Heute in den Feuilletons

Der Knüppel hängt ständig über deinem Kopf

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.04.2013. In der Welt beschreibt der Putin-Kritiker Alexej Nawalny, wie er mit dem heute beginnenden Prozess gegen ihn mundtot gemacht werden soll. In der NZZ fragt sich Hannelore Schlaffer, warum man heute lieber Biografien über Schriftsteller statt deren Werke liest. Die taz berichtet vom Filmfestival in Istanbul, wo man sich gegen die Gentrifizierung wehrt. In der FAZ spricht Christoph Waltz über den "Rosenkavalier", den er in Antwerpen inszenieren wird. In der SZ schildert Arundhati Roy den brutalisierten Alltag in Indien.

Welt, 17.04.2013

Heute beginnt in Russland der Prozess gegen Putinkritiker Alexej Nawalny. Ihm wird vorgeworfen, eine kriminelle Gruppe organisiert und für 16 Millionen Rubel Holz gestohlen zu haben. Die Anklage ist absurd, schreibt Nawalny, aber folgerichtig. Denn wenn er wegen eines schweren Verbrechens verurteilt wird, dürfte er sich wohl nicht zur Wahl stellen: "Damit würden sie eine pragmatische Aufgabe lösen - Nawalny daran zu hindern, an den Wahlen ins Moskauer Stadtparlament und an den Bürgermeisterwahlen teilzunehmen. Dazu kommt ein Verbot, Moskau zu verlassen, damit ich nicht durchs Land reisen kann. Und jede Ordnungsstrafe, zum Beispiel, wenn ich bei einer Demonstration festgehalten werde und 15 Tage Haft bekomme, würde aus der Bewährungsstrafe eine reale Strafe machen. Anders gesagt: Bleib zu Hause, verhalte dich still, der Knüppel hängt ständig über deinem Kopf."

Weitere Artikel: Cosima Lutz beobachtet mit Unbehagen einen Trend zur Selbstversorgung, nachdem das Jahr 2013 gleich mit drei Lebensmittelskandalen begonnen hat. Alan Posener schaudert schon bei der Aufzählung der Lobbygruppen, die bei einer Anhörung im Bundestag mehr Geld für den deutschen Film forderten.

Besprochen werden Andreas Homokis Inszenierung von Schostakowitschs "Lady Macbeth von Mzensk" am Opernhaus Zürich und eine Ausstellung der "Die Schätze des Hauses Alba" in Madrid, die Manuel Brug nutzt, um ein kleines Loblied auf die "mit 87 Jahren durchaus rüstige, vor allem mit einem losen, auch nach diversen Schönheitsoperationen nicht fixierten Mundwerk ausgestattete 18. Herzogin von Alba" zu singen. (Links die 13. Herzogin von Alba und ihr Pudel, beide mit roter Schleife geschmückt und von Goya verewigt.)

TAZ, 17.04.2013

Thomas Groh berichtet vom Filmfestival in Istanbul, dessen politischer Schwerpunkt sich in den Protesten gegen die Gentrifizierung der Stadt und den Abriss des traditionsreichen Emek-Kinos auf der Straße fortsetzte: "Seit Jahren formiert sich dagegen ein breiter Protest, als dessen Fürsprecher vor allem auch das Istanbuler Filmfestival auftritt, das die Nutzung des Gebäudes als Filmzentrum fordert. Ihren Höhepunkt erreichten die Proteste, als die Polizei vergangene Woche einen von zahlreichen Festivalgästen, darunter von Regisseuren, Schauspielern und Filmkritikern, unterstützten Demonstrationszug unmittelbar vor dem Kino unter Einsatz von Tränengas brutal auflöste: Szenen, wie man sie im Zusammenhang mit einem Filmfestival höchstens in den bewegten späten 60ern erwartet hätte." Costa-Gavras war natürlich dabei!

Besprochen werden Thomas Darnstädts Blick auf die Justiz "Der Richter und sein Opfer" und Coco Rosies neues Album "Tales of a GrassWidow", auf dem Julian Weber einen Shuffle-Beat entdeckt hat, den sich Aphex Twins nicht "fieser und schwindliger" hätten ausdenken können:



Schließlich Tom.

NZZ, 17.04.2013

Hannelore Schlaffer untersucht die neue Mode der biografischen Literatur, die sie einerseits dem universitären Abschied von der Theorie zuschreibt, andererseits der Sehnsucht nach Glanz und Ruhm, die der alltagsfixierte Gegenwartsroman nicht mehr liefere: "Die Einstimmung in einen vertraulichen Umgang mit Personen, Verhältnissen und literarischen Figuren, die dem Leser eigentlich so vertraut nicht sein können, bereitete das Fernsehen vor. In den beliebten Talkshows wird Politik auf persönliche Meinung, Literatur auf Erlebnis zurückgeführt. Beim Literaturgespräch im Fernsehen interessiert das Werk als Bekenntnis seines Autors und verschwindet hinter der beichtenden Person. Die Biografie wiederholt diese Haltung im Buch und kompensiert zudem den Nachteil, den der tote Autor dem lebenden gegenüber hat, der selbst auftreten kann."

Ronald Gerste berichtet von einem hässlichen Gezerre um die historische Stätte Wounded Knee: Der Besitzer will das Gelände für 4 Millionen Dollar verkaufen, die dort lebenden Oglala Sioux können das Geld natürlich nicht auftreiben: "Dass irgendjemand den Bewohnern von Wounded Knee finanziell zu Hilfe kommt, erscheint kaum denkbar."

