Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.03.2003. In der SZ stellt Boris Groys die Stalin-Zeit als grausamen Karneval dar. Die FR fragt, warum die DDR erstmals in ihrer Karriere als cool erscheint. Die NZZ schildert schwere Konflikte zwischen Basel und Genf - es geht ums Buch. Die FAZ versucht den Erfolg der laizistischen Shinuy-Partei in Israel zu erklären.

FR, 05.03.2003

Ein furchtbar trauriges Statement über Stalins Aktualität lesen wir von dem Historiker Jurij Nikolajewitsch Afanasjew, der sich von Florian Hassel zum 50. Todestag des Diktators interviewen lässt: "Stalins Schatten ist lang. Hätten wir Stalin verarbeitet oder gar überwunden, hätten wir nie den Krieg in Tschetschenien angefangen, bei dem wir wie zu Stalins Zeiten unsere eigenen Mitbürger vernichten."

In einem Gespräch über Amerika, Europa und den Krieg erklärt Dan Diner ("Feindbild Amerika") den Unterschied zwischen den USA und dem Rest der Welt im Gespräch so: "Es ist eine falsche Wahrnehmung, die USA als anderen Staat zu sehen. Amerika ist eine andere Welt. Amerika und der Rest der Welt - das sind zwei völlig verschiedene Elemente. Den Rest der Welt würde ich bezeichnen als unterschiedliche Traditionsgesellschaften, also historisch gewachsene Gesellschaften, während Amerika, wenn man so will, eine Kopfgeburt der Aufklärung ist. Amerika ist mehr Zeit, als dass es Ort ist, und Europa ist mehr Ort, als dass es Zeit ist. Und weil Amerika viel mehr ein Prinzip ist als ein Ort, ist Amerika auch überall."

Eine Million Zuschauer haben inzwischen Wolfgang Beckers "Good Bye, Lenin!" gesehen. Nachdem er Scharen von West-Bankern in FDJ-Blauhemden ins Kino marschieren gesehen hat, schwant Mathias Wedel, weshalb der Film so erfolgreich ist: "Die Zone ist cool. Der Westen legt sich eine kuschelige Diktatur des Proletariats zurecht. Dort waren die Menschen stets lieb zueinander und trieben allerlei harmlosen Schabernack. Der Westen erfindet sich seine DDR neu - schöner, als sie war, denn wozu sie sonst erfinden? Der 'liebevolle Blick' auf die Ossis ist Phase Nummer drei der mentalen Wiedervereinigung - nach politischem Generalverdacht, Gehirnwäsche und sozialer Degradierung."

Weitere Artikel: Jens Roselt verabschiedet sich in "Times Mager" von Produkten "Made in USA" und will statt Calvin Klein und Tommy Hilfiger Schiesser-Feinripp aus Radolfzell tragen. Daniel Kothenschulte schreibt einen Nachruf auf den "Rebellen des Adenauerkinos", Horst Buchholz. Christian Schlüter berichtet von einer Hamburger Tagung zu der Frage, ob der Kalte Krieg ein Krieg war. Mithu Sanyal erzählt, wie Nora Guthrie das Erbe ihres Vaters Woody verwaltet.

Besprochen werden die Gregor-Schneider-Ausstellung in der Hamburger Kunsthalle und Bücher, darunter die Erzählungen von Judith Hermann und Felicitas Hoppe als Hörbücher sowie die von Cornelius Hell herausgegebenen Erzählungen aus Litauen "Meldung über Gespenster" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 05.03.2003

Heute vor fünfzig Jahren starb Stalin, der die Künste liebte und die Schriftsteller erschießen ließ. Der russische Philosoph Boris Groys sagt in einem Gespräch mit Sonja Zekri über das Verhältnis der Literaten zu Stalin: "Viele hofften, Stalin zu beeinflussen. Mandelstam (mehr hier) hat zwei, drei Gedichte für ihn geschrieben, Pasternak (mehr hier) hat sich direkt an ihn gewandt. Diese Tradition reicht zurück bis zu Puschkin (mehr hier) und Nikolaus I. Es geht um das Verhältnis von Poet und Herrschaft, um Konkurrenz und Komplizenschaft. Viele Künstler wollten im Stalinismus daran anknüpfen. Bachtins Buch über den Karneval beschreibt ziemlich präzise die Bacchanale der dreißiger Jahre, den jähen Wechsel zwischen Aufstieg und Untergang. Bulgakows 'Meister und Margarita' ist ebenfalls karnevalistisch. Die Stalinzeit war ein grausamer und fröhlicher Karneval, dem niemand entgehen konnte." Ob das nun Hybris einer Kunst war, die glaubte, mitgestalten zu können, oder nicht - "immerhin", so Groys, "hatten sie ein gesellschaftliches Ideal. Wir, die Repräsentanten der post-Stalinschen inoffiziellen Kultur waren sozial passiv. Als es möglich geworden war, zu intervenieren, Anfang der neunziger Jahre, sind viele einfach nur ausgewandert."

