Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.06.2006. In der SZ spricht der marokkanische Autor Mahi Binebine über die unheimliche und anhaltende Anziehungskraft Europas auf afrikanische Bootsflüchtlinge. Die taz entwickelt anhand möglicher Rauchverbote eine Dialektik moralischer Standards. Die FR hat den grassierenden Patriotismus schon satt. In der FAZ kritisiert Daniel Kehlmann die Gruppe 47 und stellt sich  in die würdige Tradition Goethes und Schillers.

TAZ, 20.06.2006

Auf Seite 1 stellt Bettina Gaus in ihrem Kommentar zum diskutierten Rauchverbot in öffentlichen Räumen klar, dass man trefflich über alles streiten könne - und worum es dabei wirklich geht: "Das Thema heißt nicht Abschaffung - das Thema heißt Ausgrenzung. Wären Zigaretten verboten: Alle Diskussionen darüber, wo noch geraucht werden darf, erübrigten sich. Zigaretten sind aber nicht verboten. Nur deshalb eignen sie sich zur Definition rigider moralischer Standards. Die der nichtrauchenden Mehrheit ein wohliges Gemeinschaftsgefühl verschaffen."

Auf den Kulturseiten untersucht Christian Kortmann die sommerliche Reiseplanung und diagnostiziert vor allem bei 30- bis 40-jährigen Akademikern - Mitglieder der "Generation 1000 Euro" oder "Generation Praktikum" - eine "ökonomisch-soziale Spaltung". "Die einen verreisen mehrmals jährlich, quer durch die Weltgeschichte, gerne auch wie die Elterngeneration in die Toskana, weite Flugreisen sind selbstverständlich. Auf der anderen Seite gibt es die, die schon seit Jahren keine Urlaubsreise mehr gemacht haben, ja, in deren Denken das Konzept 'Urlaub' gar nicht mehr vorkommt, weil ihre Existenz eine Art Dauersurvivalcamp darstellt und sie schon froh sind, wenn sie ihre Miete bezahlen können." Und am Ende stellt man fest, "dass es verdammt schwierig ist, über Einkommensunterschiede hinweg befreundet zu sein".

Weitere Artikel: Dorothea Hahn berichtet über das "neue, große ethnologische Wohlfühlmuseum" Musee Branly, das heute eröffnet wird. Tobias Rapp resümiert das Sonar Festival in Barcelona, auf dem der Stand der Dinge in der elektronischen Musik präsentiert wurde. In der Reihe "Warenkunde" beschäftigt sich Wolfgang Ullrich mit einem "Paradigmenwechsel bei der Personenwaage".

Schließlich Tom.

Welt, 20.06.2006

Ulrich Weinzierl kommentiert den Verkauf eines Klimt-Gemäldes für 135 Millionen Dollar: "Kunstkenner unterscheiden sehr genau zwischen dem Kult um die 'Goldene Adele' und ihrem ästhetischen Rang. Die Kitschnähe des gleißenden Bildes, Kritiker spotteten einst 'mehr Blech als Bloch', ist ihnen ein triftiges Argument zu behaupten: Gustav Klimt hat Besseres, Aufregenderes gemalt. Andererseits scheint darin der Zeitgeist der Entstehungsepoche, des glanzvollen Untergangs des alten Europa und Kakaniens, so klar wie nirgendwo sonst in seinem Oeuvre auf Leinwand gebannt."

Weitere Artikel: Matthias Heine berichtet über einen Streit beim Festival "Theater der Welt" in Halle - die Landespolitiker weigern sich, den Berliner Torsten Maß als Festivaldirektor zu akzeptieren. Thomas Brussig setzt seine WM-Kolumne fort. Im Magazin spricht Rainer Langhans über 68 und alle seine Frauen.

Besprochen wird Peter Mussbachs Inszenierung der "Lustigen Witwe" an der Berliner Staatsoper.

FR, 20.06.2006

Unter der Überschrift "National-Klamauk" bescheinigt Christian Schlüter dem derzeit flächendeckend ventilierten Patriotismus viel "dreiste Unbekümmertheit" und ansonsten "Verkauf unter Wert". Unter Rückgriff auf die einschlägigen aktuellen Publikationen von Schirrmacher, Matussek, Langenscheidt und Co. wünscht er diesen "Protagonisten" herzlich die "Einsicht in die eigene Überflüssigkeit".

