Heute in den Feuilletons

Öffentliche Beschäftigung mit Nachrichten

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.03.2013. Was soll mit dem Erbe des großen Film-Essayisten Chris Marker geschehen?, fragt die Welt. Im Design Observer bringt David Brook einen Riesen-Essay über die atemberaubende Entwicklung der Stadt Schanghai. Wir verlinken auf die Dokumentation des ORF über die Nazivergangenheit der Wiener Philharmoniker, die 75 Jahre nach dem "Anschluss" ihre Archive öffnen. Die SZ findet Anthony Hopkins' Latexkinn im "Hitchcock"-Film  schmerzhaft offensichtlich.

Weitere Medien, 12.03.2013

In einem gigantischen Essay blickt Daniel Brook auf den Aufstieg Shanghais zurück, für den ebenso ausgeklügelte Bautechniken wie Sozialtechniken nötig waren: "Bei aller Metropolen-Macht muss das neue Shanghai erst noch sein historisches Versprechen wahrmachen und herausfinden, was es bedeutet, zugleich chinesisch und modern zu sein." Grandios sind die Bilder, die mal Jahrhunderte alt, mal so futuristisch-unwirklich wirken, dabei keine dreißig Jahre auseinander liegen.

NZZ, 12.03.2013

Sehr außergewöhnlich findet Peter Hagmann die Genfer Rheingold-Inszenierung von Dieter Dorn und Ingo Metzmacher, die Wagner vom Kraftstil zu befreien versucht. Barbara Villiger Heilig ist viel zu höflich, um sich beim Berliner "Club Inferno" des Künstlerduos Signa fürchterlich gelangweilt zu haben. Marc Zitzmann erinnert zum vierhundertsten Geburtstag an den französischen Gartenarchitekten André Le Nôtre.

Besprochen werden Jamil Ahmads Erzählungen aus dem pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet "Der Weg des Falken" und Christine Lavants Erzählung "Das Wechselbälgchen" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Weitere Medien, 12.03.2013

In Slate erklären Viktor Schönberger and Kenneth Cukier, wie Big Data (so auch der Titel ihres Buchs) in New York half, illegal umgebauten und überbelegten Häusern auf die Spur zu kommen, in denen immer wieder verheerende Brände ausbrechen. Die Stadt hat für dieses Problem 200 Inspektoren, die 25.000 Beschwerden im Jahr überprüfen sollen. Wie kann man da sinnvoll Prioritäten setzen? Indem man riesige Datenmengen von Leuten auswerten lässt, die keine Statistiker sind. Es war ein durchschlagender Erfolg: "Die Erfahrung von New Yorks analytischen Alchemisten beleuchtet viele Punkte, die wir in unserem Buch behandeln. Sie benutzten gigantische Mengen an Daten, nicht nur einige ausgewählte. Ihre Liste der Gebäude in der Staat umfasste nicht weniger als n=all. Die Daten waren chaotisch, etwa was Informationen über Standorte oder Häufigkeit von gerufenen Krankenwagen anging, aber das schreckte sie nicht ab. Tatsächlich überwiegen die Vorteile massenhafter Daten die Nachteile unsystematischer Informationen. ... Tatsächlich war der Hauptgrund für den Erfolg des Programms, dass es auf Kausalketten verzichtete zugunsten von Korrelationen." Was Statistiker offenbar nie zugelassen hätten.

Die weniger angenehme Seite der Datensammelei legt Lois Beckett bei ProPublica offen. Sie hat zusammengetragen und verlinkt, wer was über wen sammelt. Und wozu werden diese Daten gebraucht? "Mostly to sell you stuff."

Burmesische Journalisten müssen bei Null anfangen, wenn die Zensur in Burma am 1. April ganz aufgehoben wird, berichtet Jake Spring in The Atlantic. In 50 Jahren Zensur haben nur die Älteren jemals eine unzensierte Zeitschrift gesehen. Tageszeitungen waren ganz verboten. Jetzt wollen etwa 25 auf einmal erscheinen. Doch man denkt schon weiter in die Zukunft: "Ko Ko von der Rangoon Mediengruppe träumt bereits von einem integrierten Medienimperium, dass Inhalte ausstößt für Apps auf allen Plattformen und sogar ein Videoteam im Haus bereithält. Tageszeitungen werden nur ungefähr zehn Jahre noch profitabel sein, sagt er voraus und spricht so emphatisch über den Wechsel zu Online wie er über die Gründung von Tageszeitungen spricht." Großartiger Optimismus in einem Land, das kaum eine funktionierende Stromversorgung hat!

