Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.12.2006. Im Tagesspiegel porträtiert Kunsthändler Rudolf Zwirner die neuen Sammler. Die FAZ zählt die Opfer des ETA-Terrors und sucht vergeblich nach der Sympathie ihrer Mitbürger. In der taz freut sich die Intendantin des RBB Dagmar Reim auf die Zukunft der ARD: "Demografisch läuft alles auf uns zu." In der FR untersucht der Literaturwissenschaftler Rainer Just die Phantasien der Täter in den Entführungsfällen der Natascha Kampusch und der 13-jährigen Stephanie aus Dresden und kommt zum Ergebnis, dass sie der Normalität näher sind als dieser lieb ist.

Tagesspiegel, 19.12.2006

Die neuen Sammler, die die Kunstpreise in unerhörte Höhen treiben, "gelten nicht nur als wohlhabend, sondern auch als gebildet und kultiviert" behauptet der Kunsthändler Rudolf Zwirner im Interview. Diese neue gebildete Schicht möchte Kunst nicht mehr auf Messen kaufen, sondern bei Events. "Da werden keine Diskurse mehr geführt im Angesicht des Werkes, sondern es geht um den Spaß. Deshalb versucht man Messen mit Partys zu beleben. Diese Käufer sind an der Börse in kurzer Zeit Millionäre geworden und haben ein eher spielerisches Verhältnis zum Geld... Die jungen Reichen beginnen mit Kunst des 21. Jahrhunderts. Für sie macht es wie bei der Börse keinen Sinn, eine Aktie auf dem Höchststand zu kaufen, sie erwerben lieber Aktien von einem jungen Unternehmen, also einem kommenden Maler oder einer bestimmten Richtung. Zum Beispiel die Leipziger Schule - da spielt es keine Rolle, wie gut das Bild ist, denn wenn ich zu den Käufern der ersten Stunde gehöre, selbst wenn es sich später als Makulatur herausstellen sollte, gibt es zunächst eine Preissteigerung. Heute werden sechzig, siebzig Prozent der Kunstkäufe spekulativ getätigt."
Stichwörter: Geld, Leipziger Schule

TAZ, 19.12.2006

Dagmar Reim, Intendantin des RBB, umreißt im Gespräch mit Steffen Grimberg und Hannah Pilarczyk in der tazzwei die Zukunft der ARD recht visionslos, aber gut gelaunt. "Demografisch läuft alles auf uns zu. Aber es wäre ein Trugschluss, sich damit zufriedenzugeben. Wir wollen Gebühren von allen. Das bedeutet: Wir dürfen uns nicht für den sogenannten Best-Ager- oder Silver-Ager-Weg entscheiden. Wir müssen unbedingt jüngere Menschen für unsere Programme gewinnen, allerdings ohne auf Krawall zu setzen. Es wäre ein Todesstoß für das Erste Deutsche Fernsehen, so zu tun, als sei es Viva für Arme."

Im Feuilleton begeht Axel Dossman den vierzigsten Geburtstag der Nachkriegs-Autobahnbrücke über die Saale. Besprechungen widmen sich der von Nina Gühlstorff besorgten Uraufführung von Margareth Obexers Stück "Der Zwilling" im Kleinen Haus in Dresden und einem Konzert von Morrissey in Berlin.

Und Tom.

NZZ, 19.12.2006

Roman Hollenstein macht auf die Bedeutung des Mailänder Architekten Ignazio Gardella aufmerksam, dessen Werk gerade in einer Retrospektive in Genua zu sehen ist. "Den Auftakt macht Alessandria, wo Gardella zwischen 1933 und 1938 mit der luftig transparenten Tuberkuloseklinik einen vom italienischen Rationalismus und von der internationalen Moderne gleichermassen geprägten Vorzeigebau schuf. Nach dem Krieg verdichtete er die dort erworbenen Kenntnisse im Mailänder Padiglione d'Arte Contemporanea (PAC) zu einem wegweisenden Ausstellungsbau, der noch in Pianos Beyeler-Museum nachklingt. Geradlinig war Gardellas Schaffen nie: So entstand 1952 - zeitgleich mit dem PAK - in Alessandria die Casa Borsalino, ein achtgeschossiges, kubistisch gebrochenes Mehrfamilienhaus, das mit seinen Ziegelmauern, Fensterläden und vorspringenden Dachkonstruktionen als Manifest des antimonumentalen Neorealismus über Jose Antonio Coderch die spanische Architektur beeinflusste und gleichsam Entwurfsideen unserer Zeit vorwegnahm."