Besprochen werden eine Aufführung von Alfred Jarrys "Ubu Roi" der Theatergruppe Cheek by Jowl im Londoner Barbican, Hans Beltings "Geschichte des Gesichts" und Quentin Skinners Untersuchung "Die drei Körper des Staates" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Aus den Blogs, 17.04.2013

Die Auflage der FR ist nach dem Kauf durch die FAZ weiter gesunken und beträgt nur noch 87.136 verkaufte Exemplare, meldet turi2: "Die Aboauflage blieb dabei nahezu stabil bei knapp 68.000, dagegen reduzierte der neue Besitzer die unrentablen sonstigen Verkäufe um 90 Prozent und die Bordauflage um 30 Prozent. Allerdings brach auch der Einzelverkauf um fast 60 Prozent ein."

Hier "iSteve", der erste Spielfilm über Steve Jobs in voller Länge.

Das Designblog Dezeen präsentiert Ron Arads mit dem 3D-Drucker gefertigtes Sonnenbrillenmodell:


Weitere Medien, 17.04.2013

Im Interview mit Arno Widmann in der FR spricht Thomas Struth über seine Arbeit - und darüber, was ihn von den großen Fotojournalisten untescheidet: "Ich bin dafür zu langsam. Ich habe mich sehr in die Aufnahmen von Henri Cartier-Bresson vertieft. Ein Großteil sind Porträts berühmter Leute. Strawinsky, Ezra Pound usw. Ich bin nicht so schnell. Ich habe zwar ein schnelles Auge, ich sehe diese Momente, aber meine Motorik funktioniert anders. Ich will den Moment eher vermeiden."

FAZ, 17.04.2013

Christoph Waltz wird im Dezember in Antwerpen den "Rosenkavalier" inszenieren. Im Gespräch mit Eleonore Büning entpuppt er sich als eifriger Operngänger, der auch Neue Musik nicht scheut - wohl aber ein allzu krasses Regietheater: "Ein Regisseur muss erst mal eine Geschichte erzählen wollen. Dass das schiefgehen kann, ist erlaubt, und manchmal ist es sogar gut. Wenn ich aber eine andere Geschichte erzähle, als die von Strauss und Hofmannsthal, dann brauche ich ja nicht unbedingt deren Stück herzunehmen, nur, damit ich was zum Verbiegen habe! Dann kann ich doch gleich meine eigne Story erfinden."

Weitere Artikel: Jürg Altwegg macht nach den Enthüllungen über den Minister Jérôme Cahuzac eine Raserei der Transparenz in Frankreich aus, wo sich nun alle Politiker, auch der Linken, gezwungen sehen, ihre zum Teil stattlichen Vermögen zu beziffern. Karen Krüger berichtet mit Blick auf türkische Reaktionen zum NSU-Verfahren in München über die lahmende Demokratisierung der Justiz in der Türkei selbst - die Böll-Stiftung hat dazu ein Kolloquium organisiert. Melanie Mühl führt beredte Klage über das inzwischen selbst für FAZ-Redakteure unerschwingliche Westend in Frankfurt. Ernst Jünger hat letzte Worte Sterbender gesammelt, die demnächst in einem Buch präsentiert werden - auf einer Seite bringt die FAZ einen Auszug. Gina Thomas verfolgte eine Londoner Podiumsdiskussion über den Einfluss von Amazon auf die Verlagswelt. Auf der Medienseite schreibt Nina Rehfeld über die Berichterstattung zu den Bostoner Bombenanschlägen im amerikanischen Fernsehen.

Besprochen werden ein Konzert Lana del Reys in Berlin, eine Ausstellung mit Modefotografien Erwin Blumenfelds in Essen (Foto), der Film "Eine Dame in Paris" mit Jeanne Moreau und Bücher, darunter ein Gedichtband Robin Robertsons (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Das gestrige Gespräch mit William T. Vollmann steht nun online.

SZ, 17.04.2013

Tobias Matern spricht mit der Schriftstellerin und Aktivistin Arundhati Roy unter anderem über den brutalisierten Alltag in Indien: "Die Gewalt geht nicht nur vom Staat aus, sie ist an Mobs ausgelagert worden. Es gibt Mobs, die Muslime verfolgen, auch Künstler, Schriftsteller, Akademiker ... Die Polizei schaut nicht nur zu, wie der Mob attackiert, wen er möchte. Die Medien werden zuvor benachrichtigt, um das Spektakel zu übertragen."

Im Feuilleton singt Andreas Zielcke ein Loblied auf die Frauenquote: Es sei "keiner weiteren Generation junger und aufsteigefähiger Frauen mehr zuzumuten, die Realisierung ihres Gleichheitsrechtes nur in den Sternen zu sehen". Alexander Menden berichtet von der Eröffnung der Londonder Buchmesse, deren Schwerpunktland in diese Jahr die Türkei ist. Auf der Medienseite berichtet Sonja Zekri über gegängelte ägyptische Journalisten.

Auf Seite Drei streifen Peter Richter, Nicolas Richter und Jochen Arntz durch das vor Schock starre Boston nach dem Bombenanschlag: Die nachts rot-blau kreisenden Lichter auf dem Polizeihauptquartier "tauchen den Schlaf der Stadt in die Atmosphäre einer Intensivstation". Im Kommentar erklärt Stefan Kornelius: "Die gleichen Mechanismen, die vor elfeinhalb Jahren den Lauf der Geschichte verändert haben, funktionieren noch immer: der Anschlag auf die ahnungslose Menge, die lähmende Wirkung unzähliger Bilder, der symbolische Ort, die kollektive Furcht."

Besprochen werden neue Popveröffentlichungen, David Böschs "Idomeneo" am Theater Basel, eine Ausstellung über Guy Debord in der französischen Nationalbibliothek in Paris, eine rund um Kafkas "Mäusebrief" gruppierte Ausstellung im Deutschen Literaturarchiv in Marbach und Bücher, darunter Peter Buwaldas Roman "Bonita Avenue" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).