Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.04.2006. Die Kritiken zum "Tristan" an der Berliner Staatsoper sind recht einhellig: Daniel Barenboims musikalische Leistung wird bewundert, der Tenor Peter Seiffert bedichtet, das Bühnenbild der Architekten Herzog & de Meuron bestaunt und die Inszenierung Stefan Bachmanns bedauert. In der NZZ wirft der Autor Najem Wali einen deprimierten Blick auf die Zustände im Irak. Die Berliner Zeitung präsentiert den siegreichen Entwurf Michael Elmgreens und Ingar Dragsets für ein Mahnmal, das an die Verfolgung der Homosexuellen unter Nazis erinnern soll.

NZZ, 10.04.2006

Deprimiert blickt der Schriftsteller Najem Wali auf die Situation im Irak, das alltäglich Morden und Foltern: "Paradoxerweise dreht sich nun, drei Jahre nach den großartigen Demokratieversprechen, alles nur um die eine Frage: Ist der Irak bereits endgültig in einen Bürgerkrieg abgeglitten, der alles verschlingen und auch die Nachbarländer mitreißen wird? Oder steht das Land erst am Rande des Abgrunds, so dass man es vor der weiteren Ausbreitung des Mordens und Zerstörens noch retten kann? Keiner spricht mehr von der wesentlichen Frage: Wie weit ist die Demokratie gediehen? Was für eine Demokratie, in der die Iraker da nach drei Jahren Lug und Trug leben - alles nur (höchst unschöner) Schein!"

Gut gefallen hat Peter Hagmann Simon Rattles eigene Interpretation von Debussys "Pelleas et Melisande" bei den Osterfestspielen Salzburg: "Die Berliner Philharmoniker, die hier einen großen Auftritt haben, bieten ihm alles, was er sich wünschen mag. Sie sind ein deutsches Orchester, kein französisches; mit ihrem dunklen, grundtönigen Klang rücken sie das Stück näher an Wagner heran, als es Debussy vielleicht recht gewesen wäre."

Michael Schmitt inspiziert die neue Paperback-Sachbuchreihe "Pantheon", die Random House nun auf den deutschen Markt bringt. Besprochen werden eine Schau spanischer Architektur im Museum of Modern Art in New York und eine Aufführung von Tschaikowskys "Eugen Onegin" im Luzerner Theater.

FAZ, 10.04.2006

Musikalisch ist Eleonore Büning mit dem "Tristan" in der Berliner Staatsoper einverstanden: "Daniel Barenboim und seine famose Staatskapelle... lassen diesmal hoch dramatisch die Feuer der Liebe, Verzweiflung und Eifersucht lodern." Aber die Inszenierung Stefan Bachmanns hat sie nicht überzeugt: "Für Bachmann ist es, nach einer 'Zauberflöte' in Basel und einer 'Cosi' in Lyon, die dritte Opernregie. Dass Sänger es mögen, wenn sie sich nicht allzuviel bewegen müssen, ist eine der Grundregeln, die er schon nahezu perfekt beherrscht. Alle kommen in Prozessionstempo gemessenen Schrittes herein, treten links auf und gehen rechts wieder ab oder umgekehrt. Wer die Bühnenmitte erreicht, steht dekorativ herum."

Bettina David erkennt in einem indonesischen Gesetz gegen Pornografie, das angeblich aufreizende Kleidung untersagt und gegen das sich vor allem Frauenorganisationen wehren, eine bedenkliche Tendenz zur Islamisierung des Vielvölkerstaats: "Die obsessive Befassung mit dem Thema der Pornografie verweist auf eine tiefe Entfremdung gegenüber den eigenen kulturellen Traditionen. Eine stetig wachsende Zahl von Indonesiern orientiert sich im Alltag an einem globalisierten neoorthodoxen Islamverständnis. Wie der Gesetzentwurf zeigt, stellt die Hinwendung zu einem an der Scharia orientierten Islam nicht nur einen Schritt gegen den 'Westen' dar, sondern vor allem auch gegen den eigenen, geschichtlich gewachsenen kulturellen Reichtum."

