Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.06.2001.

TAZ, 30.06.2001

Diedrich Diedrichsen beginnt einen Artikel über den Lara-Croft-Film "Tomb Raider" mit den Sätzen: "Manchmal sind die Leute doch wirklich zu reflexhaft. Wie Lara Croft jetzt noch mal so richtig zum Thema der Feuilletons und aller möglichen organischen Kulturwissenschaftler wird, ist genauso altmodisch wie die sechsundfünfzigste Rückkehr der Big-Brother-Diskussion durch das französische Loft-Äquivalent ..." Na, wenn das so ist, warum sollen wir dann noch 293 Zeilen von Diedrichsen über Lara Croft lesen?

Weitere Artikel: Manfred Burazerovic berichtet über Schwimmbadprojekte und Garküchenaktionismus, mit denen die Kokerei Zollverein in Essen wieder an die Tradition der Soziokultur im Ruhrgebiet anknüpfen will, und Christiane Kühl bespricht Rene Polleschs neuestes "Heidi-Hoh"-Stück in Berlin.


Im tazmag diagnostiziert Christian Füller "Prüfungsangst, Schreibhemmungen, die Unfähigkeit, eine Sache abzuschließen, eine wachsende Abhängigkeit von psychologischer Beratung" an deutschen Universitäten, und Angela Hohmann hält einen "Auf- und Abgesang auf den modernen Weltbürger", nämlich den "langhaarigen Establishmentgegner", der sich in einen "Konservativen in Jeans" verwandelt hat. Die Amerikaner nennen ihn Bobo.

Schließlich Tom.

SZ, 30.06.2001

Alexander Kissler über Jürgen Habermas' Rede in Marburg: Die Folgen der "liberalen Eugenik beträfen unmittelbar das ethische Selbstverständnis des Menschen. Zum einen, argumentiert Habermas noch einmal im Sinne Adornos, stumpft 'mit der Erzeugung und Verwendung von Embryonen das moralische Sensorium für die Grenzen des Kosten-Nutzen-Kalküls ab.' Bedeutender sind jedoch die Konsequenzen aus dem Fall einer weiteren Grenze, der 'Unterscheidung zwischen dem Gewachsenen und dem Gemachten'. Der Mensch, der von sich weiß, dass sein Körper schon vor seiner Geburt dem Zugriff eines anderen Menschen unwiderruflich ausgesetzt war, könnte gezwungen sein, auf sich selbst wie auf ein anderes Wesen zu schauen. Ihm werde die fraglose Sicherheit eines unverfügbaren Leibes genommen, aus der Identität erwachse."

Klaus Peter Richter berichtet von einem Symposium in München über den Komponisten Werner Egk, der "vom Musikgranden der Nazi- wie der Adenauerzeit, dem unbestrittenen Repräsentanten der 'Moderne' mit höchsten Aufführungszahlen (allein 150 Aufführungen an der Bayerischen Staatsoper von 1952 bis 1986), zum ästhetischen Problemfall mit politischem Hautgout und schillernder Identität" wurde. "Spannend waren Details aus Egks Entnazifizierungsverfahren (Jan Schleusener). Immerhin brachte er es von der Anklage 'Belastet' mit dem Antrag auf fünf Jahre Berufsverbot und Teilkonfiszierung seines Vermögens am Ende zu: 'Nicht betroffen' samt dem Prädikat 'hat Widerstand geleistet'. Kein Wunder, denn sein besonders strammer Hitlergruß für Goebbels, als Kapellmeister an der Berliner Staatsoper, an den sich ein Zeuge gut erinnerte, war nur 'der Horneinsatz für das Orchester'.

Weitere Artikel: Marta Kijowska gratuliert Ceszlaw Milosz zum Neunzigsten, Andrian Kreye beschreibt, wie Eminem wegen Waffenbesitzes verurteilt wurde, Gottfried Knapp erzählt, wie "die Architekten Ortner & Ortner im Wiener Museumsquartier das Beste versuchten und immerhin etwas Ordentliches erreichten", in der Reihe "Zeitgemäße Physiologien" schreibt Alex Rühle über den Gipfelstürmer, und Volkmar Mühleis stellt Jan Hoet als Leiter des neuen, von Gehry gebauten Museums für zeitgenössische Kunst in Herford vor.

Besprochen werden Othmar Schoecks Opernrarität "Penthesilea" beim Maggio Musicale Fiorentino, Jan Harlans Dokumentarfilm über Stanley Kubrick und eine Christopher Münch-Retrospektive beim Münchner Filmfest.