Weitere Artikel: Judith von Sternburg berichtet vom Wiesbadener Theaterfestival "Neue Stücke aus Europa", unter anderem über das tschechische Stück "Kunstschwimmer" und die "grelle Produktion" "Dok.Tor" des Moskauer Projekts Teatre.doc. In einem Interview erklärt die Sopranistin Britta Stallmeister, warum Mozart "nichts verzeiht". Und in Times mager lobt Harry Nutt das Patent als das "Einfallstor des Fiktionalen in die Güterproduktion" und die "Poesie schnöder industrieller Fertigung".

Besprochen werden eine Inszenierung des Stücks "Doña Rosita oder die Sprache der Blumen" von Federico Garcia Lorca am Schauspielhaus Bochum und Bücher, darunter der neue Roman (Leseprobe hier) von Elke Schmitter "Veras Tochter" (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 20.06.2006

Angela Köckritz unterhält sich mit Mahi Binebine, Autor des Buchs "Kannibalen" (Unionsverlag) über Bootsflüchtlinge in Tanger: "Viele Afrikaner sehen in Europa ein Eldorado, dessen Tor man aufbrechen muss. Jedes Jahr kehren 1,5 Millionen Maghrebiner in ihre Länder zurück, oftmals in glänzenden Autos, voll beladen mit Schätzen. In ihren Städten und Dörfern werden sie gefeiert. Sie erfinden so viele Geschichten von der anderen Welt, dass denen, die geblieben sind, ganz schwindlig davon wird. Sie hüten sich davor, von den Flüchtlingsunterkünften in den Vororten am Rande der Autobahnen zu erzählen, wo man sie wie Vieh zusammenpfercht. Sie sprechen nicht von Rassismus und Ausgrenzung. Doch nicht nur die Auswanderer lassen Wunschträume entstehen. Das Satellitenfernsehen hat die Wahrnehmung der Afrikaner verändert: Täglich schüttet es eine Flut verführerischer Bilder aus, insbesondere pornografische. Früher lebten wir in einer Art Autarkie. Nationales Radio und Fernsehen versorgten uns mit patriotischer Begeisterung - jenseits des europäischen Konsummodells."

Weitere Artikel: Jutta Göricke beobachtet Ulrich Schröder, Art Director bei Disney, bei der Arbeit. ("Hauptsächlich hockt er in einem edlen Büro in der Retortenstadt Val d'Europe, eine Bahnstation von Disneyland in der Nähe von Paris entfernt, und kontrolliert, ob die Marke 'Disney' zeichnerisch korrekt umgesetzt wird.") Stefan Koldehoff kommentiert die Versteigerung des Klimt-Gemäldes "Porträt Adele Bloch-Bauer" für 135 Millionen Dollar, mit der Klimt seinen Kollegen Picasso als teuersten Maler der Geschichte abgelöst hat - es handelt sich um eines der Gemälde, die der Staat Österreich jüngst an die in Los Angeles lebende Hausfrau Maria Altmann zurückgeben musste. Joachim Kaiser kommt in der Kolumne Zwischenzeit nach einigen anmutigen Windungen mal wieder auf Horowitz' "Encores" zu sprechen. Roswitha Budeus-Budde verfolgte eine Tagung über aktuelle Jugendliteratur in Tutzing.

Besprochen werden eine Ausstellung über Maecenas in Rom, eine Ausstellung über Einfluss und Wirken der wilhelminischen Kunstzeitschrift Kunst für alle in München, Franz Lehars "Lustige Witwe" an der Berliner Staatsoper, Hasko Webers Inszenierung von Ibsens "Klein Eyolf" in Stuttgart, das Debüt der Band Wolfmother, und einige Bücher, darunter John von Düffels Erzählung "Hotel Angst".

NZZ, 20.06.2006

Paul Jandl meldet, dass wegen des 135 Millionen Dollar-Geschäfts mit Gustav Klimts "Goldene Adele" nun Picassos "Junge mit der Pfeife" (Replika) nur mehr das zweitteuerste Gemälde der Welt ist.

