Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.05.2003. In der Zeit fragt sich Volker Schlöndorff, warum der deutsche Film nicht ankommt - vor allem nicht in Cannes. In der SZ erkennt Günter Gaus in Bundeskanzler Schröder den Typ des Pyrrhussiegers. Die taz  wirft einen Blick in die Zukunft der Nicht-Arbeit. Die FR findet Schröders "Agenda 2010" zwar nicht schrecklich, aber schrecklich verkauft.

Zeit, 22.05.2003

Volker Schlöndorff befasst sich mit der Frage, warum seit Jahren kein deutscher Film mehr im Wettbewerb von Cannes lief und stellt fest, dass dieses Problem in einem größeren Zusammenhang zu sehen sei: "Beunruhigender als der Geschmack der Jury ist das Schließen der kulturellen Grenzen, während Wirtschaft und Währungen miteinander verschmelzen. Jeder Europäer sieht neben amerikanischen Filmen nur noch seine nationalen Produktionen. Beim Fernsehen ist es fast noch schlimmer... Wenn wir uns zwischen Paris und Washington 'entscheiden' sollen (politisch gemeint), so können wir kulturell bereits Vollzug melden..."

Weitere Artikel: Klaus Hartung feiert I. M. Peis Anbau zum Deutschen Historischen Museum als "Dimensionssprung in der Berliner Museumslandschaft". Thomas Assheuer erklärt in einem ganzseitigen Essay, dass er ja nichts dagegen hätte, wenn die Amerikaner der Welt Demokratie und Freiheit brächten, dass sie aber in Wirklichkeit nur Globalisierung bringen wollten. Jan Ross vermisst die bioethische Debatte, die vor einem Jahr noch die Professorenherzen höher schlagen ließ. Johannes Voswinkel freut sich über die Rekonstruktion des Bernsteinzimmers. Gisela Dachs berichtet, dass Juden irakischer Herkunft ihrer ehemaligen Heimat helfen wollen. Mirko Weber berichtet, dass Wolfgang Rihm in diesem Jahr den Siemens-Preis, den bedeutendsten Preis für Komponisten, erhält. Und Hanno Rauterberg wünschte sich, dass die Hamburger Immobilienkaufleute Hannelore und Helmut Geve, die so viel für die Kunst tun, auch bei ihren baulichen Tätigkeiten einen Rest ästhetischen Empfindens entwickelten.

Besprochen werden der Film "Matrix Reloaded" und die von Harald Szeemann kuratierte Wiener Ausstellung "Blut und Honig" über die neueste Kunst vom Balkan.

Aufmacher des Literaturteils ist Andreas Isenschmids Besprechung der Neuübersetzung von Celines "Reise ans Ende der Nacht". Ulrich Greiner kommentiert, dass die Verurteilung kubanischer Dissidenten bereits "weithin gemeldet" worden sei, und dass sie nur einen "Bruchteil der Untaten darstellt, die täglich auf der ganzen Welt gegen Autoren verübt werden". Außerdem fordert Greiner, dass sich der PEN-Club gegen den Anzeigenschwund in großen Zeitungen engagiert.

Im politischen Teil finden wir einen Essay des Washingtoner Politologen Charles A. Kupchan (Autor von "The End of the American Era"), der eine überraschend gute Meinung von den Europäern hat: "Zwar ist es unwahrscheinlich, dass die USA und die EU durch die Auflösung der atlantischen Allianz zu Feinden werden, mit Sicherheit aber entwickeln sie sich zu ausgeprägten Konkurrenten. Wegen der militärischen Unterlegenheit Europas wird es keine bipolare Welt geben. Weil sich Europa aber entschiedener gegen Amerika behaupten kann, wird die Welt auch nicht unipolar sein." Ein langer Essay mit Kupchans Thesen findet sich in Atlantic Monthly vom letzten November. Der italienische Philosoph Angelo Bolaffi setzte sich vor wenigen Tagen in der FAZ mit Kupchans These auseinander (Zusammenfassung hier).

Hinzuweisen ist schließlich auf Christian Schüles Dossier: "Spanien beginnt, die Franco-Diktatur aufzuarbeiten."