In der SZ am Wochende gibt es einen Ausschnitt aus Czeslaw Milosz' ABC, Friedemann Bedürftig stellt den Jugendbuchautor Erich Kloss vor, "der in den Fünfzigerjahren manches Geburtstagskind zum Schneekönig machte, so jubelten wir über Bücher von ihm auf dem Gabentisch", Doris Marszk würdigt 250 Jahre "Encyclopedie", Henning Klüver spricht mit Andrea Camilleri über Essen und Berlusconi, und Birgit Weidinger schreibt über Verhüllungen und Enthüllungen am Badestrand.

Auf den Literaturseiten werden u.a. Barbara Vinkens Buch über "Die deutsche Mutter" besprochen und ein Band mit Briefen und Dokumenten des Kunstkritikers Julius Meier-Graefe (siehe auch unsere Bücherschau morgen ab 11 Uhr)

FR, 30.06.2001

Martin Altmeyer über Habermas' Rede in Marburg: "Er grenzt sich von einem Alarmismus ab, der in der gentechnologischen Manipulation bereits das Projekt der Menschenzüchtung wittert, aber auch vom Fundamentalismus eines Lebensschutzes, der dem embryonalen Frühzustand die absoluten Rechte einer Person zuerkennen möchte. Stattdessen platziert Habermas seine Argumente aus der Perspektive einer theoretisch möglichen Entwicklung, die über den gegenwärtigen Stand der Technik hinausreicht und die moralischen Fragen vorausschauend aufgreift."

Dietmar Schings untersucht die Extravaganz der Spiegelungen in Manets Gemälde "Eine Bar in den Folies-Bergere": "Die Spiegelung des Herren im Zylinder ist nur eine von etlichen Unstimmigkeiten, mit denen das Bild den Betrachter irritiert. Müssten die Flaschen, die auf der Marmortheke vor dem Spiegel stehen, im Spiegelbild nicht richtigerweise an dem dem Betrachter zugewandten Rand der Theke stehen? Womit lässt sich erklären, dass der Spiegel zwar die Brüstung der Zuschauergalerie reflektiert, die der Bar gegenüber liegt, nicht jedoch die Brüstung, die die Bar selbst und den Raum davor gegen den Zuschauerraum darunter abgrenzt? Wie schließlich ist es möglich, dass der Blick des Betrachters so ungehindert, wie es das Spiegelbild suggeriert, auf das Zuschauerparkett unter der Galerie fällt? Was sich vor dem Spiegel befindet, die Theke, das Barmädchen, schwebt im Spiegelbild in der Luft, als sei es schwerelos."

Robert Kaltenbrunner denkt in einem Essay über wirkliche und ideale Städte nach: "Obgleich unsere Strukturkrisen (die eigentlich Sinnkrisen sind) die Gesellschaft als Ganzes betreffen, ist es die Stadt, in der ihre Metastasen am sichtbarsten auftreten. Der Staat fühlt sich nicht so recht zuständig, baut auf private Initiativen und tritt selbst nur mit einzelnen, dafür aber spektakulären Großprojekten in Erscheinung. 'Festivalisierung' der Stadtentwicklung haben berufene Münder das genannt. Ohne erkennbare zentripetale Kraft treibt die Stadt dahin, und jeder macht daraus, was ihm gutdünkt.", Schlimm, das war bestimmt wieder der Neoliberalismus.

Weitere Artikel: Kurt Scheel setzt seine Kolumne "Literaturszenen" fort, indem er sich mit seinem Lieblingsbuch von Eckhard Henscheid, "Die Mätresse des Bischofs" befasst. Marleen Stoessel schreibt zum 90. Geburtstag von Czeslaw Milosz. Peter Körte glossiert anhand des Falls von Milsoevic die Gesten gefallener Diktaturen und Ursula März eine Fernsehsendung, in der Alice Schwarzer mit Verona Feldbusch diskutiert haben.

Besprochen werden Rene Polleschs Theaterstück "Heidi Hoh3 - Die Interessen der Firma..." im Berliner Podewil und einige Bücher, darunter Yasmina Rezas "Verzweiflung", Frederic Beigbeders "39,90" und Evelyn Fox Kellers "Das Jahrhundert des Gens". (Siehe auch unsere Bücherschau morgen ab 11 Uhr)

NZZ, 30.06.2001

Adam Zagajewski über Czeslaw Milosz, der 90 wird: "Milosz' besonderes Anliegen ist das Nichtausweichen vor Antagonismen. Kleinere Talente entwickeln häufig eine schneckentypische Neigung, sich in ihr Gehäuse zu verkriechen, Gegenwind, gegensätzliche Ideen zu meiden und sich auf Miniaturen zu beschränken. Der Dichter und Denker Milosz hingegen rückt mutig ins Feld, um sich mit den Gegnern zu messen. So als sagte er sich: 'Ich überlebe diese Epoche nur, wenn ich sie in mich aufnehme.'"

