Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.04.2004. In der taz revoltieren zwei Mercedes-Manager gegen das System. In der FAZ schildert der iranische Autor Amir Hassan Cheheltan die absurde Atmosphäre in seiner Stadt Teheran. In der SZ plädiert der Soziologe Gerhard Schulze für die Verlängerung der Arbeitszeit. Die NZZ beobachtet die Arbeit der Gacaca-Gerichte, die den Völkermord in Ruanda aufarbeiten.

TAZ, 05.04.2004

Zu ihrem fünfundzwanzigsten Geburtstag will die taz in einer Serie über die Zukunft nachdenken. Eckard Minx und Harald Preissler, Forscher bei Daimler Chrysler (!), eröffnen den Reigen auf der Tagesthemenseite mit fünf Thesen zu einer Erneuerung des Denkens und entfalten dabei eine Art Anti-Systemtheorie: "Der Mensch, als selbstbewusst handelndes Wesen ausgestattet mit mehr oder weniger Entscheidungsfreiheit und Verantwortung, scheint verloren zu gehen. Ob Gentech, Wirtschaftspolitik oder Bildung, die Entscheidungen folgen implizit meist einer 'Benchmark-Logik': 'Wir müssen das tun, damit wir im Wettbewerb nicht zurückfallen', 'Die machen das, wir müssen es auch tun' etc. Damit folgen die Entscheidungen systemintern vorgegebenen Sachzwängen, und die Menschen werden so zu Erfüllungsgehilfen, die nach Mitteln suchen, diese systemischen Vorgaben zu erreichen. Was dagegen fehlt, sind authentische Aussagen realer Menschen über die jeweiligen Vorstellungen anzustrebender Ziele ... Deshalb lautet unsere fünfte These: Im Bewusstsein der Ambivalenz von Personalisierung gilt: Die verantwortlich handelnde Persönlichkeit muss wieder erkennbar werden, und zwar in ihrer Rolle im System.".

Zum Sechzigsten schenkt die taz dem Kanzler eine Kurzgeschichte des chinesischen Schriftstellers Wang Xiaobo (viel gibt es nicht über ihn). Als Schweinehirte hatte der eine Lieblingssau, die immer zuerst an den Trog durfte. "Während es fraß war der ganze Stall immer erfüllt vom wütenden Geheul und Geschrei der anderen Schweine. Das machte aber weder mir noch ihm etwas aus. Wenn es sich satt gegessen hatte sprang es auf das Dach, um sich zu sonnen oder verschiedene Geräusche nachzuahmen. Es hatte gelernt, Geräusche von Lastwagen und Traktoren von sich zu geben, und das täuschend echt."

Weitere Artikel: Sebastian Handke blättert in den gediegenen Kulturessays der "Neuen Rundschau". Clemens Niedenthal stöhnt über die amateurhaft inszenierte Grimme-Gala. Besprochen werden die Vivienne Westwood-Retrospektive im Londoner Victoria & Albert Museum und Stephan Kimmigs Version von Aki Kaurismäkis Theatervariante seines Films "Wolken ziehen vorüber": "Entstanden ist ein verblüffend glaubwürdiges Märchen", staunt Katrin Bettina Müller.

Schließlich Tom.

FR, 05.04.2004

Einen neuen metaphysischen Realismus hat Jossi Wieler da erfunden, schwärmt Peter Michalzik in seiner Besprechung der Inszenierung von Paul Claudels "Mittagswende" in den Münchner Kammerspielen. "Es liegt an der überzeugenden Lösung für das unlösbare Problem, wie Claudels heiße Liebes- und Nichtliebesschwüre heute zu sprechen sind, die Jossi Wieler für Sprache und Körpersprache gefunden hat, dass diese Aufführung die abgründigste Etüde über die Liebe geworden ist, die das Theater in den letzten Jahren gesehen hat."

In der Anerkennung liegt für den katholischen Priester Herbert Froehlich in seinem Beitrag zur FR-Toleranzdebatte der Schlüssel, um den Terror zu beenden. "In dem Maße, wie die globale Politik aufhört zu demütigen, wird der weltweite Terrorkrieg an gläubigen Anhängern verlieren. Wer in Gaza-Stadt leben kann, wird nicht in Tel Aviv als Bombe enden wollen. Wohl wird es immer wieder Desperados geben, die von dem einmal erprobten Mittel nicht lassen wollen. Diese werden die Herausforderung ihrer eigenen Volksgenossen sein."