SZ, 22.05.2003

In Günter Gaus (mehr hier) regt sich der Verdacht, dass Bundeskanzler Schröder der Typ eines Phyrrussiegers ist. "Hat es schon einmal einen Bundeskanzler gegeben, der wie der jetzige seinen Amtsverlust durch ein kurzatmiges Obsiegen über seine Gegner im eigenen Lager vorbereitet hat? Der Anteil, den die Mentalität eines Politikers an einer solchen Entwicklung hat, drückt sich unter anderem darin aus, dass nach Abwägen verschiedener Kennzeichnungen des Parteimandats, das Schröder verliehen ist, nicht 'Vorsitzender' der heute 140 Jahre alten SPD .... sondern 'Chef' als die treffende Charakterisierung erscheint. Weder Adenauer noch Kohl, nicht Brandt und auch nicht Schmidt behandelten CDU und SPD wie die Chefs eines Unternehmens zur Herstellung vor allem eines Produkts: der Macht des Unternehmers. Das wird auf Dauer nicht funktionieren ... Nach jedem seiner Basta-Auftritte wirken die unvermeidlich nachfolgenden Kompromisse dann nach außen und innen nicht als Belege politischer Meisterschaft, sondern wie eine Addition halber Niederlagen."

Anlässlich des bevorstehenden Ökumenischen Kirchentags in Berlin kritisiert Joachim Vobbe die Kritiker der Ökumene und schreibt: "Wer angesichts der ökumenischen Basisrealität von oben her den Vorwurf erhebt, hier entstehe ein unbedachter und manchmal nur emotional gefärbter Einheitsbrei der kirchlichen Glaubenswege, der muss sich fragen lassen, ob denn nicht seit Lima 1982 diese Einheit auch in einer durchdachten Form existiert."

Weitere Artikel: Lothar Müller würdigt Walter Höllerer, der Dienstag in Berlin gestorben ist, hier verabschieden sich Michael Krüger (mit dem Höllerer die Zeitschrift Akzente gründete) und Adolf Muschg, der neue Präsident der Berliner Akademie der Künste, vom "Weltverlacher". Jörg Drews schreibt zum Tod des Dichters Moses Rosenkranz (mehr hier). Reinhard J. Brembeck freut sich, dass der Komponist Wolfgang Rihm ("Rebell für eine aus den Fesseln kleinlicher Rationalität entfesselten Musik, die oft kühn dreinpackt und dann wieder selbstvergessen lustvoll meditiert") heute in München den Ernst von Siemens Musikpreis erhält. Tobias Kniebe bespricht Filme von Bertrand Bonello und Vincent Gallo in Cannes.

Besprochen werden Thomas Ostermeiers Berliner "Woyzek"-Inszenierung (die C.Bernd Sucher erregend, spannend und radikal fand), Phillip Noyce Graham-Greene-Verfilmung "The Quiet American" ("Meisterlich ist hier das exotische Ambiente evoziert, wunderbar die film noir-Schattierung der Figuren", schwärmt Rainer Gansera), Diego Lermans Erstlingsfilm "Aus heiterem Himmel" und Bücher, darunter die Neuübersetzung von Celines "Reise ans Ende der Nacht" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 22.05.2003

Andreas Becker stellt weitere Überlegungen zur Zukunft der Nichtarbeit an: "Nichts zu tun ... ist mit einer Menge Aufwand verbunden. Man muss ... ein straffes Zeitmanagement einhalten, das nach außen so wirkt, als habe man immer Zeit und Muße für Freunde, aber nie Zeit zu arbeiten. Während man scheinbar untätig den Tag aussitzt, entwickelt man Projekte in der Fantasie, macht Termine aus, verspricht die irrsten Sachen, erbettelt im letzten Moment einen Platz auf der Gästeliste eines Konzerts und geht dann gar nicht hin. Oder man bucht umständlich einen Billigflug und tritt ihn nicht an..... Es passiert immer irgendwas. Man muss nur alles in Ruhe beobachten, vor allem die Letzten, die noch arbeiten.

Auf einer Tagesthemen-Seite zeichnet Daniela Weingärtner ein Porträt von Jacques Brels Tochter France, die der Stadt Brüssel eine Ausstellung über ihren Vater spendiert hat: "'Ein Mensch verbringt sein Leben damit, seine Kindheit zu kompensieren', hat Jacques Brel oft gesagt. Er war davon besessen, als Kind unglücklicher als andere gewesen zu sein. France Brel, seine mittlere Tochter, sieht ihr Leben nüchterner. Öffentlich zur Schau gestellte Gefühle und Selbstbetrachtungen sind ihre Sache nicht. 'Ich habe meine Kindheit gehasst', sagt sie lakonisch."

Weiteres: Dietmar Kammerer nimmt die Pläne für eine Reform des Filmförderungsgesetztes auseinander. Jörg Magenau schreibt den Nachruf auf Walter Höllerer, und Christina Nord berichtet vom Filmfest in Cannes.