An den Tod des "Ungeheurs", "Antichristen", "Piraten" und der "Schlange" erinnern sich außerdem Anatolij Pristawkin, Wladyslaw Bartoszewski, Fasil Iskander, Wladimir Woinowitsch, Wolfgang Leonhard, Ilja Kabakow, Viktor Jerofejew und Stanislaw Lem. Und Thomas Urban gibt einen Überblick über Stalins Willkür gegenüber den russischen Literaten, denen nur die Wahl zwischen "Apotheose oder Arbeitslager" blieb.

Und dann ist einer heute vor 50 Jahren gestorben, mit dem sich die Welt noch schwerer tut, meint Reinhard J. Brembeck. "Mit Sicherheit ironisch zu verstehen ist Prokofjews Todesdatum, der 5.März 1953: An diesem Tag starb auch Stalin. Dieser Zufall hätte dem Komponisten wohl gefallen, er wäre in jenes meckernde Gelächter ausgebrochen, das aus seinen Werken heraus den Hörer noch immer unvorbereitet trifft und ihn verunsichert - zumindest über die Haltung des Komponisten." (Sehr viel mehr über Prokofjew hier)

Thomas Steinfeld kommentiert das gescheiterte Bündnis für Arbeit, mit dem auch die Politik der neuen Mitte ihr Ende findet, in der jeder einen warmen Platz finden und alle gleichzeitig gewinnen sollten. "Gegenwärtig aber scheinen alle zur gleichen Zeit eher zu verlieren, und der 'Konsens' ist etwas Lästiges geworden. Stattdessen wird nun das Gegenteil von Konsens, nämlich der Konflikt, durchaus als attraktivere Variante des gesellschaftlichen Lebens behandelt. Nicht Dialog steht mehr auf dem Programm, nicht Ausgleich der Interessen, sondern der Kampf."

Weitere Artikel: Tim B. Müller erkennt in Leo Strauss den Vater der amerikanischen Neokonservativen. Rainer Erlinger erinnert zum Aschermittwoch daran, dass wir nur Staub sind. Fritz Göttler liefert den Nachruf auf Horst Buchholz. Und aus der Liberation zitiert die SZ Claude Chabrol, der sich die politische Klasse Frankreichs vorgeknöpft hat: "Jean-Pierre Raffarin versetzt mich in Entzücken, der gefällt mir am besten unter den neuen Politikern. Was mich dabei interessiert, ist, an welchem Punkt er das Niveau seiner Kompetenz überschritten hat. Man fragt sich, wann die Wahrheit herausplatzen wird ... Ich gebe ihm ein Jahr." Reinhard Schulz stellt die litauische Komponistin Onute Narbutaites vor, die "Prophetin radikaler Klaheit".

Auf der Medien-Seite berichtet Heiko Flottau, wie sich Saddam Hussein an den westlichen Journalisten in Bagdad eine goldene Nase verdient.

Besprochen werden Steven Soderberghs "wunderbarer" Film "Solaris", neue Aufnahmen des Zehetmair-Quartetts, des Keller Quartetts, des kanadischen Pianisten Marc-Andre Hamelin und von Barenboim. Außerdem hat die SZ eine erste Bestenliste klassischer CDs zusammengestellt.

Und Bücher, vor allem zum Irak-Konflikt: Sandra Mackeys "The Reckoning. Iraq and the Legacy of Saddam Hussein", David Frums "The Right Man", Scott Ritters "Krieg gegen den Irak" sowie Hans von Sponecks "Irak, Chronik eines gewollten Krieges" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 05.03.2003

"Eigentlich hätte Russland heute Anlass, sich aus wirklich gutem Grund hemmungslos zu betrinken. Es ist geschafft - ein halbes Jahrhundert ohne Diktator!" Aber Russland bleibe geradezu erschreckend nüchtern, bemerkt Klaus Helge Donath, was vielleicht daran liege, dass Bürokratie und Elite an einem "entschärften Stalinbild" werkeln. "Stalin, der Konsolidator des Sowjetimperiums, Sieger im Vaterländischen Krieg, Hitler-Bezwinger und Gosudar - also Staatenschöpfer und Lenker. Als Peter I. starb, war Russlands Bevölkerung um ein Fünftel dezimiert und die Staatskasse geplündert. Heute verehrt Russland Peter den Großen wie keinen anderen Gosudar. Stalins Nachruhm könnte eines Tages ähnlich aussehen. Voraussetzung indes: Es gelingt, ihn vom marxistisch-kommunistischen Makel zu befreien."

Katrin Bettina Müller berichtet, wie die Theater von Wismar und Magdeburg mit Bustouren, Nachtcafes und Sonntagsfrühstück um Geld und Publikum kämpfen. Tobias Rapp erzählt in der Kolumne "letzte ausfahrt brooklyn" vom tristen New Yorker Nachtleben. In den Clubs darf nämlich nicht mehr getanzt werden. Auf der Meinungsseite genießt Michael Rutschky die Vorzüge der neuen Sparkultur.

Besprochen werden die Ausstellung "Painting Pictures" im Kunstmuseum Wolfsburg, Janet Cardiffs und Georges Burges Millers Installation "The Berlin File" im Frankfurter Portikus und Franck Pavloffs Büchlein über Rechtsextremismus "Brauner Morgen" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Und schließlich Tom.