Weitere Artikel: Silke Hohmann erinnert an den Jugendverschwender mit Heilsqualitäten Kurt Cobain. Der Grunge Star und Sänger von Nirvana erschoss sich vor zehn Jahren (ob es nicht doch Mord war, wird hier beeindruckend ausführlich diskutiert). Dirk Fuhrig bringt uns in Sachen Helmut-Newton-Museum und Ehrengrab auf den neuesten Stand. In Times mager grübelt Harry Nutt über Musikzitate bei Demos und in der Werbung. Die Dokumentationsseite ist dem Entwurf eines Informationsfreiheitsgesetzes gewidmet, den Bürger- und Berufsverbände nun vorgelegt haben.

SZ, 05.04.2004

Die Proteste gegen Arbeitszeitverlängerung hält der Soziologe Gerhard Schulze (mehr) für ein bloßes Scheingefecht. Die meisten hätten die Zeichen der Zeit verstanden. "Das Ende von Verdrängung und Schönfärberei geht einher mit neuer Komplexität - nicht der sozialen Wirklichkeit, denn die war immer schon komplex, sondern ihrer Wahrnehmung. Allmählich bildet sich ein Bewusstsein für wirtschaftliche und kulturelle Zusammenhänge heraus. Allmählich verlagert sich der Focus von Gruppeninteressen zu Kollektivgütern. Allmählich gibt der deutsche Pessimismus Anlass zu Optimismus. Die Diskussion über die Verlängerung der Arbeitszeit scheint nur ein weiterer Anlass zur Frustration zu sein, doch in Wahrheit ist sie ermutigend, weil sich in ihren latenten Mustern die langsame Verbesserung der Formen kultureller Selbstbeobachtung zeigt." (Und als nächstes schaffen die Professoren von selbst das Forschungssemester ab.)

Bewunderung und Tadel zugleich verteilt Reinhard J. Brembeck an Simon Rattle und seine Berliner Philharmoniker, die Mozarts "Cosi fan tutte" in Salzburg mit großer Geste die Erotik austrieben. "So nehmen sie in bester Spiellaune die Partitur als absolute Musik und exerzieren vor, was ein phantastisch hochtrainiertes Superensemble zu leisten vermag. Das ist wie eine Olympiade, wie ein Kanonenschuss auf Spatzen. Vor lauter brillanten Noten ist dann kein Platz mehr für Theatermusik, vor lauter Überbewusstheit verflüchtigen sich Eleganz, Schmiss und Charme. Vor allem bleibt kein Platz für Erotik - und das in diesem Stück, wo sich die Körper nur nach einem sehnen, nach Sex, Sex, Sex."

Weitere Artikel: Mit dem Patent Nummer 1121015 (hier der Datensatz) zur Verwertung von tiefgefrorenen Embryonen hat das Europäische Patentamt in München schon im November "kühl und rasch und unbemerkt" den neuen Menschen erschaffen, zürnt Alexander Kissler. Hera. sorgt sich um die Privatsphäre, wenn Google seinen nach werberelevanten Schlagwörtern durchforstbaren G-Mail-Dienst startet (hier die Beta-Version). Gerhard Persche unterhält sich mit dem behinderten Sänger Thomas Quasthoff über Professionalität und Politik.

Auf der Medienseite porträtiert Julia Bonstein den "Tatort"-Pathologen Joseph Bausch, im wahren Leben Gefängnisarzt. Klaus Ott vermeldet, dass SAT1 und RTL sich bei der EU gegen gesetzliche Auflagen für ihre Regionalprogramme wehren. "Wie nett, wie absichtsvoll, wie öffentlich-rechtlich", ätzt chk. über Thomas Gottschalks Benimm-Show. "Verehrung auch."

Besprochen werden Jossi Wielers "vornehm geflüsterte" Inszenierung von Claudels "Mittagswende" an den Münchner Kammerspielen, die "außerodentliche Gesamtschau" des bildnerischen Werks von Georg Baselitz in der Bonner Bundeskunsthalle, Ousmane Sembenes grimmige Filmkomödie "Faat Kine", Alexander Sokurovs "tollkühnes" Filmexperiment "Russian Ark" auf DVD, Jakob Schäuffelens Beziehungskomödie "Abgefahren", und Bücher, darunter Christian Geulens Diskurs über den Zusammenhang zwischen Rassentheorien und Nationalismus im 19. Jahrhundert sowie Marcus Jensens zweiter Roman "Oberland" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Joachim Sartorius präsentiert "Holiday Inn Blues", ein unveröffentlichtes Gedicht von Hans Magnus Enzensberger. Eine Kostprobe:
"Die dumme Kunst,
die dich pink angähnt,
ein Telephon, das nicht klingelt -
das ist alles."