Besprochen werden Diego Lermans Film "Aus heiterem Himmel" (für Delef Kuhlbrodt "ein unglaublich schönes, lakonisches und melancholisches Road-Movie, das zuweilen ein bisschen an Jim Jarmushs 'Stranger than Paradise' erinnert, aber nicht so stylish ist") und Thomas Ostermeiers Schaubühnen-Woyzeck, dem Dirk Knipphals "dicke Eier" bescheinigt.

Und schließlich TOM.



FAZ, 22.05.2003

Zwei Filme des australischen Regisseurs Phillip Noyce hat Andreas Kilb gesehen: "The Quiet American" nach einem Roman von Graham Greene und "Rabbit Proof Fence". Beide Male stand der großartige Christopher Doyle hinter der Kamera. "The Quiet American" ist Greenes "Kommentar zum Ende der französischen Kolonialherrschaft in Indochina", schreibt Kilb. Michael Caine spielt "seine Mitakteure genau so souverän an die Wand, wie man es von ihm erwartet", doch eigentlich liegt ein "ein musealer Hauch" über dem Film, findet Kilb. "Und dann kam der 11. September 2001. In jenem Herbst sollte 'Der stille Amerikaner' in den Vereinigten Staaten anlaufen, doch auf einmal erschien ein Film, der die aus Naivität und kaltschnäuzigem Pragmatismus gemischte Haltung Amerikas zum Fernen Osten wie zum 'alten Europa' beleuchtete, unpassend, geradezu skandalös. Der Miramax-Verleih zog den Film zurück und brachte ihn erst ein Jahr später in die Kinos, wo 'The Quiet American', nun mit dem Nimbus politischer Brisanz versehen, zum Pflichtstoff des liberalen Publikums wurde." (Kritiken zum Film aus der LRB, im New Yorker und dem TLS)

Im Interview erzählt Noyce, wie er den Film doch noch ins Kino gebracht hat. Sein Presseagent hatte neunzig Journalisten angerufen und ihnen erzählt, der Film solle aus politischen Gründen unterdrückt werden, "und es hat funktioniert. So sah sich die Produktionsfirma Miramax auf einmal mit einer hochpolitischen Situation konfrontiert. Und als dann die New York Times - mit einigen von euch Journalisten geht's ja manchmal durch - mit der Theorie aufwartete, der Film werde unterdrückt, weil Miramax-Chef Harvey Weinstein politische Ambitionen in New York oder sonstwo habe und sich für den Film schämte, da ging es auf einmal nur noch um die Alternative: Entweder bringt Miramax den Film ins Kino, oder die Presse geht Weinstein an die Gurgel - auch wenn das Gerücht über seine politischen Ambitionen natürlich nicht stimmte."

Weitere Artikel: Marcel Reich-Ranicki und Peter Rühmkorf schreiben zum Tod des Germanisten und Schriftstellers Walter Höllerer. Wolfgang Sandner war beim Virginia Arts Festival. Alexander Honold schreibt zum Tod des Dichters Moses Rosenkranz (mehr hier). Ein kurze Meldung verkündet, dass ein brasilianischer Richter den Bau eines neuen Guggenheim-Museums in Rio de Janeiro gestoppt hat - wegen "dunkler Punkte", die vor allem die Finanzierung des Projekts betreffen.

Auf der Filmseite gratuliert Hans-Jörg Rother den Freunden der Deutschen Kinemathek zum Vierzigsten. Andreas Kilb beendet seinen Artikel über Filme von Sedigh Barmak, Vincent Gallo und Denys Arcand in Cannes mit dem Wunsch: "Man wollte, es würde Nacht oder die Barbaren kämen. Vielleicht brächten sie ja das Kino von morgen mit." Peter Körte kommentiert das neue Filmförderungsgesetz: "Und so dreht sich weiter alles im Kreise." Auf der Medienseite erzählt uns Michael Hanfeld, warum der Produzent Jan Mojto ("Napoleon", "Papst Johannes XXIII.", "Caesar" und jetzt "Soraya") mit der Karlsmedaille und dem Bayerischen Fernsehpreis ausgezeichnet wird. Andreas Rossmann stellt die neuen Pläne für "Funkhaus Europa", das Fremdsprachenprogramm des WDR vor. Auf der letzten Seite porträtiert Edo Reents den Pink-Floyd-Mann David Gilmore. Lisa Zeitz berichtet von neuesten Forschungen zu Andrea del Verocchios "David" - blond soll er gewesen sein, und den Kopf des Goliath nicht zwischen den Füßen, sondern dahinter gehabt haben. Und Benedikt Stuchtey berichtet von einer Diskussion zum Thema "Marxismus und Geschichte" in London, bei der Eric Hobsbawm vor der Zerstörung aller "positiven Utopien" warnte.