Weitere Artikel: Im Aufmacher berichtet Joseph Hanimann über einen französischen Streit um eine Studie des Institut national de la sante, die eine Erblichkeit von Neigungen zur Gewalt behauptet. Einen ähnlichen Streit in den USA resümiert Katja Gelinsky - hier geht es um eine ältere Studie, die behauptet, dass die Verbrechensrate in den USA durch die Legalisierung von Abtreibung zurückgegangen sei. In der Leitglosse plädiert Michael Althen für Detlev Bucks Film "Knallhart", der die Gewalt Jugendlicher in Neukölln reflektiert, und trotz der aktuellen Ereignisse um die Rütli-Schule kein sehr großes Publikum gefunden hat. Andreas Rosenfelder hat einem Kolloquium an der Evangelischen Akademie Bad Boll über den Fußball unter dem Nationalsozialismus zugehört. Roland Reuss erzählt ohne erkennbaren Anlass die Geschichte einer handschriftlichen Widmung in einem Kafka-Band, in der sich Kafkas einstige Geliebte Dora Dymant vier Jahre nach Kafkas Tod als "Dora Dymant-Kafka" bezeichnete. Andreas Rossmann meldet den Rücktritt des Düsseldorfer Museumsdirektors Jean-Hubert Martin. Mark Siemons berichtet, dass im Shanghaier Konzert der Rolling Stones praktisch nur westliche Zuschauer zugegen waren. Gerhard R. Koch gratuliert dem Musikverleger Gottfried Möckel von Breitkopf & Härtel zum Achtzigsten.

Auf der Medienseite unterhält sich Claudius Seidl mit der Playboy-Verlegerin Christie Hefner. Und Michael Hanfeld geht der Frage nach, ob die Jugendlichen in einer ZDF-Reportage über den Hamburger Stadtteil Mümmelmannsberg für die Darstellung ihrer Gewaltbereitschaft bezahlt wurden. Auf der letzten Seite schreibt Melanie Mühl über einen dramatischen Bevölkerungsrückgang in den ländlichen Regionen Bulgariens. Gina Thomas kommentiert den Sieg des Bestsellerautors Dan Brown in dem gegen ihn geführten Plagiatsprozess. Und Dirk Schümer zeichnet ein Profil des ehemaligen italienischen Diplomaten Mario Scialoja, der zum Islam übergetreten ist und nun für eine von Saudi-Arabien finanzierte religiöse Lobby-Organisation arbeitet.

Besprochen werden Debussys "Pelleas und Melisande" in Salzburg, Federico Garcia Lorcas Stück "Bernarda Albas Haus" in Wiesbaden, eine Ausstellung mit Fotografien Robert Polidoris in Berlin und Sachbücher, darunter ein Band mit Kolumnen der Moderatorin Sarah Kuttner.

Welt, 10.04.2006

Mit ihrer Tristan-Kulisse für die Berliner Staatsoper feiern die Architekten Jacques Herzog und Pierre de Meuron einen gelungenen Theatereinstand, lobt Kai Luehrs-Kaiser. "Wir blicken, wenn sich der Vorhang hebt, in eine weiß aufgeschnittene Halfpipe, cinemascopehaft langgestreckt. In ihr drücken sich - wie Gemüse unter Zellophan - Kulissenfragmente von hinten in die Membran. Portale, Seile, Wucherungen. Zum Tod bläht sich die Gummizelle zur Blase auf. Ein Tristan als Höhlengleichnis. Nur der Abdruck der Dinge ist hier Realität." Eine Entdeckung am Rande macht Luehrs-Kaiser mit Peter Seiffert, dem wohl besten Wagner-Held dieser Welt". Er "singt mit makellos gehärtetem Tenor seinen ersten Tristan. Stimmlich pumperlgsund, nicht totzukriegen, sendet er noch in der Agonie muntere Zombie-Blicke zum Schnürboden hinauf."

