Heute in den Feuilletons

Wie grasende Tiere in der Savanne

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.11.2012. Die Welt ist sich sicher: Niemand singt eine Frauenrolle so glockenklar wie ein guter Countertenor. In der NZZ bekennt Brigitte Kronauer ihre Vorliebe für Unklassisches. Die FAZ hat in Lens gesehen, wie ein Museum ein Ereignis sein kann, ohne zum Event zu werden. Die SZ staunt über den späten Erfolg der Mormonen in den USA. Und für alle Ignoranten der Kinogeschichte: Die Top 250 der imdb in zweieinhalb Minuten.

Welt, 05.11.2012

Manuel Brug feiert eine Aufnahme des "Artaserse" von Leonardo Vinci, einer Oper aus dem 18. Jahrhundert aus dem geheimnisumwitterten römischen (also vatikanischen) Repertoire, in dem ausschließlich Männer sangen - selbstverständlich auch die Frauenrollen. Die Countertenöre erobern sich die damaligen Kastratenrollen: Countertenor Philippe Jaroussky singt den Königssohn, Coutertenor Max Emanuel Cencic seine Mutter, "und auch der jüngste, der glockenklar instrumental klingende Valer Barna-Sabadus, singt als Artaserses Braut Semira einen Frauenpart. Das macht er so hinreißend, ohne jede Anmutung von Charleys Tante, dass man das Geschlecht vergisst und nur seiner einzigartigen Stimme lauscht." Bei Youtube gibt"s ein leider sehr kurzes Werbevideo.

Barna-Sabadus singt hier im "Artaserse", allerdings in der Vertonung von Johann Adolph Hasse:



Weitere Artikel: Uwe Schmitt liest die Memoiren Pete Townsends von The Who. Matthias Heine verfolgte einen Abend der Hommagen auf Christoph Schlingensief in der Akademie der Künste. Richard Kämmerlings berichtet von der Verleihung des Wilhelm-Raabe-Preises an den nicht gerade literaturpreisverwöhnten Christian Kracht, bei der Clemens Setz die Laudatio hielt.

Besprochen werden außerdem ein Konzert der Country-Jazzband Lambchop in Berlin, und "Onkel Wanja" im Wiener Burgtheater

TAZ, 05.11.2012

Christian Werthschulte lässt sich vom gerade durch Deutschland tourenden "Pulphead"-Autor John Jeremiah Sullivan das große Mysterium der amerikanischen Politik erklären: "Wie kann ein Präsident, dessen Wahl nicht nur ein Land, sondern den gesamten Planeten inspiriert hat, so in die Defensive geraten? Das verwundert mich bis heute. Aber, falls er wiedergewählt wird, werden wir ab Mittwoch einen mutigeren und aggressiveren Obama sehen. Er muss die Macht der Konzerne beschränken."

Weiteres: Simone Kaempf berichtet vom ersten Wochenende der neuen HAU-Intendantin Annemie Vanackere, das immerhin vielversprechend begann. Tim Caspar Boehme stellt das neue Album "Until the Quiet Comes" des kalifornischen Produzenten Flying Lotus vor. In der tazzwei blickt Friedrich Küppersbuch auf die Woche mit Google und der FDP zurück.

Und Tom.

NZZ, 05.11.2012

Abgedruckt wird Brigitte Kronauers Zürcher Poetikvorlesung, in der die Hamburger Schriftstellerin ihre Liebe zu Unklassischem bekennt, wie Tiecks "Die sieben Weiber des Blaubart", Victor Hugos "Die Arbeiter des Meeres", Robert Walsers "Jakob von Gunten" oder Hubert Fichtes "Xango": "Diese Werke - und es ist kein Zufall, dass sie alle wenig populär sind - prägt etwas störrisch Originäres, das sich weder nach Jahrzehnten noch, bei den älteren Romanen, nach Jahrhunderten abgenutzt hat."

Weiteres: Roman Bucheli sinniert über die Zauberkraft des Goldes, der aus Künstlern wie Nationalbankern am Ende reine Erbsenzähler mache. Marc Zitzmann stellt den Pariser Kleinverlag Autrement vor. Maria Becker besichtigt die Schau zur Arte povera im Kunstmuseum Basel.