In einer Meldung aus dem Ticker ist zu erfahren, dass die gestrige Aufführung von Mozarts "Idomeneo" an der Deutschen Oper Berlin ohne Zwischenfälle verlief.

Weiteres: Matthias Böhni spricht mit dem italienischen Autor und Germanisten Claudio Magris über dessen neues Buch "Alla cieca", die Sterilität von Triest und natürlich Berlusconi. Besprochen werden Cisco Aznars Version des Ballettklassikers "Coppelia" in Genf, die "sehr respektable" Parallelaufführung von Mozarts "Zaide" und Chaya Czernowins Ergänzung "Adama" in Basel, und Romane, unter anderem von Ismail Kadare, von David Adams Richards und von Nobert Zähringer (mehr in unserer Bücherschau des Tages).

FAZ, 19.12.2006

Rund 200.000 Menschen mussten wegen Verfolgung durch die ETA das Baskenland verlassen, berichtet Paul Ingendaay. Während die ETA inzwischen von der spanischen Regierung als Verhandlungspartner anerkannt wird, gehört den Opfern keineswegs die Sympathie ihrer Mitbürger, nicht einmal den Angehörigen der Mordopfer: "Es gibt einen fatalistischen Zug in der spanischen Mentalität, der auf langes Ducken vor Autoritäten zurückgeht (...) Musste die Tat nicht als Beweis dafür genommen werden, dass es Gründe für sie gab? Also war man gut beraten, sich herauszuhalten und mit den Angehörigen des Mordopfers nicht auffällig zu sympathisieren. Auf diese Reaktion, halb Feigheit, halb dumpfes Bewusstsein der Stallzugehörigkeit, zählte Eta besonders in abgelegenen Dörfern, in denen der politische Arm der Organisation, die Batasuna-Partei, zahlreiche Gemeinderäte und oft auch den Bürgermeister stellte. Irgendwann räumten die Angehörigen der Opfer freiwillig das Feld."

Weitere Artikel: Jügen Kaube unterhält sich für den Aufmacher mit dem Steuerrechtler Paul Kirchhof über sein neuestes Buch "Das Gesetz der Hydra - Gebt den Bürgern ihren Staat zurück!" Rose-Maria Gropp glossiert neue Unklarheiten im Verhältnis zwischen dem Land Baden-Württemberg und dem Haus Baden. Heinrich Wefing freut sich über die Schenkung einer weiteren Skulptur (ein Giacometti) durch den Sammler Heinz Berggruen an die Stadt Berlin und mag Gerüchte über einen Rückzug Berggruens aus der Öffentlichkeit nicht ganz ernst nehmen. Gustav Falke lauschte einem Vortrag des Islamologen Stefan Wild über den Begriff des Dschihad vor der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Martin Kämpchen verfolgte ein deutsch-indisches Filmfestival in Bangalore.

Auf der Medienseite geht Peer Schader dubiosen wirtschaftlichen Verflechtungen von Tochterunternehmen des ZDF nach. Und Dietmar Dath kommt nach ausführlichen Reminiszenzen an seine Spex-Zeit auf den Umstand zu sprechen, dass die Zeitschrift mit Max Dax einen neuen Chefredakteur hat. Michael Hanfeld meldet außerdem, dass sich der Spiegel-Redakteur und Chef des Hauptstadt-Büros Gabor Steingart für die Führung der Mitarbeiter-KG bewirbt, die 50,5 Prozent der Anteile am Spiegel hält.

Für die letzte Seite porträtiert Eberhard Rathgeb die Autorin Karen Duve, die mit zwei Kinderbüchern über Weihnachten Erfolge feiert. Katja Riedel stellt das "AgeManagement"-Konzept des finnischen Arbeitsmediziners Juhani Ilmarinen vor, das es Arbeitnehmern erlauben soll, länger zu arbeiten. Und Melanie Mühl porträtiert die Filmausstatterin Silke Buhr, die für ihre Arbeit am Film "Das Leben der anderen" einen europäischen Filmpreis erhielt.