"Was wäre wenn", hat Jürgen Habermas nach Uwe Justus Wenzel in seiner Marburger Rede über Biopolitik gefragt: "Es wäre dann möglich, dass zwei Prinzipien des politischen Liberalismus in Gefahr gerieten. Das eine lautet: Die Individuen sollen ein 'eigenes Leben' führen können. Das andere: Sie sollen mit anderen einen Umgang unter 'Ebenbürtigen' pflegen können. Beides, so Habermas, könnte durch die historisch präzedenzlose Ungleichheit verhindert werden, die, sozusagen ab ovo, zwischen 'Designern' und 'Produkten' herrsche. Die Asymmetrie, die jede 'normale' Eltern-Kind-Beziehung, jeden bisher bekannten Sozialisationsprozess bestimme, sei damit nicht vergleichbar. Von einer genetischen Fixierung, die auf andere Menschen (und nicht etwa auf 'die Natur' oder 'Gott') zurückgehe, könne sich niemand retrospektiv befreien. Der 'genetische Paternalismus' sei unaufhebbar."

Weitere Artikel: Ursula Seibold-Bultmann bespricht eine Ausstellung über Serge Chermayeff, den Pionier der britischen Architekturmoderne, im De La Warr Pavilion in Bexhill-on-Sea. Peter Bollag berichtet über eine Installation von Arno Gisinger im Jüdischen Museum von Bad Hohenems.

In Literatur und Kunst erinnert Jürgen Brôcan an dem amerikanischen Lyriker Charles Olson und seine Theorie des "projektiven Verses": "Die 'Black Mountain Poets' wandten sich gegen den Akademismus einer metrisch vorgegebenen und thematisch abgeschlossenen Form der Lyrik, wie sie die New Critics propagierten. Sie distanzierten sich ebenfalls von Eliot und Yeats, den prominentesten Vertretern des als überholt geltenden englischen Verses. Nicht mehr Ideen sollten wesentlich sein, forderte Olson in Anlehnung an William Carlos Williams, sondern Handlungen und Dinge. Der Projektive Vers beruht auf einem offenen Prozess, der sich keinem festgelegten Schema mehr unterwirft und die Eigengesetzlichkeit eines jeden Gedichts berücksichtigt."

Ursula Pia Jauch erinnert an den ersten Band von Diderots Encyclopedie, der vor 250 Jahren erschienen ist: "Diderot gibt schon im ersten Band ein Gesellenstück seiner Begabung zum literarischen Kreuzgalopp, der ihn für die Kärrnermühen an dem grossen Werk wohl öfters entschädigt hat. Im Artikel 'Autorite politique' gelingt es ihm, den französischen Absolutismus als illegitime 'Türkendespotie' zu karikieren, ohne dass man ihm literal etwas nachweisen könnte. Im Artikel 'Anthropophagues' legt er jedem zwischenzeilig Lesekundigen nahe, dass die katholischen Bräuche nicht sonderlich weit entfernt seien von äusserst heidnischen Ritualen. Freilich liegt auch hier das Gift im Verweis; ein kleiner link - 'Menschenfresser' 'Eucharistie' - genügt."

Kurt Kreiler begibt sich nach Drohobycz in der Ukraine auf den Spuren des jüdischen Malers und Autors Bruno Schulz: "Andrzej Chciuk, ebenfalls in Drohobycz geboren, in den vierziger Jahren nach Australien emigriert, überliefert in seinem Buch 'Atlantyda' (der Titel spielt an auf Ostpolen als den untergegangenen Kontinent) eine Geschichte des Zeichners (und Zeichenlehrers) Bruno Schulz, der seine Staffelei vor den Holzhäusern der ärmsten Juden aufstellt. Einer seiner Schüler fragt ihn: 'Herr Professor, wozu malen Sie diese alten Häuser? In Drohobycz gibt es doch so viele wunderschöne Villen, wunderschöne Gebäude. Warum malen Sie das?' Und Schulz antwortet: 'Wissen Sie, junger Mann, es kommt bald ein Sturm. Und das alles wird verschwinden.'"

Der Rest ist den berühmten großen Buchkritiken der NZZ-Beilage gewidmet. Martin Meyer schreibt über den Band "Erinnerung an ein Jahrhundert" des Philosophen Raymond Klibansky. Ferner bespricht Beatrice von Matt die Briefe von Paul Celan und Gisele Celan-Lestrange, und Angela Schader stellt den Band "Glas, Ironie und Gott" der amerikanischen Lyrikerin Anne Carson vor (siehe auch unsere Bücherschau morgen ab 11 Uhr).