Weiteres: Der Autor Burkhard Spinnen deutet die Entlassung Oliver Kahns als Nationaltorwart als letzten Schritt zur "Task-Force-Unit mit klar definierten Zielvorgaben". Hella Boschmann stellt den frischgebackenen Pritzkerpreisträger und brasilianischen Architekten Paulo Mendes da Rocha vor (hier eine Biografie). Johnny Erling hat beim Konzert der Rolling Stones in Shanghai das satirische Potenzial von "I can't get no satisfaction" erkannt. Sascha Westphal bemerkt, dass Fernsehserien nicht mehr vorrangig für das Fernsehen, sondern für DVD-Nutzer konzipiert werden. Gerhard Midding rühmt den verdrießlichen Gesichtsausdruck des Schauspielers Lino Ventura, von dessen Filmen es nun eine DVD-Edition gibt. Michael S. Cullen würdigt das Berliner Amerika-Haus, das bald dichtgemacht wird.

Als zweite Deutsche nach Rainer Werner Fassbinder wird die Produzentin Regina Ziegler mit einer Retrospektive im Museum of Modern Art gewürdigt, berichtet Peter Zander im Forum. "Sie spielt als einzige in derselben Klasse wie ein Bernd Eichinger oder Stefan Arndt."

Besprochen werden die Dramatisierungen von zwei Romanen des Schriftstellers Christoph Hein in Frankfurt und Leipzig und die Uraufführung von Christian Spucks bisher "überzeugendstem" langen Tanzstück "Der Sandmann" in Stuttgart.

FR, 10.04.2006

Robert Kaltenbrunner, seines Zeichens "Leiter der Abteilung Bauen, Wohnen, Architektur des Bundesamtes für Bauwesen und Raumordnung" bespricht zwei Neuerscheinungen zu urbanistischen Fragen. Besprochen werden außerdem Jan Müller-Wieland Komische Oper "Der Held der westlichen Welt" nach einem Stück von John Millington Synge in Köln und lokale Kulturereignisse. Und In Times mager betrachtet Harry Nutt Jürgen Klinsmanns Ja/Nein-Entscheidung für Jens Lehmann aus systemtheoretischer Sicht.

Berliner Zeitung, 10.04.2006

Nikolaus Bernau präsentiert den siegreichen Entwurf der Künstler Michael Elmgreen und Ingar Dragset für ein Mahnmal, das an die Verfolgung von Homosexuellen während der Nazizeit erinnern und wie folgt aussehen soll: "Ein heller Betonblock steht zwischen den Bäumen des Tiergartens an der Friedrich-Ebert-Straße, gegenüber dem Stelenfeld von Peter Eisenmans Holocaust-Denkmal. Eine Ecke in dieser einzelnen Stele ist geöffnet, drinnen flimmert, man kann es aus der Ferne sehen, ein Film. Aber man muss schon direkt herangehen an den Block, sich an das Fensterchen stellen, um die Irritation der gegeneinander gekippten inneren und äußeren Quader zu erleben und den Film mit zwei sich küssenden Männern zu sehen.
Stichwörter: Bernau, Ebert, Friedrich, Nazizeit

TAZ, 10.04.2006

"Also, ich weiß nicht", schreibt Michael Rutschky über die Schau zu Sigmund Freuds 150. Geburtstag im Berliner Jüdischen Museum. "Viel Ausstellung, können Sie mal wieder seufzen, und wenig Ausgestelltes. Es fehlen Exponate. Hinter der Torte beginnt ein Wald von Leuchtkästchen von der Decke herab zu hängen, die in Großbuchstaben Schlüsselworte der Psychoanalyse verkünden, 'Phobie' und'Vater' und 'Fetisch' und so weiter."