Besprochen werden Horvaths "Kleiner Totentanz" an den Münchner Kammerspielen, eine Pariser Ausstellung über die Kunst von Walt Disney und Massenets "Werther" und Lortzings "Undine" in München.

FR, 19.12.2006

Der Literaturwissenschaftler Rainer Just untersucht die Phantasien der Täter in den Entführungsfällen der Natascha Kampusch und der 13-jährigen Stephanie aus Dresden und kommt zu dem Ergebnis, dass sie der Normalität näher sind als dieser lieb ist: "Es genügt nicht zu zeigen, dass auch ein Gewaltverbrecher 'normale' Gefühle hat, man muss auch sehen, wie wahnsinnig und gewalttätig die 'Norm' selbst in ihrem harten Kern ist oder zumindest sein kann. Der ganz alltägliche Hardcore eben. Denn wenn im brutalsten Sadisten ein Romantiker steckt, dann gilt auch der Umkehrschluss, dass im romantischen Ideal der Liebe stets das Gesetz eines sublimen Sadismus herrscht, dessen ideologischen Schlüsselbegriffe Besitz, Exklusion und Permanenz lauten."

Weitere Artikel: Tilmann P. Gangloff unterhält sich mit der heute neunzigjährigen Demoskopin Elisabeth Noelle-Neumann. Harry Nutt untersucht die Soziologie der Getränkeaufnahme in Berlin. Besprochen werden ein "Nussknacker" des jungen Choreografen Marco Goecke, getanzt vom Stuttgarter Ballett, Ibsens "Hedda Gabler" in Hannover und regionale Kulturereignisse.

Welt, 19.12.2006

Im Medienteil kolportiert Gesche Wüpper, dass in Frankreich die recht engen Beziehungen von Politikern und Journalistinnen diskutiert werden. Im Feuilleton rekapituliert Berthold Seewald noch einmal die vermeintlich erste Volkszählung der Welt, nach Schätzung der Historiker vor genau 2000 Jahren im vorweihnachtlichen Judäa. Ulf Poschardt würdigt den vor 50 Jahren beim Spazierengehen tödlich gestürzten Robert Walser als "originellste Gestalt der orthodoxen Moderne".

Besprochen werden eine Schau mit Kunst aus der kambodschanischen Tempelstadt Angkor Wat in der Bundeskunsthalle Bonn, eine Ausstellung mit 663 Plastiken wie Skulpturen aus dem 20. Jahrhundert im Wilhelm-Lehmbruck-Museum in Duisburg und Lee Hazlewoods Album "Cake or Death".

SZ, 19.12.2006

Manfred Schwarz besucht Luxemburg, Kulturhauptstadt Europas 2007. Die All Saints ärgern sich im Interview, dass sie immer wieder mit gecasteten Bands in einen Topf geworfen werden, nur "weil wir vier Sängerinnen in einer Gruppe sind". Jörg Später resümiert das Jenaer Historikertreffen, auf dem über die deutsche Holocaust-Forschung gestritten wurde (mehr in der taz von gestern). Alexander Kissler annonciert einen Erlass von Benedikt XVI., mit dem die Beschränkungen für die alte, lateinische Messe aufgehoben werden sollen. Unterstützung erhielt dieses Vorhaben schon von 52 französischen Autoren, die im Figaro eine "Freigabe der Gregorianischen Messe" gefordert und sich damit gegen die französische Bischofskonferenz gestellt hatten, die an der Liturgiereform des Vatikanischen Konzils von 1963 festhalten möchte.

Besprochen werden die Inszenierung von Lortzings "Undine" durch Claudia Doderer in München, eine Ausstellung mit Fotografien von Dirk Reinartz in der Bochumer Galerie m, Stephan Kimmigs "brillante" Inszenerierung von Horvaths "Glaube Liebe Hoffnung" an den Münchner Kammerspielen, der Dokumentarfilm "American Hardcore" und Bücher, darunter eine Novelle und ein Gedichtband von Sascha Anderson (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).