Besprochen werden (schon wieder) der Film "Matrix Reloaded", die Architekturbiennale (homepage) in Rotterdam, der "Poetry-Film" (mehr hier) beim Lyriktreffen in Münster, Bücher, darunter Imre Kertesz' "Die exilierte Sprache" und Reisebücher (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr), und der "Woyzeck" an der Berliner Schaubühne, den Thomas Ostermaier mit "treuherziger Naivität als Häschen in der Sozialgrube verrecken" lässt, so Gerhard Stadelmaier.

FR, 22.05.2003

"Iwan - was für ein Witz. Aber nur ein kleiner, und jetzt kommt ja ohnehin der Schwamm drüber über den missglückten Namen", seufzt auf der Medienseite Markus Brauck. "Da werden sie wohl oder übel ran müssen, die Herren Spin-Doktoren, deren Job es ist, Politik zu verkaufen. Müssen nicht nur Namen gebären, sondern auch Kommunikationskonzepte und Reden und Talkshow-Strategien und überhaupt. Vielleicht klappt das dann ja auch besser als mit der 'Agenda 2010', die ja nicht gerade ein Lehrbeispiel vorbildlicher Politikvermarktung ist. Mal ganz abgesehen von den Inhalten, auch wenn es schwer fällt, lässt sich unschwer vermuten, dass es ein Konzept, wie denn der Schrödersche Befreiungsschlag an Wähler, Partei und Medien vermittelt werden sollte, nicht gegeben hat. Oder es ist rasch in der Schublade verschwunden. Oder es war ziemlich schlecht."

Weiteres: Daniel Kothenschulte erzählt, was er so alles in Cannes gesehen hat, zum Beispiel Vincent Gallos Film "The Brown Bunny": "Die physische Liebe erweist sich als Illusion. Sie ist nur einer jener hämischen Schläge, die glückliche Erinnerungen an die Einsamen auszuteilen pflegen". Peter Iden missfällt Thomas Ostermeiers Inszenierung von Büchners "Woyzeck" an der Berliner Schaubühne, obwohl ihn Jan Pappelbaums Bühne sehr beeindruckt hat. Rudolph Walter berichtet, dass in Frankreich die vorläufige Ruhe an der Kopftuchfront vorüber ist, seit Innenminister Nicolas Sarkozy für Ausweise und Pässe nur noch Fotos akzeptieren will, die die Person barhäuptig zeigen. In der Kolumne Times Mager gibt sich Christian Schlüter Spielen mit den Zahlen 2010 hin, und Roland H. Wiegenstein verabschiedet den Germanisten Walter Höllerer.

Besprochen werden die Ausstellung "Design Berlin! New Projects for a changing city" im BerlinerVitra Design Museum, Phillip Noyces "staunenswert geglückte" Graham-Greene-Verfilmung "Der stille Amerikaner" sowie ein Roman über den Wiener Biedermeier-Dichter Ferdinand Sauter (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).



NZZ, 22.05.2003

In der NZZ gibt es heute nur Besprechungen und Nachrufe. Beatrix Langner schreibt zum Tode des Germanisten, Dichters und "wortbegeisterten Antipathetikers" Walter Höllerer. Marianne Zelger-Vogt berichtet von der Eröffnung des Glyndebourne Festivals, wo mit "Tristan und Isolde" zum ersten Mal eine Wagner-Oper gespielt wird. Uwe Solzmann war bei der Veranstaltung "Melting Pot?" in Sankt Gallen. Markus Ganz will beweisen, das sich hinter Shockrocker Marilyn Manson ein "ebenso kluger wie sensibler Mensch steckt.

Besprochen werden Thomas Ostermeiers "Woyzeck"-Inszenierung in der Schaubühne am Lehniner Platz in Berlin, Matthew Herberts Album "Goodbye Swingtime" (Rezensent Olaf Karnik staunt, dass "ein Pop-Avantgardist wie Matthew Herbert ausgerechnet auf Bigband-Jazz rekurriert"), die Aufführung von Luigi Nonos "Prometeo" im Freiburger Konzerthaus Elisabeth Schwind. Mehrere Elektronika-Alben und Bücher, darunter B. S. Johnsons Roman "Albert Angelo", zwei Bücher, die sich den Wurzeln des Antiamerikanismus nähern sowie Laszlo Darvasis Roman "Die Hundejäger von Loyang" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).