Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.08.2002. Die Feuilletons sind sich einig: Nun hat sich die Stadt Frankfurt, die ihren berühmten Choreografen William Forsythe ziehen lässt, kulturpolitisch endgültig blamiert. Außerdem: In der taz findet Claus Leggewie die "Bewegungslinke" etabliert. Die NZZ befasst sich mit der Wiederkehr der englischen Nationalflagge. In der SZ warnt Bill Emmott vom Economist vor Antiamerikanismus.

FAZ, 28.08.2002

Drei Artikel schildern die Misere der Frankfurter Kulturpolitik, die überhaupt nur nur noch aus Sparen Sparen Sparen zu bestehen scheint. Gerhard Rohde benennt die Konsequenzen: "Die Schließung des TAT immerhin wäre vertretbar: Schauspiel und Mousonturm bieten teilweise vergleichbare Konzepte. Die Städel-Schule nach dem Vorbild der Musikhochschule in die Obhut des Landes zu geben, hätte Sinn. Grotesk jedoch ist Nordhoffs Ansinnen, den Etat des Balletts von 2004 an um bis zu 80 Prozent zu kürzen. Für den Tanz in Frankfurt bedeutete dies, ob mit oder ohne Forsythe, das Ende. Die Entscheidung, etwa die Oper pfleglich zu behandeln, ist prinzipiell richtig. Das Ballett aufzugeben, entspringt indes einem allzu konservativen Kulturbegriff, womöglich auch purem Ressentiment."

In einem zweiten Artikel geht Julia Spinola näher auf die Lage beim Ballett ein - Frankfurt hat William Forsythe, einen der renommiertesten Choreografen überhaupt, wohl endgültig verloren. Und Michael Hierholzer porträtiert den zuständigen Kulturdzenernenten Hans-Bernhard Nordhoff, "einen Sozialdemokraten wie aus dem Bilderbuch der frühen Siebziger, sozial versiert, von Haus aus Biologe, mit einem kulturellen Hobby - an entlegenster Stelle publiziert er eigene Verse. Kaum ein Politiker trägt noch so selbstbewusst Bart (Bild) wie er."

Weitere Artikel: Jörg Albrecht liefert erste Impressionen aus Johannesburg, wo der Nachhaltigkeitsgipfel stattfinde ("In Stadtteilen wie Alexandra, Diepsloot oder Zevenfontein heizt man im Winter mit billiger, schwefelhaltiger Kohle; das weht bis ins benachbarte Sandton, das Tagungszentrum des World Summit on Sustainable Development.") Christian Schwägerl hat einer Tagung über Artenschutz zugehört, die Deprimierendes über Naturvernichtung in Asien und Afrika zu Tage föderte. Ilona Lehnart sieht die Kulturstiftungen nach der Flut zum Nothelfer werden. In der Reihe der Schriftstellerantworten auf Hofmannsthals Chandos-Brief meldet sich Harry Rowohlt mit einem sehr kurzen Beitrag zu Wort.

Auf der letzten Seite untersucht Christian Geyer die Äußerung Jürgen Trittins, wonach die deutsche Delegation CO2-frei nach Johannesburg fliegt und fühlt sich "vergackeiert". Und Jordan Mejias wohnte auf der Eastover Farm in Connecticut einer Tagung von Spitzenkräften der Dritten Kultur bei, die über das Ende des Universums, Quantencomputer und ähnliche Kleinigkeiten spekulierten. Auf der Medienseite erfahren wir von Andreas Kilb, dass das Leben des Freiherren von der Trenck zum wiederholten Male fürs deutsche Fernsehen verfilmt wird. Ferner berichtet Joseph Croitoru, dass die israelische Regierung immer mehr Einfluss auf die Berichterstattung der staatlichen Medien nimmt.

Besprochen werden eine Ausstellung über Kaiser Maximilian I. (Bild), den Gründer des Reichskammergerichts in Wetzlar, der Film "Wahnsinnig verliebt" (mehr hier) mit Audrey Tautou (bekannt aus "Amelie") von Laetitia Colombani, die Sammel-Ausstellung "Zipp" im Kasseler Kunstverein parallel zur Documenta stattfindet und eine Ausstellung über den Renaissance-Kupferstecher Heinrich Aldegrever in Münster.