Nach jahrelangem Widerstand haben die Wiener Philharmoniker ihre Archive geöffnet. Der ORF sendete gestern eine Dokumentation über das Orchester nach dem Anschluss vor genau 75 Jahren. Aus dem Ankündigungstext: "Alle jüdischen Künstler im Orchester der Wiener Philharmoniker wurden nach 1938 fristlos entlassen, fünf von ihnen kamen in Konzentrationslagern ums Leben oder wurden ermordet. Einer verstarb infolge der Delogierung aus seiner Wohnung. Ein weiterer Musiker verstarb noch vor seiner Deportation in Wien. Die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse zeigen, dass fast die Hälfte aller Orchestermitglieder Nationalsozialisten mit Parteibuch waren, genau 60 von 123. Bei den Berliner Philharmonikern waren es um die 20 Personen von rund 110 Orchestermitgliedern." Das Orchester hat auf seiner Website selbst Material zu seiner Verstrickung bereitgestellt. Hier der Link zur Dokumentation in der ORF-TVthek.

Aus den Blogs, 12.03.2013

Der Nachrichtendienst für Historiker hat nach 17 Jahren seine Arbeit eingestellt, meldet Heise. Grund: die unsichere Rechtslage nach Verabschiedung des Leistungsschutzrechts: "Ob und wie dieser Dienst weiter zur Verfügung gestellt werden kann, können wir erst nach den ersten klärenden Urteilen zur eher unsicheren Ausgestaltung des Gesetztes sagen", heißt es auf der Webseite. "Hintergrund ist", so Heise, "dass der Gesetzgeber offen ließ, wie lang Anrisse aus Artikeln sein dürfen, ohne rechtsverletzend zu sein. Dies sollen nun Gerichte klären. Kritiker wie der Lawblogger Udo Vetter befürchten, dass durch das strukturelle Ungleichgewicht, das bei juristischen Auseinandersetzungen zwischen Verbrauchern und Kleinunternehmern auf der einen und Pressekonzernen mit Rechtsabteilung auf der anderen Seite herrscht, ein Klima der Angst entsteht, das die 'öffentliche Beschäftigung mit Nachrichten riskant macht'."

Stefan Niggemeier bringt recht deutlich zur Sprache, wie absurd eine Diskussion über unanständige Gehälter ausgerechnet von Günter Jauch und in der ARD ist. Stichwort weißer Elefant: "Jauch spielte den mil­lio­nen­schwe­ren Anwalt des klei­nen Man­nes gegen­über den Mil­lio­nä­ren - mit der beson­de­ren Iro­nie, dass er sei­nen unbe­kann­ten, aber mut­maß­lich üppi­gen Lohn für diese Sen­dung von uns Zuschau­ern und Nicht-Zuschauern bekommt. Maschmeyer sprach das ein­mal kurz an, als er fragte, was wohl dabei raus­käme, wenn die Gebüh­ren­zah­ler über sein Hono­rar abstim­men dürf­ten, aber zum Glück für Jauch fiel ihm jemand ins Wort, bevor er hätte ant­wor­ten kön­nen oder müs­sen, und führte das Gespräch von ihm weg. Es gab auch spä­ter noch eine Situa­tion, in der Jauch wirkte, als müsste er die Rich­tung fürch­ten, in die Maschmeyer den Ball dribbelte.

Welt, 12.03.2013

Was soll mit dem unordentlichen und reichhaltigen Erbe des großen Film-Essayisten Chris Marker geschehen?, fragt Gerhard Midding: "Marker versäumte es nachdrücklich, sein Haus zu bestellen. Ein letzter Wille wurde bisher nicht gefunden. Er hatte keine nahen Angehörigen; angeblich existiert nur eine Patentochter. Freunde berichten, dass er an der Tür einer früheren Wohnung einen Umschlag mit Instruktionen angebracht haben soll, der jedoch seit seinem letzten Umzug unauffindbar ist."

Marker selbst sah's wohl so gelassen wie seine Katze, der er auf Youtube ein Denkmal setzte:



Weitere Artikel: Josef Engels unterhält sich mit Paul Kuhn über seine neue CD, die er in den Capitol Studios in Los Angeles aufgenommen hat - dort, wo auch Frank Sinatra seine Platten einspielte. Holger Kreitling berichtet, dass Stieg Larssons Verschwörungsromane jetzt auch als Comic vorliegen.