Besprochen werden eine große Retrospektive zur Surrealistin Meret Oppenheim im Kunstmuseum Bern, Ousmane Sembenes Film über die Beschneidung von Frauen "Moolaade" und einige Bücher, darunter Miral al-Tahawis Roman "Gazellenspuren", zwei neue Bände des Hirnforschers Eric Kandel und Vladimir Sorokins neuer Roman "Bro" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 20.06.2006

Bei seiner Dankesrede zum Literaturpreis der Adenauer-Stiftung bringt sich der ebenso junge wie erfolgreiche Autor Daniel Kehlmann gegen die Altvorderen in Stellung. "Die Gruppe 47 steht eben auch für die Herausbildung des Betriebs, des Vorlesezirkus, der allgemeinen Umtriebigkeit als tragendes Prinzip des Systems. (...) Experimente hatten hier eben anders auszusehen, man erkannte sie an der formelhaft eigenwilligen Typografie und jenem wohlbekannten, hart ans Verbissene streifenden Ernst, neben dem sich Weltläufigkeit und Eleganz von vornherein suspekt ausnehmen mussten." Hohe Verkaufszahlen, auch im Ausland, sind keine Schande, meint Kehlmann, der auch im Ausland hohe Verkaufszahlen erreicht. "Oft wird nun von einer kommenden Internationalisierung der deutschen Literatur gesprochen, manchmal erwartungsvoll, nicht selten aber in einem Ton, als wäre das etwas Bedrohliches, als gäbe man damit etwas Fragiles und Wertvolles auf - und nicht bloß die Grämlichkeit eines Sonderwegs, der vor allem dadurch entstand, dass man unter sich sein wollte, in der Nähe der Küste, ungefährdet von den Strömungen des weiten Meers."

Weitere Artikel: Michael Hanfeld schickt Impressionen aus Afghanistan, wo die Taliban wieder an Boden gewinnen. Die "Goldene Adele" von Gustav Klimt hat der amerikanische Sammler Ronald Lauder für nie dagewesene 135 Millionen Euro erstanden, meldet Rose-Maria Gropp. Nicht zufrieden war Martin Lhotzky mit den Wiener Festwochen und ihrem ausufernden wie abgehangenen Programm. Ernst Horst blickt auf den kurzweiligen Internationalen Comic-Salon in Erlangen zurück. Schaut schlimm aus, klingt aber gut, meint Eleonore Büning zum Salzburger Haus für Mozart (mehr), vormals Kleines Festspielhaus. In Neukirch in der Oberlausitz hat Matthias Grünzig die neuen Produktionsstätten von Trumpf besucht, die eher an Wohngebäude als an Fertigungshallen erinnern. Ein marktwirtschaftlich orientierter Taxifahrer zieht in Shanghai den Zorn seiner Kollegen auf sich, kolportiert Mark Siemons. Gerhard Rohde gratuliert der "idealen" Mozartpianistin Ingrid Haebler zum Achtzigsten.

Auf der Medienseite berichtet Olaf Sundermeyer, dass die rechtskonservative Regierung Bronislaw Wildstein zum neuen Intendanten des Polnischen Staatsfernsehens bestimmt hat, um die Anstalt politisch neu auszurichten. "Der Sender mit seinen sechstausend Mitarbeitern hat einen liberalen Anspruch, aber auch Hinterlassenschaften des alten Systems, von denen sich die postkommunistischen Eliten der Kwasniewski-Ära stützen ließen. Damit soll nun Schluss sein." Erna Lackner informiert über die neue Tageszeitung für "die gebildete Mittelschicht" in Österreich, die der Magazinverleger Wolfgang Fellner am 18. September starten will.

Auf der letzten Seite kann sich Christian Schwägerl nach dem militärischen Robotertest Elrob in Hammelburg und dem Robocup in Bremen entspannt zurücklehnen: Noch sind Menschen besser. Alexander Kosenina erinnert an Wolfgang Börne und dessen vernachlässigtem Nachlass. Eberhard Rathgeb hofft, dass die Zukunft des Theaters nicht so aussieht wie das Projekt von Alten für Alte im Hamburger Schauspielhaus.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Fotoserien von Ken Ohara in der Städtischen Galerie Wolfsburg, Hans van Manens Abend "His Master's Choice" mit vier Choreografien im Nationalballett Amsterdam und Ketil Bjornstads Musikerroman "Vindings Spiel" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).