NZZ, 05.03.2003

In Deutschland streiten sich Frankfurt und München, in der Schweiz Basel und Genf - in Genf findet Ende April die traditionsreiche Buchmesse statt. Aber auch in Basel wird in diesem Jahr genau zeitgleich eine Buchmesse organisiert. Nun ist der Ärger groß, berichtet Felix Lautenschlager: "Für dieses Jahr haben sich in Basel über 200 Aussteller angemeldet, darunter aber weder Suhrkamp noch Hanser oder S. Fischer. Gleichzeitig bemüht sich Matthyas Jenny, Initiator der Basler Buchmesse, Autoren für sein Literaturfestival zu verpflichten, Namen will er aber noch keine nennen." Für die kommenden Jahre sucht die Schweiz nach einem historischen Kompromiss - zum Beispiel, indem man die Buchmesse alternierend in Genf und Basel abhält.

Weitere Artikel: Jörg Huber stellt die in Paris lebende finnische Komponistin Kaija Saariaho vor, deren Werke in einer ganzen Reihe von CDs präsentiert werden. Ursula Seibold-Bultmann besucht das Otto-Dix-Haus in Gera, der Geburtsstadt des Malers. Peter W. Jansen schreibt den Nachruf auf Horst Buchholz. Felix Philipp Ingold bespricht das bisher nur auf englisch erschienene (aber hoffentlich bald bei Beck, Siedler oder Propyläen übersetzte) Buch "Natasha's Dance" (Auszug) von Orlando Figes, eine monumentale Kulturgeschichte Russlands.

Besprochen werden außerdem die Oper "Perela" von Pascal Dusapin in Paris, Alexander Paynes Film "About Schmidt" mit Jack Nicholson und einige Bücher, darunter ein Fotoband zu Thomas Bernhard und der neue Wahrig.

FAZ, 05.03.2003

Gadi Taub versucht, den Erfolg der antireligiösen Shinuy-Partei in Israel zu erklären. Es hat mit den ultrareligiösen Männern zu tun, die durch ihre Befreiung vom Wehrdienst Neid und Hass in der israelischen Gesellschaft auslösen. Befreit wird offiziell, wer den ganzen Tag die Bibel studiert. "Ursprünglich sollten davon ein paar hundert Männer betroffen sein, aber die Entscheidung führte dazu, dass heute fast alle Männer aus dieser Gruppe dienstbefreit sind. Da das Gesetz 'Vollzeitstudium' vorschreibt, kann die große Mehrheit der ultraorthodoxen Männer nicht arbeiten. Ökonomisch dauerhaft unterversorgt und daher häufig von Sozialleistungen abhängig, gelten die Ultraorthodoxen so als Leute, welche die Hand beißen, die sie ernährt."

Weitere Artikel: Gerhard R. Koch fragt in einem Artikel zum 50. Todestag Stalins, warum der Schrecken nicht totzukriegen ist. Der Kunstsammler Werner Berggruen erzählt in einer der Schnurren aus seinem Leben, die er gern in der FAZ platziert, wie er einmal in der Concorde drei Stunden mit Charles Aznavour verbrachte, der aber keine Lust hatte, mit ihm zu plaudern. Michael Althen schreibt zum Tod von Horst Buchholz. Hanns Zischler erzählt die Geschichte der jüngst aufgefundenen Kafka-Briefe, die jetzt versteigert werden. Eva Fitz vom Corpus Vitrearum Medii Aevi an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften fragt, ob die von den Russen aus den Beutekunstschätzen zurückgegebenen Glasfenster der Marienkirche in Frankfurt an der Oder antijüdische Motive enthalten. Dirk Schümer erklärt, warum die junge Belgierin Soetkin Collier nicht am Grand Prix d'Eurovision teilnehmen darf (sie verkehrte in ihrer Jugend in rechtsextremen Kreisen). Kerstin Holm meldet die Freischaltung einer russischen Internetadresse, in der russische Kunstverluste im Zweiten Weltkrieg sowie erbeutete Kunstwerke verzeichnet sein sollen. Jordan Mejias meldet, dass Oprah Winfrey in ihrer Talkshow künftig fünfmal im Jahr Klassiker wie Faulkner und Hemingway vorstellen will.

Auf der letzten Seite fragt sich Cord Riechelmann, wo die riesigen Schwärme Berliner Nebelkrähen nisten, seit sie im Tiergarten nicht mehr aufzufinden sind. Robert von Lucius meldet die Wiedereröffnung des Intimen Theaters in Stockholm, wo viele Strindberg-Stücke uraufgeführt wurden - so auch diesmal das erste Jugendstück des Autors, der "Freidenker". Auf der Medienseite unterhält sich Michael Hanfeld mit Thomas Osterkorn und Andreas Petzold, den Chefredakteuren des Stern.

Besprochen werden das Spektakel "Les Adieux" in den Hamburger Kammerspielen, mit dem sich der Intendant Ulrich Waller verabschiedet, das Zappa-Spektakel "Strings of Fire" in Leipzig und Choreografien von Steve Lacy, Charles Atlas und Douglas Dunn in Paris.