Heute in den Feuilletons

Lächeln im Kolkrabengesicht

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.01.2013. In der FR entwirft Robert Menasse Umrisse eines schlanken Europas, auch als Gegensatz zu national ausgefetteten Demokratien. Die NZZ beleuchtet die prekäre Situation der syrischen Christen. In der Welt lernt Dustin Hoffmann die Höflichkeit der Regisseure zu schätzen. Kontrovers wird Steven Spielbergs "Lincoln"-Film aufgenommen: Groß findet ihn die FAZ, besonders aber Daniel Day-Lewis, die taz moniert sein Geschichtsmodell, in dem allein der große weiße Mann agiert.

Weitere Medien, 23.01.2013

In einem langen Interview in der FR/Berliner Zeitung erklärt der österreichische Autor Robert Menasse, wie er sich Europa und eine europäische Demokratie in der Zukunft vorstellt: Der Europäische Rat wird abgeschafft, die Europäische Kommission direkt von den Abgeordneten des Europäischen Parlaments gewählt, der Nationalstaat hat ausgedient, die Regionen spielen die Hauptrolle. "Wir müssten nun die Frage stellen: Wie könnte ein neues Demokratiemodell ausschauen? Eines, das die nationalen Demokratien ablöst und der Idee eines nachnationalen Europas entspricht. Das Problem ist aber, die Menschen wollen keine andere Demokratie. Dort, wo sie demokratietheoretische Defizite ausmachen, wollen sie es national ausgefettet haben, sie fordern mehr plebiszitäre Elemente. Ich beginne mich davor zu fürchten. In Österreich wird derzeit diskutiert, verstärkt plebiszitäre Elemente einzuführen. Ich halte das für gemeingefährlich. Dann haben wir in zwei Wochen die Todesstrafe und in vier Wochen rollen die Deportationszüge mit Ausländern aus Österreich hinaus."

NZZ, 23.01.2013

Mona Sarkis beleuchtet die Lage der Christen in Syrien, die auch durch eigene dogmatische und ethnische Differenzen zunehmend marginalisiert wurden: "Das prekäre Selbstgefühl der syrischen Christen, die sich infolge der eigenen theologischen Streitigkeiten wie auch durch die lange muslimische Herrschaft stets als Minderheiten empfanden, verschärfte sich in den vier Jahrzehnten der Asad-Diktatur nochmals. Die Drohungen des Machthabers, der als einzige Alternative zu seinem Regime eine Machtergreifung der muslimischen Extremisten an die Wand malte, fruchtete: Syriens Christen trugen den vor zwei Jahren vor allem von Sunniten begonnenen 'Aufstand der Würde' mehrheitlich nicht mit. Dies macht sie mittlerweile zunehmend zu Fremdkörpern im eigenen Land."

Weiteres: Beatrice von Matt schreibt zum Tod des Schriftstellers Jörg Steiner. Besprochen werden die Auguste-Herbin-Retrospektive im Musée Matisse in Le Cateau-Cambrésis (links sein "Joie" von 1957), Boccaccios "Dekameron" in neuer Übersetzung, Mark Twains Autobiografie und Band 11 des Historischen Lexikons der Schweiz (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Welt, 23.01.2013

Im Alter von 74 Jahren hat Dustin Hoffman seinen ersten Film als Regisseur gedreht, "Quartett". Im Gespräch mit Hanns-Georg Rodek erklärt er, was für ihn am schwierigsten war: "Als Schauspieler bin ich es seit 45 Jahren gewohnt, morgens vom Regisseur mit einem freundlichen 'Hallo, wie geht's?' begrüßt zu werden. Und ich hatte keine Ahnung davon, was alles auf diesen Regisseur einstürmt. Vielleicht ist ihm gerade ein Drehort geplatzt, ein Schauspieler abgesprungen, ein Kamerakran kaputtgegangen - aber er lässt es seine Schauspieler nicht spüren."

Weitere Artikel: Tilman Krause konstatiert zwar, dass der neue niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weill aus einer Parallelklasse seines Gymnasiums in Hannover kommt - aber er kann sich auf Teufel komm' raus nicht an ihn erinnern. Reinhard Wengierek sieht sich die Jubiläums-Inszenierungen des Dresdner Schauspielhauses an, dass hundert wird. Und Hans-Joachim Müller gratuliert Georg Baselitz zum 75. Geburtstag. Alan Posener schreibt in seiner Kolumne "J'accuse" zur Umbenennung der GEZ in "Beitragsservice": "Wenn das Schule macht, wird aus der Steuer eine 'Patriotismusabgabe'.