FAZ, 30.06.2001

Sehr scharf und kritisch setzt sich Burkhard Müller-Ulrich mit Christopher Hitchens' Buch über Kissinger auseinander (Hitchens will den ehemaligen amerikanischen Außenminister bekanntlich vor ein Menschenrechtstribunal bringen): Müller-Ulrich wirft ihm vor, "nichts anderes als Vermutungen zu bieten.... Nur dass er dieser Tatsache noch den Schrei nach der Justiz hinterherschickt, denn wenn er Kissinger nichts beweisen kann, so nur, weil 'Mr. Kissinger dafür gesorgt hat, dass große Teile an Unterlagen zurückgehalten werden oder möglicherweise gar vernichtet wurden". Möglicherweise - das Schlüsselwort des Buches ist gefallen." Hitchens' Vorwürfe hinsichtlich des Vietnamkriegs und des Pinochet-Putsches in Chile sind nach Müller-Ulrich nicht belegt. Deutsch ist Hitchens' Buch in der Lettre erschienen. Wir haben der Debatte vor kurzem einen Link des Tages gewidmet.

Zhou Derong erzählt, wie die Machthaber in Peking die Gründung der KP vor achtzig Jahren feieren, unter anderem mit einer Serie von Porträts vorbildlicher Parteimitglieder: "Da ist ein Mann, Parteimitglied, der zu Hause einen kranken Sohn hat. Aber unser Mann denkt an die Gemeinschaft und will partout nicht nach Hause kommen. Eine junge kommunistische Wissenschaftlerin hat die Einladung eines berühmten amerikanischen Forschungsinstituts abgelehnt: Sie will lieber allein in der armen Provinz Jiangxi arbeiten. Die Propaganda liebt solche rührenden Geschichten, obwohl jeder weiß, daß selbst Parteichef Jiang Zemin oder Premier Zhu Rongji ihren eigenen Söhnen und Töchtern heute von solcher Karrierevergessenheit abraten würden."

Christian Schwägerl und Joachim Müller-Jung liefern Streiflichter von der "Bio 2001" in San Diego, der größten Biotechnologiemesse der Welt. Schwägerl findet: "Zumindest für die Autoren von Asterix-Geschichten wäre ein Besuch auf der nächsten BIO-Konferenz 2002 sinnvoll. Eine kleine Auswahl von Gengalliern: Alchematrix, Atherogenics, Cellgenix, Cellectis, Clinimetrics, Epigenomics, GeneFormatics, Genomatix, Polyganics, VitaRx. Es sollte niemanden überraschen, wenn eine dieser Firmen bald eine moderne Version des Zaubertranks auf den Markt brächte."

Weitere Artikel: Henning Ritter denkt über den Begriff der Menschenwürde im Zeitalter der Biotechnik nach. Eva Menasse stellt das neue Wiener Museumsquartier vor. Michael Adrian resümiert Habermas' Marburger Rede. Gerhard Stadelmaier gratuliert Otto Sander zum Sechzigsten. Andreas Rossmann setzt sich mit den Untiefen der Wuppertaler, Barmer und Elberfelder Museumspolitik auseinander. Ingeborg Harms liest deutsche Zeitschriften.

Besprochen werden eine "Pique Dame" in Bremen, der englische Sänger und Gitarrist David Gray auf Deutschland-Tournee, der Film "Monkeybone", eine Alberto-Giacometti-Retrospektive im Kunsthaus Zürich, das Bahia Ballett bei den Ruhrfestspielen und eine Ausstellung über den Architekten Hugo Häring in der Berliner Akademie.

In Bilder und Zeiten erzählt Mark Siemons, wie die neue Avantgarde in Hongkong "die Klischees der westlichen Kulturkritik durcheinanderbringt". Lars-Olav Beier porträtiert den Filmregisseur Richard Lester. Achim Hölter erinnert an ein monumentales Elefantendenkmal, das einst auf der Pariser Place de la Bastille stand. Tilman Spreckelsen schreibt zum Neunzigsten von Czeslaw Milosz. Und Wolfgang Sandner hat Hans-Werner Henze und seine beiden Windhunde (Fotos von Barabara Klemm) in Montepulciano getroffen.

In der Frankfurter Anthologie stellt Dieter Borchmeyer ein Gedicht von Wilhelm Müller vor:

"Wir saßen so traulich beisammen
Im kühlen Erlendach
Wir scheuten so traulich zusammen
Hinab in den rieselnden Bach..."