengehalten werden. Und zugleich ist die Story unglaublich temporeich, dramatisch, spannend."

TAZ, 14.11.2012

Jetzt reden wieder alle von der angeblichen Kostenlos-Mentalität des Internets. Aber ist die wirklich schuld am Niedergang der Frankfurter Rundschau? Der begann doch eigentlich schon vorher, gibt Ines Pohl in einem Kommentar zu: "Mit dem neuen [Tabloid-]Format beging die FR 2007 Selbstmord aus Angst vor dem Tod, sie verabschiedete sich von der Bühne ernst zu nehmender Qualitätstitel. Lange Betrachtungen, Analysen, Hintergründe wurden einem kurzatmigen Häppchenjournalismus geopfert, der die FR beliebig machte und sie damit ihrer Existenzberechtigung letztlich selbst beraubte."

Bei Bert Rebhandl kommt der gehypete "Wolkenatlas" von Tom Tykwer und den Geschwistern Wachowski überhaupt nicht gut an. Ein "Kunstprodukt ohne Kunst", meint Rebhandl: "Doch wird bei aller technischen Kompetenz umso deutlicher, dass die Erzählkunst von Mitchell in der Substanz arg dürftig ist. Worum geht es eigentlich?"

Weiteres: Sven von Reden hat auf der Duisburger Filmwoche mehrere Künstler-Dokus gesehen, die klugerweise nicht versuchten, Kreatitivität einzufängen. Barbara Behrendt berichtet vom Hamburger Barcamp, auf dem das Thalia Schnittstellen zwischen Theater und Sozialen Medien erkunden wollte. Rudolf Walther liest Geert Maks Essay "Was, wenn Europa scheitert". Meike Laaff und Daniel Schulz unterhalten sich mit Adam Lashinsky, dem Autor des Buchs "Inside Apple".

Und Tom.

Welt, 14.11.2012

Die Geliebte oder Exgeliebte, whatever, von General Petraeus inspiriert die Feuilletons fast so stark wie "Shades of Grey": In der Glosse phantasiert Jenny Hoch sie sich als das "soldatische Gegenstück zum herkömmlichen Bond-Girl". Ein irritierter Lucas Wiegelmann beobachtet Daniel Barenboims herzlichen Umgang mit der Macht, der ihm jetzt in Berlin einen Konzertsaal für sein Divan-Orchester beschert hat. Alan Posener widerspricht Charlotte Knobloch: eine kommentierte Ausgabe von "Mein Kampf" könne durchaus sinnvoll sein. Nicht uninteressant findet Hanns-Georg Rodek die Meldung, dass Michael Arndt das Drehbuch von "Star Wars" Nr. 7 schreiben soll.

Besprochen werden die Verfilmung von David Mitchells Roman "Cloud Atlas" durch die Geschwister Wachowski und Tom Tykwer (Richard Kämmerlings nervt die deterministische Weltsicht, immerhin: "Aus dem Versuch, sämtliche Rollen von Hugh Grant oder Tom Hanks zu identifizieren, kann man ein eigenes Gesellschaftsspiel machen") und Moebius' letzter Comic "Arzak".

NZZ, 14.11.2012

Barbara Villiger Heilig hat in Siena die Schule der Gesten besucht, wo der Tänzer und Choreograf Virgilio Sieni Laien Grazie lehrt, er sie "ein Bild nicht nachstellen, aber mit ihm in einen stummen Dialog treten" lässt: "Was schwierig zu beschreiben ist, lebt von einer unmittelbar anrührenden Anmut. Alles ohne Theatralik, keine Kostüme, keine Schminke; nur unaufdringliche Musik und warmes Licht umfängt die Szene. Es herrscht große Natürlichkeit, und sie wirkt: schön."

Besprochen werden die Ausstellung über Konvertiten "Treten Sie ein! Treten Sie aus!" im Jüdischen Museum Hohenems, die Eichmann-Aufzeichnungen des israelischen Vernehmungsbeamten Avner Werner Less "Lüge! Alles Lüge!", Martin Rhonheimers Studie "Christentum und säkularer Staat" und Jean Echenoz' Roman "Blitze" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

SZ, 14.11.2012

Eine ganze Seite füllt das Gespräch, das Alex Rühle mit Werner Herzog anlässlich der Übergabe seines Privatarchivs ans Filmmuseum Berlin (hier eine beeindruckende Fotogalerie) geführt hat und das sich wie eine Art "Best-Of" der Herzogschen Bonmots und Anekdoten liest. Darin finden sich auch gute Ratschläge, wie man Filmemacher wird: "Ich sage meinen Studenten: Arbeitet als Türsteher sechs Monate in einem Sexclub. Dann habt ihr das Geld zusammen, um mit fünf Leuten euren Film zu drehen. Und den dreht ihr hier in der Vorstadt. Oder irgendwo draußen. Hauptsache, ihr müsst nicht euer halbes Leben auf irgendein Studio warten." Passend dazu: Herzogs aktueller Dokumentarfilm "Into the Abyss" über einige Todeszelleninsassen in Texas steht derzeit in voller Länge in der Mediathek des ZDF.

Weitere Artikel: Stephan Speicher berichtet von dem Prozess, der klären soll, ob die Bundesrepublik 1983 für 15 Millionen DM ein Bild angekauft hat, das ihr eigentlich schon gehört hat. Karl Bruckmaier schreibt den Nachruf auf den Musiker Julius Schittenhelm.

Die Medienseite ist komplett dem Insolvenzantrag der Frankfurter Rundschau gewidmet. Wenn bis Ende kommenden Januars kein Investor gefunden ist, tritt der schlimmste Fall ein, informieren Caspar Busse und Marc Widmann. Willi Winkler schreibt mit einer Würdigung des Blattes als verlässlich linke Stimme dennoch schon mal einen Quasi-Nachruf.

Besprochen werden neue Jazz-Veröffentlichungen, eine Rubens-Ausstellung im Von-der-Heydt-Museum in Wuppertal, Claus Guths Inszenierung von Debussys "Pelléas et Mélisande" an der Oper Frankfurt, der Science-Fiction-Film "Cloud Atlas" und Bücher, darunter Jonathan Littells "Notizen aus Homs" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 14.11.2012

Hannes Hintermeier schreibt eine große Reportage über Peter Gauweiler, dem er eine ganze Weile auf Schritt und Tritt gefolgt ist. Im Jogginganzug gibt John Irving Jan Wiele im Gespräch Auskunft über seinen neuen Roman "In einer Person", den er nicht als Parodie verstanden wissen will. Patrick Bahners genießt beim eintägigen Boston Book Festival (Website) "zwanglose Konzentration".

Im Quasi-Nachruf auf die insolvente Frankfurter Rundschau muss Peter Körte im Medienteil schwer seufzen: Viel hat das sich wahrscheinlich verabschiedende Blatt mit jenem, für das er acht Jahre lang als Redakteur tätig war, nicht mehr zu tun. Im Politikteil rollt Michael Hanfeld unterdessen die Krankheitsgeschichte des schon lange angeschlagenen Blattes auf.

Besprochen werden Axel Ranischs Low-Budget-Indiefilm "Dicke Mädchen", der laut Bert Rebhandl so aussieht "wie bei Nachbars in der Wohnung mal schnell so hininszeniert", die Ausstellung "Der Architekt" im Münchner Architekturmuseum, Vladimir Rannevs in der Staatlichen Eremitage aufgeführte Oper "Zwei Akte", Alan Bennetts "People" am National Theatre in London (Gina Thomas stöhnt über "pennälerhafte Sex-Witze") und Gert Melvilles Studie über mittelalterliche Klöster (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).