TAZ, 12.03.2013

Christof Foderer sinniert angesichts der jüngsten Entwicklungen in der Affäre um Dominique Strauss-Kahn und die Autorin Marcela Iacub über Frankreichs Hedonismus, sexuelle Phantasmen und Stigmatisierungslust in vorrevolutionären Zeiten. Renata Stih feiert das kostenlose (!) Saint Louis Art Museum, das gerade einen Erweiterungsbau von David Chipperfield erhalten hat. Aram Lintzel ärgert sich über den "Austrosexismus" des Philosophen Robert Pfaller, der in der FAZ die Vermiesung des Geschlechterverhältnisses beklagt hatte. Michael Brake liest die Architekturzeitschrift Stadtaspekte.

Besprochen werden die Ausstellung "Schöner scheitern" in der Hamburger Kunsthalle, Herbert Fritschs erste Operninszenierung von Peter Eötvös' "Drei Schwestern" in Zürich.

Und Tom.

FAZ, 12.03.2013

Melanie Mühl unterhält sich mit der Autorin Sabine Rennefanz, die einen Essay über die "stille Wut der Wendegeneration" geschrieben hat (Leseprobe) und meint, dass die Terrorgruppe NSU wie ihre Generation insgesamt nicht nur durch ideologische Überreste der DDR, sondern auch durch den Orientierungsverlust der Wendezeit aus dem Lot gebracht wurde. Andreas Kilb kommentiert Reibungen zwischen türkischen Kulturfunktionären und deutschen Archäologen. Ulf Meyer besucht eine Ausstellung der Japan Foundation mit architektonischen Entwürfen, die auf die Tsunami-Katastrophe vor zwei Jahren reagieren (sagt aber nicht, wo sie ist und wie sie heißt). Dominik Graf empfiehlt in wärmsten Worten Jürgen Goslars auf DVD wieder herausgebrachten Film "Der flüsternde Tod" mit Horst Frank als Albino-Schwarzen in einem süadafrikanischen Rachedrama. Jan Knobloch unterhält sich mit dem Klezmer-Musiker Daniel Kahn. Auf der Medienseite protestiert Jochen Hieber gegen das schockierende Ende der dritten Staffel von "Kommissarin Lund" - das eine vierte Staffel übrigens unmöglich macht.

Besprochen werden ein "Rheingold" in Genf, nach Eleonore Büning famos inszeniert von Dieter Dorn und dirigiert von Ingo Metzmacher, Sascha Gervasis Biopic über Hitchcock, Stücke von Schiller und Handke im Berliner Ensemble, eine Ausstellung des Künstkers Thomas Bayrle in Brüssel, eine neue CD von Paul Kuhn (genau, dem) und Bücher, darunter Elizabeth Taylors Roman "Versteckspiel" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 12.03.2013

Ob letztes Jahr Marilyn Monroe, aktuell Alfred Hitchcock und demnächst Liz Taylor, Mary Poppins und Fassbinder: Das aktuelle Kino sehnt sich nach seinen früheren Zeiten, denen es nun Making-Ofs im Spielfilmformat zur Seite stellt, beobachtet Tobias Kniebe. Doch woher rührt diese Sehnsucht "nach einer Zeit (...), als die Bilder noch kostbar waren? ... Die ikonischen Bilder und Szenen, die damals gelangen, haben also eine betörende Leere der Bilderarmut um sich herum. Im Vergleich mit der Gegenwart gilt das sogar für eine Figur wie Marilyn Monroe, die wahrlich nicht selten fotografiert wurde. Je mehr wir unsere Gegenwart aber mit Bildern verstopfen, desto heller leuchten diese alten Aufnahmen aus dieser Leere heraus. All das, was damals nicht gefilmt werden konnte, eröffnete einen Raum der Phantasie". Jedoch, wie der Filmkritiker keineswegs anzumerken vergisst: Diesen Imaginationsraum machen die aktuellen Filme gründlich kaputt - und dass Hopkins als Hitch ein künstliches Latexkinn trägt, ist schmerzhaft offensichtlich.

Außerdem: Wolfgang Schreiber spricht mit den Intendanten der drei Berliner Opernhäuser. Klaus Brill informiert sich über die Pläne, aus dem ehemaligen KZ Groß-Rosen ein "einschüchternd monumentales Mahnmal" zu machen.

Besprochen werden Hans-Peter Feldmanns "Kunstausstellung" in den Deichtorhallen in Hamburg, das Stück "Antigone/Sophie" am Theater Ulm und eine Schau zum Werk von Richard Leacock in der Temporary Gallery in Köln. Außerdem bringt die SZ eine Literaturbeilage, die wir in den kommenden Tagen auswerten.