FR, 28.08.2002

Der Mann vor dem mentalen Crash? Die Mädchen haben die Jungen in Punkto Lebensrealisierung abgehängt, lautet ein Befund der neuen Shell-Jugend-Studie, den Frank Keil verwundert hin- und herwendet. Um schließlich festzustellen, dass die "patriarchale Dividende, also jenes ... Phänomen, dass noch der sozial weit abgeschlagene Mann vom öffentlichen Status des Mannes profitiert", zwar ausgesetzt wird, was dem Manne naturgemäß mächtig Angst macht, dass die Krise der Jungen jedoch auch "wortwörtlich hausgemacht" ist. Während des Heranwachsens eines Jungen, so Keil, blieben Männer meist Mangelware. "Es ist eine Binsenweisheit, dass Jungen für ihren Reifungsprozess Männer als Gegenüber, als Spiegelfläche wie als Messstation benötigen ... dass die alleinige Zuständigkeit der Frauen für die Gestaltung der ersten Lebensphasen von Jungen so ihre Schattenseiten hat..." Tatsächlich, ein ganz und gar jungenhaftes Argument.

William Forsythe geht. Und die Blamage für Frankfurt wird unsterblich sein, meint Daland Segler, der allerdings auch die Folgerichtigkeit innerhalb der Frankfurter Kulturpolitik erkennt: "Wie sie in den seligen siebziger und achtziger Jahren mit dem Museumsufer als werbewirksamer Attraktion die Nase vorn hatten im touristischen Konkurrenzkampf der Städte, wie sie Anfang der neunziger Jahre dann mit radikalen Einschnitten ihre Kulturinstitute schon früh der Erosion überließen, so machen sie nun vor, wie man zurückkehrt ins Biedermeier. Wenigstens in der Kulturpolitik ist Frankfurt Avantgarde."

Bernhard Honnigfort zieht eine Bilanz der Schäden an Dresdner Kultureinrichtungen (ca. 90 Mio. Euro!). "Times mager" verwahrt sich eine Spur zu verbissen gegen der Vorwurf, die Deutschen seien diszipliniert. Yvonne Strecke berichtet von der Prämierung deutschsprachiger Hochschulfilme, den "First Steps Awards" in Berlin. Anton Thuswaldner war auf dem 24. Jazzfestival in Saalfelden, und Peter Michalzik lauschte Hans-Peter Litscher, der im Frankfurter Mousonturm seine Lügengeschichten weiter erzählte.

Besprechungen widmen sich Laetitia Colombanis Mädchenfantasie "Wahnsinnig verliebt" und einer Ausstellung mit Arbeiten der Salamikleid-Künstlerin Jana Sterbak im Münchner Haus der Kunst.

TAZ, 28.08.2002

Was die sogenannte "Bewegungslinke" (die außerparlamentarischen Globalisierungskritiker), die sich enttäuscht von der "Regierungslinken", den Mitte-links-Regierungen, abgewandt hat, mit dieser dennoch gemein hat, erklärt uns der Politikwissenschaftler Claus Leggewie in einem Fußnoten-starrenden Tagesthemen-Beitrag. Mit deutlichem Blick auf ein am 22. September wichtiges Wählerpotential erklärt Leggewie, die Themen der "alten" und "neuen" neuen sozialen Bewegungen seien weitgehend identisch; neu sei nur, dass sie heute den nationalstaatlichen Politikrahmen sprengten und stärker unter ressortübergreifenden Ansätzen wie "Nachhaltigkeit" verfolgt würden. Beide Seiten argumentierten, man müsse jenseits der unmittelbaren Gefahrenabwehr dem Terrorismus den "Nährboden entziehen" und dazu eine entsprechende Außen- und Entwicklungspolitik auflegen, und beide befürworten statt einseitiger Maßnahmen der USA gegen die "Achse des Bösen" eine Friedenskonferenz im Mittleren Osten nach dem Vorbild der KSZE. "Sieht man von den 'Autonomen' ab, gehört die Bewegungslinke in Gestalt eines ausgefächerten Netzwerkes internationaler NGOs heute insgesamt weit stärker zum politischen Establishment, als dies für die außerparlamentarischen Oppositionen der Jahre 1965-1985 galt."

In der Kultur schlendern wir mit Detlef Kuhlbrodt von Soundsystem zu Soundsystem - auf dem Notting Hill Carnival (mehr hier) in London, der größten und traditionsreichsten Street Parade Europas, besuchen mit Fritz von Klinggräf das Kunstfest Weimar (mehr hier) und legen mit DJ Hans Nieswandt bei einer Hochzeit auf. Besprochen wird natürlich auch: Nicholas Evans' Roman "Feuerspringer" mit einem US-Feuerwehrmann als Helden sowie das "Der Affe und der Sushimeister" betitelte Buch des Verhaltensforschers Frans de Waal, der uns zeigt, dass auch Tiere Kultur haben (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Genau wie TOM.