Auf der Titelseite (hier als pdf) sind einige Stimmen zum umstrittenen WM-Besuch von Mahmud Ahmadinedschad versammelt. "Natürlich sollte man Ahmadinedschad nicht zur Fußball-Weltmeisterschaft einreisen lassen", meint etwa der Regisseur Dani Levy. "Bei solchen Leuten bin ich für Härte."

Im Medienteil befragt Steffen Grimberg den Vorstand der britischen Medienaufsicht Ofcom nach Rezepten, die auch in Deutschland wirksam sein könnten.

Besprochen werden Stefan Bachmanns Inszenierung von Wagners "Tristan" an der Berliner Staatsoper, mit einem "brillanten" Daniel Barenboim und einem Bühnenbild der Architekten Herzog und de Meuron, und Konzert der "attraktiven ergrauten" Joan Baez im Berliner Tempodrom.

Tom.

SZ, 10.04.2006

Wolfgang Schreiber staunt über den Dirigenten Daniel Barenboim, der gerade einen faustischen Drang nach "musikalischer Erkenntnis, Tat und öffentlicher Wirkung" an den Tag lege: "Dass Barenboim jetzt bei seinen Berliner Festtagen binnen weniger Tage, ja Stunden so starke Partituren wie 'Tristan' und 'Parsifal' dirigiert und dazu ein Konzert der Staatskapelle (mit Werken von Mahler und Schönberg), dass er sich dazwischen auch noch Bachs 'Wohltemperiertes Klavier' aufbürdet, das alles scheint ihm Flügel wachsen zu lassen... Wie er das Vorspiel zu 'Tristan und Isolde' mit so leidenschaftlichem wie subtilem Zugriff packte und seiner Staatskapelle dabei ein Maximum an Individualität und Schönheit des Klanges abverlangte, es konnte nur Bewunderung auslösen."

Weiteres: Steffen Kraft berichtet von einem deprimierenden Treffen deutscher Podcaster in München: "Der Kongress bestätigte, was schon die erste Podcast-Umfrage unter 2344 Hörern zu Tage gefördert hatte: Podcasten ist keine demokratische, sondern eine männliche Angelegenheit; nur einer von zehn Schlafzimmer-Radiomachern ist eine Frau." Thomas Steinfeld kommentiert den Freispruch für "Sakrileg"-Autor Dan Brown, für den der zuständige Richter offenbar eine überzeugende Begründung vorgelegt hat: 'Es wäre recht eigentlich falsch', erklärte er, 'wenn Autoren fiktionaler Literatur sich in einer Weise der sachlichen und kritischen Prüfung ihrer Texte zu unterwerfen hätten'." Günter Kowa meldet, dass ein verschollen geglaubtes Gemälde von Lyonel Feininger wieder aufgetaucht sei. Gerhard Matzig meldet, dass der diesjährige Pritzker-Preis an den brasilianischen Architekten Mendes da Rocha geht.

Auf der Medienseite leidet Hans Hoff unter dem Elend der Samstagabend-Unterhaltung im deutschen Fernsehen in Zeiten der Vogelgrippe: "Ein Kessel Buntes mit Topfschlagen, Blindekuh und Eierlaufen. Ein großer Kindergeburtstag auf drei Sender verteilt."

Besprochen werden die "hervorragende" Schau "Modernism - Designing a New World 1914-1939" im Londoner Victoria & Albert Museum, Christian Spucks Interpretation von E.T.A. Hoffmanns Nachtstück "Der Sandmann" für das Stuttgarter Ballett, Armin Petras' Adaption zweier Christoph-Hein-Romane am Frankfurter Schauspiel, ein Konzert des Elektronikpop-Duo The Knife in Berlin, James Gartners Basketballfilm "Spiel auf Sieg" und Bücher, darunter Bettina Röhls "So macht Kommunismus Spaß!" und Jiri Kratochvils Roman "Der traurige Gott" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).