Aus den Blogs, 05.11.2012

(via BoingBoing) Das war Arbeit! Jonathan Keogh hat die Top 250 der Filmdatenbank imdb in einem zweieinhalb Minuten Film zusammengeschnitten. Das Ergebnis ist Rock'nRoll:



Weitere Medien, 05.11.2012

(Via Matthias Rascher) Amerika mag sich zwar im Niedergang befinden (wie der Spiegel zum wohl schon hundertsten Mal titelt), aber man kann da ziemlich schöne Fotos machen. Zum Beispiel in Illinois. Mehr in lovethesepics.com.

Und hier Chris Rocks Special Message for White Voters:


Stichwörter: Der Spiegel, Rock, Chris

FAZ, 05.11.2012

Niklas Maak stellt die geplante Filiale des Louvre in Lens vor, die das japanische Architekturbüro Sanaa gebaut hat, oben, im tristen Norden von Frankreich. Ausnahmsweise soll einmal nicht die Architektur im Vordergrund stehen, sondern die Kunst, die Besucher aus allen Schichten ins einladende Museum locken soll: "Dieses um Verdichtungs- und Auflösungszonen, offene Blickachsen und Inselgruppen herum konstruierte Museum hat keine Säle; es ist, wie schon Sanaas 'Ecole Polytechnique' bei Lausanne, eher eine gebaute Landschaft, in der die Epxonate frei in losen Gruppen stehen wie grasende Tiere in der Savanne. Das unterscheidet es von den Icon-Museumsarchitekturen in Bilbao oder Rom, in denen sich die Kunst ins skulptural einhertobende Gebäude hineinzwängen muss wie eine Familie in einen zu engen Sportwagen". (mehr dazu im Guardian)

Weitere Artikel: Mark Siemons erklärt in der Glosse, warum chinesische Wanderarbeiter die Frage nach dem Glück nicht verstehen. Jordan Mejias erzählt, wie er in Downtown Manhattan den Stromausfall erlebt hat. Gina Thomas berichtet vom Opernfestival im irischen Wexford.

Besprochen werden Matthias Hartmanns Inszenierung von Tschechows "Onkel Wanja" mit Gert Voss im Wiener Akademietheater (eine "große Solo-Partita in Voss-Moll", versichert Gerhard Stadelmaier, der viel gelacht hat), eine Ausstellung von Stefan Wewerka in der Pinakothek der Moderne, zwei Operneinakter von Puccini und Dallapiccola im Teatro Real in Madrid und die Uraufführung von Christoph Heins Stück "Tilla" mit Inge Keller in der Hauptrolle am Deutschen Theater Berlin.

SZ, 05.11.2012

Jörg Häntzschel staunt angesichts der Erfolgsgeschichte der Mormonen, die sich als einst verfolgte und geächtete Sekte zum Vorbild für weite Teile des Mainstreams in den USA mausern konnte: "Die einstigen Loser in billigen Anzügen werden von CIA, FBI und Investmentbanken umworben, weil sie nie Drogen nahmen, beim Missionieren Fremdsprachen gelernt haben und mehr Sitzfleisch haben als Harvardabgänger."

Weitere Artikel: Alexander Menden spricht mit Richard Burdett, der das Londoner Olympiagelände mitkonzipiert hat, über den Umbau der Stadt. Michael Moorstedt erklärt, wie die Online-Kampagnen im US-Wahlkampf soziale Netzwerke nutzen. Ira Mazzoni hat die dritte Tagung zur Provenienzforschung in München besucht.

Besprochen werden neue DVDs, Frank Castorfs Dostojewski-Inszenierung "Die Wirtin" an der Berliner Volksbühne, Andrea Moses' Inszenierung von Christoph Willibald Glucks "Iphigénie in Aulis" an der Oper Stuttgart, ein Bach-Konzert der Berliner Akademie für Alte Musik in München ("atemberaubend virtuos", staunt Kristina Maidt-Zinke), die Ausstellung "R/Evolution auf Papier" in der Pinakothek der Moderne in München, der Film "Vielleicht lieber morgen" und Bücher, darunter Andrzej Stasiuks "Tagebuch, danach geschrieben" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).