NZZ, 28.08.2002

Bye bye, Union Jack, bye bye Multikulti? Mit der Wiedergeburt der englischen Nationalflagge - das rote Kreuz auf weißem Grund - beschäftigt sich Georges Waser. Ursprünglich von Hooligans und Ewiggestrigen wiederbelebt, ist das Georgskreuz jetzt salon- und mehrheitsfähig geworden (dazu: ein Artikel im englischen Guardian) und damit auch die Frage: Was ist englisch? Einen Rechtsruck befürchtet Waser aber deshalb nicht: Schon die Georgsflagge selbst kommt nämlich gar nicht mehr aus altenglischem Hause: "Sämtliche Flaggen lieferte ein einziger Unternehmer, ein Mr. Akhtar aus dem Londoner East End. Eine stattliche Flotte von zwölf Lastwagen diente ihm zur Promotion des Heiligen, und binnen nur zwei Monaten bescherte das Georgskreuz als neuer Identitätsausweis der Engländer dem exzellenten Akhtar einen Umsatz von sechs Millionen Pfund."

Weitere Artikel: Werner Weber rät anlässlich des Goethe-Geburtstages, Gegenwärtiges am Vergangenen zu prüfen, während Barbara von Reibnitz in den aktuellen Ausgaben der gesellschaftspolitischen Zeitschriften "Vorgänge" (mehr hier) und "Mittelweg" (mehr hier) geblättert hat.

Besprochen werden der Film "A la folie ... pas du tout", in dem Audrey Tatou dem Liebeswahn verfällt, eine Ausstellung auf Schloss Achberg, in der sechs Künstler Skulpturen aus Holz präsentieren, und Bücher, darunter Michael Sukales Max-Weber-Biografie, Veronique Tadjos afrikanische Liebesgeschichte: "Hinter uns der Regen", Leander Scholz' Roman "Windbraut" und Peter de Mendelssohns 1930 erstmals erschienenr Boheme-Roman "Fertig mit Berlin?" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 28.08.2002

Die Ungerechtigkeit und Gefahr instinktiver Kritik an Amerika setzt uns der Herausgeber des britischen Wochenmagazins Economist, Bill Emmott auseinander. Unfair ist eine solche Schelte, wie sie Europa jetzt verstärkt äußert, laut Emmott, "weil das amerikanische Verhalten seit dem 11. September von Zurückhaltung, Geduld und Zielsicherheit geprägt war. Die von den Kritikern erwarteten rücksichtslosen, arroganten, machtberauschten Reaktionen erfolgten nicht. Ungeachtet der Streitereien um dieses Thema hat Amerika auch in Bezug auf den Irak nicht ungestüm gehandelt." Gefährlich ist sie, "weil eine uneinige westliche Allianz all jene ermutigt, die die Welt terrorisieren und ihre eigene Macht anderen aufzwingen wollen".

In einem anderen Artikel bedauert "tost" die neue Neigung des großen Marcel Reich-Ranicki, Literaten wie Martin Walser und Kollegen wie Joachim Kaiser zu pathologisieren. "Wir wollen nicht daran erinnern, dass die Pathologisierung der Abweichler zu den beliebtesten Instrumenten sowohl der nationalsozialistischen wie der stalinistischen Kulturpolitik gehörte. Wir wollen nur sagen, dass es bislang nicht zum guten Ton gehörte, das grelle Licht der Öffentlichkeit auf die Hinfälligkeit älterer Menschen zu lenken - und auch nicht, älteren, aber gesunden Menschen Gebrechen anzuhängen, die sie gar nicht haben. Es ist ein unwürdiges Schauspiel, wenn ein Greis einen fast gleichalten Kollegen als Kranken beschimpft."

Weitere Artikel: Alex Rühle betrachtet die documenta von einem Kasseler Campingplatz aus. Reinhard J. Brembeck berichtet, dass Mariss Jansons neuer Chef der br-Symphoniker wird. V. A. zeigt sich zerknirscht über Frankfurts Kulturklima, das nun sogar William Forsythe vertrieben hat. Noe Noack liefert eine kurze Geschichte der jamaikanischen Musik von Reggae bis Ska. Christian Seidl besucht das Reading-Festival u.a. mit The Prodigy, Muse und The Vines. Karl Bruckmaier stellt die kauzige und spätpsychedelische Rockmusik der Flaming Lips vor (homepage), und überhaupt wird jede Menge Musik besprochen, vom elektro-akustischen Improvisationsquartett SSSD ("Home") bis Robert Pollard ("Universal Truths and Cycles").

Außerdem besprochen werden Laetitia Colombanis Kinofilm "Wahnsinnig verliebt" mit Audrey Tautou (die auch im Interview zu erleben ist), Reinhold Mißelbecks biografisches Handbuch der Fotografie von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, ein Buch über "Hegels Philosophie des subjektiven Geistes" sowie Marcel Reich-Ranickis Sammelband "Sieben Wegbereiter" mit Aufsätzen und Reden aus 25 Jahren (auch in unserer Bücherschau um 14 Uhr).