Auf der Forumsseite präsentiert Gunnar Heinsohn einen kleinen Essay zur Frage, wie man heutigen Schülern den Unterschied zwischen Kritik an Israel und Antisemitismus erklärt.

TAZ, 23.01.2013

Auch wenn Daniel Day-Lewis das "Komplettprogramm an kauzigem Method Acting" auffahre - als Drama über die Abschaffung der Sklaverei überzeugt Steven Spielbergs "Lincoln" Simon Rothöhler nicht: "Die Emanzipation erscheint dabei so eindimensional wie in längst obsoleten Geschichtsmodellen: Ganz allein Produkt der humanen Geste eines großen weißen Mannes, der auch noch Märtyrer genug ist, sich der Behäbigkeit demokratischer Institutionen auszusetzen... Kein einziges Bild widmet 'Lincoln' der historischen Realität des versklavten Amerika. Nicht ein einziger Satz in diesem so wortreichen Film spricht von Selbstermächtigung."

Besprochen werden Tim Burtons Animationsfilm in Schwarzweiß "Frankenweenie", Tilman Köhlers Bühnenfassung von Christa Wolfs "Der geteilte Himmel" am Staatsschauspiel Dresden und Felix Haslers Streitschrift gegen die Hirnforschung "Neuromythologie" (siehe auch unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr)

Und Tom.

SZ, 23.01.2013

Heinz Bude grübelt über den Begriff der "Generationengerechtigkeit" nach, findet aber keine gültige Definition. In Frankreich ist die Homo-Ehe akzeptiert, jetzt streitet man darüber, welche Konsequenzen das in punkto Adoption und künstliche Befruchtung hat, berichtet Joseph Hanimann. Eva-Elisabeth Fischer verabschiedet sich von der Tänzerin Konstanze Vernon. In der Popkolumne darf diesmal Jens-Christian Rabe seine Lieblingsveröffentlichungen von 2012 vorstellen. Insbesondere in den Alternativ-Pop auf dem Debütalbum der britischen Band Alt-J hat er sich verliebt:



Besprochen werden Steven Spielbergs neuer Film "Lincoln", eine Aufführung von Wagners komischer Oper "Das Liebesverbot" im Münchner Prinzregententheater (Helmut Mauró wähnt sich "gefangen in einem Komödienstahlbad, aus dem es kein entspanntes Entrinnen mehr gibt"), eine Ausstellung mit Animationsfilmen von Thomas Demand in Montreal und Bücher, darunter Robert Pfallers Streitschrift wider die Lustfeindlichkeit, von der es hier eine Leseprobe gibt (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 23.01.2013

Trotz mancher Schwäche "ist alles groß und leuchtet" in Steven Spielbergs Film "Lincoln", schreibt Andreas Kilb. Und dann ist da noch der Darsteller des Abraham Lincoln: "So, wie Daniel Day-Lewis ihn spielt, mit marionettenhaften Bewegungen, wurmstichiger Stentorstimme und linkischem Lächeln im Kolkrabengesicht, scheint er mit Lincoln selbst im Jenseits über seine Rolle konferiert zu haben, so restlos ist dessen Statur und Physiognomie in ihn übergegangen."

Weitere Artikel: Jürgen Kaube amüsiert sich über die Deutungskunst der Wahlstudios, die für jede noch so kleine Prozentverschiebung stets eine plausible Erklärung zur Hand hat. Dirk Schümer wundert sich, dass auf den Apple-Karten im Ipad alle deutschen Städte und Dörfer in den ehemaligen Ostgebieten noch ihre deutschen Namen tragen. Julia Voss unterhält sich mit der Museumspädagogin Susanne Keuchel über die Chancen ihres Fachs. Die Fernsehmoderatorin Tina Mendelsohn macht sich Gedanken über Frauenrechte in Deutschland. Auf der Medienseite wird die br-Radioserie "Die Quellen sprechen" vorgestellt, in der Texte aus der Quellenedition "Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945" (Leseprobe) und mit Interview der Herausgeber erläutert werden.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Fotografien Margaret Bourke-Whites in Berlin, ein "Parsifal" in historischer Aufführungspraxis in Dortmund, eine Ausstellung über die Maler-Familie Brueghel in Rom und Bücher, darunter ein Erzählungsband Herbert Rosendorfers (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).