NZZ, 05.04.2004

Almuth Schellpeper berichtet über die Arbeit der Gacaca-Gerichte in Ruanda. Diese Volkgerichte sollen in beschleunigten Strafverfahren die Verbrechen des Genozids aufklären und zur Versöhnung in der Bevölkerung beitragen. Doch die fehlende psychologische Unterstützung und die beschränkten Mittel des Landes könnten die Gacaca-Prozesse - und auch die unabhängigen Richter - massiv beeinträchtigen und die Aussöhnung gefährden, so Schellpepper. Dennoch haben viele Ruander Hoffnung: "Ich habe verstanden, worum es bei Gacaca geht. Es waren Ruander, die den Genozid angezettelt haben. Ruander müssen das Problem lösen und nach der Wahrheit suchen, nicht die Kirche oder das Gesetz, sondern wir Ruander. Deshalb glaube ich bis heute an Gacaca", zitiert Schellpeper einen Zeugen.

Weitere Artikel: Aldo Keel berichtet über Norwegens Leidenschaft für Biografien und den "skandinavischen Streit" darüber, was ein Leben ist. Besprochen werden Mozarts "Cosi fan tutte" in Salzburg, das Ballett "Daphnis et Chloe" im Zürcher Opernhaus, die Ausstellung "Body Display" zum Thema Körper und Ökonomie in der Wiener Secession und Jossi Wielers Inszenierung von Paul Claudels "allegorischem Seelendrama" "Mittagswende" in den Münchner Kammerspielen.

FAZ, 05.04.2004

Der iranische Autor Amir Hassan Cheheltan schildert die "absurde Atmosphäre" seiner Stadt Teheran, in der sich die wichtigsten Ereignisse dadurch auszeichnen, dass sie nicht stattfinden. So ging es neulich auch mit der Vollversammlung des Schriftstellerverbands: "Sie hatten uns die Durchführung der Sitzung per Anruf verboten. Da wir ihre Begründungen nicht akzeptierten, luden sie uns zu einer Behörde ein, deren Portal kein Namensschild trug. Eine Einladung ist selbstverständlich höflicher als eine Vorladung, und sie haben uns wirklich höflich behandelt. Dort erklärten sie uns, wir sollten auf die Abhaltung der Vollversammlung verzichten. Wir fragten sie, ob dies eine Anweisung sei, und sie lächelten."

Weitere Artikel: Im Aufmacher setzt der biologische Kybernetiker Holk Cruse den Akademikerstreit um unser Hirn und seinen freien Willen fort und will trotz seiner Herkunft aus den Naturwissenschaften und der neuronalen Verschaltetheit all' unserer Entscheidungen nicht völlig auf die Begriffe der Freiheit und der Schuld verzichten. Julia Spinola ist mit Ursel und Karl-Ernst Herrmanns offensichtlich ein wenig apart geratener "Cosi"-Inszenierung in Salzburg nicht ganz zufrieden, während sie Simon Rattle und den Berliner Philharmonikern kammermusikalische Beredtheit attestiert.

Besprochen werden ferner ein "Wallenstein" in Freiburg, Tschechows "Möwe" in Bochum, Schostakowitschs "Lady Macbeth von Mzensk" in London, eine Ausstellung mit 18 neuen Gemälden Lucian Freuds in der Londoner Wallace Collection, eine "Daphnis und Chloe"-Choreografie Heinz Spoerlis in Zürich und eine Ausstellung des Künstlers und Komponisten Carl Michael von Hauswolff, der sich mit paranormalen Tonbandaufnahmen des Psi-Forschers Friedrich Jürgenson auseinandersetzt.

Auf der Medienseite resümiert Michael Hanfeld die Grimme-Preisverleihung am Samstagabend als "traurig-trist-vorgestrige Veranstaltung". Franz Solms-Laubach empfiehlt die aktualisierte Fernsehdokumentation "Fenster zur Freiheit", mit deren erster Version die Dokumentarfilmer Bernd und Heidi Umbreit eine zu unrecht Verurteilte zur Begnadigung verhalfen. Und Peter Lückemeier meldet, dass der Hessische Rundfunk in seiner Sportredaktion aufräumt.

Auf der letzten Seite schreibt Paul Ingendaay eine Hymne auf den spanischen Autor Francisco Ayala, der in den Circulo de Lectores aufgenommen wurde und übrigens jüngst im Alter von 97 Jahren sein erstes Buch auf deutsch veröffentlichte. Und Konrad Schuller porträtiert den türkischen Religionsminister Mehmet Aydin, der eine Synthese von "wahrem Islam" und "wahrer Demokratie" herbeiführen will.