Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.08.2002. In der FAZ meditiert Abdelwahhab Meddeb über den Niedergang des Islams. Die NZZ meditiert über den Niedergang der Internetforen. Die SZ setzt sich für Tierrechte ein. Die taz erzählt die Geschichte der japanischen Kunstmuseen, die nie ein Problem mit dem Kommerz hattten. Die FR stellt fest: In Belgrad ist die Decke der Normalität dünn.

SZ, 06.08.2002

Sonja Zekri berichtet über eine Firma, die Menschen im Internet auffordert, sich Logos ihrer Lieblingsmarken als Werbung eintätowieren zu lassen (wir haben sie allerdings im Internet nicht wiedergefunden). Es war nur ein Fake. Aber Apple-Fans lassen sich tatsächlich das Logo ihrer Liebelingsmarke in die Haut ritzen (geschmacklos!). "Christof Koch etwa, Professor für Informatik und Neuronale Systeme am California Institute of Technology, trägt am linken Arm das Logo seiner Lieblingsmaschine als ewiges Bekenntnis, einen prächtigen regenbogenfarbenen Apfel, den 'Apple', Symbol für seinen Macintosh-Computer... 'Ich glaube nicht, dass es Menschen gibt, die ein Microsoft-Tattoo tragen', sagt Christof Koch." Dafür gibt es eine Menge Menschen, die Microsoft benutzen! (Und übrigens handelt es sich unserer Meinung nach um Kochs rechten Arm.)

Nach der Verankerung der Tierrechte im Grundgesetzt plädiert Burkhard Müller-Ulrich nun auch für Konsequenzen in der täglichen Praxis: "Würde man zum Beispiel bei der Herstellung von Katzenfutter die Endverbraucher selbst zu Rate ziehen, dann stünden in den Supermarktregalen nicht nur die Geschmacksrichtungen 'mit Fisch' oder 'mit Leber', sondern vor allem auch 'mit Rotkehlchen', während beim Hundefutter die beliebteste Sorte vermutlich 'mit Katze' hieße."

Weiteres: Julia Encke analysiert Edmund Stoibers Verhältnis zu den Frauen (langweilig, der Mann ist seit 34 Jahren verheiratet!). Joachim Riedl berichtet über einen geplanten Hochhausbau in Wien, der angeblich das Weltkulturerbe des historischen Stadtkerns gefährdet. Florian Coulmas konstatiert pünktlich zum Jahrestag, dass sich Amerika mit der Erinnerung an Hiroshima und Nagasaki immer noch schwer tut. Maike Albath schreibt zum Tod des Schriftsteller Franco Lucentini.

Besprochen werden die große Ausstellung über Jacques Tati in Paris, ein Konzert Cassandra Wilsons in Hamburg, eine Ausstellung zum 200. Todestag von Prinz Heinrich von Preußen in Rheinsberg und dem Filmfestival in Locarno mit seinem afghanischen Schwerpunkt.

TAZ, 06.08.2002

Martin Ebner erzählt anhand einer Ausstellung in Kobe die Geschichte der japanischen Kunstmuseen, die nie ein Problem damit hatten, westliche Kunstverehrung und japanischen Kommerz zu vereinen. Vor der Meiji-Zeit bewahrten Tempel wertvolle Geschenke auf, so Ebner. "Kunstliebhaber luden Freunde zur Besichtigung ihrer Schätze ein. Die Vorstellung, dass man dabei in Ehrfurcht erschauern müsse, scheint jedoch fremd gewesen zu sein: Bei 'shogakai' genannten Gelagen malten Künstler, während die Zuschauer aßen und tranken. Ein Wort für 'Kunst' gab es im alten Japan nicht." Erst 1877 wurde in Tokio während "der 'Landesausstellung zur Förderung von Industrie und Handel' ein Pavillon aufgestellt, der zum ersten Mal 'Kunst' zeigte: Über dem Eingang waren 'Fine Art Gallery' und das dafür neu geschaffene Wort 'bijutsukan' zu lesen." Doch auch heute kann man Kunst in Japan nicht nur in Museen, sondern beispielsweise auch in großen Einkaufshäusern bewundern. "Bis heute staunen westliche Touristen, wenn sie zwischen Herrenkleidung und Haushaltswaren auf Werke renommierter Künstler stoßen. "

Besprochen werden heute ausschließlich Bücher: "Alles, was ich liebte" von Aharon Appelfeld, zwei Hörbücher - eins von Durs Grünbein, ein anderes mit "Last Words" von William S. Burroughs, Stuart Davids Roman "Wie Nalda sagt" und der Fotoband "Full Moon - Aufbruch zum Mond" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Schließlich Tom.

FR, 06.08.2002

Antonia Grunenberg, Professorin für Politikwissenschaft an der Universität Oldenburg und Leiterin des dortigen Hannah-Arendt-Zentrums, ist nach Belgrad zu einer internationalen Konferenz über Hannah Arendt gefahren und hat festgestellt, wie dünn die "Decke der Normalität" in Serbien noch ist. "Was eine der üblichen akademischen Meetings über die große politische Denkerin zu sein schien, erwies sich schnell als ein dreitägiges Gespräch über Schuld und Verantwortung, über Scham, Wut und Hoffnung in Serbien. Die Texte Hannah Arendts, von denen inzwischen viele ins Serbische übersetzt wurden und hier auch veröffentlicht wurden, enthüllten mehr als ihren intellektuellen Kontext. Ein übers andere Mal schob sich die Realität in den akademischen Diskurs." Gespräche mit den Kollegen haben Grunenberg vor allem eins gezeigt: "Die neue politische Ordnung wird mit den realen Leuten geschaffen werden müssen, denen, die heute noch dagegen sind, weil sie eine Demokratie nach westlichem Muster für eine nationale Kränkung halten."

Konrad Lischka beschreibt die Renaissance der Virtual Reality im Computerspiel Morrowind. Die Virtual Reality war in den 90er Jahren von der "augemented reality" abgelöst worden (die am Perlentaucher irgendwie vorbeigegangen ist). Lischka erklärt den Unterschied in seinem wie immer sehr informativen Artikel so: "Der Leser - beziehungsweise Spieler - entdeckt den Raum, schafft so seine eigene Erzählung von ihm und kolonialisiert ihn durch Zu- und Festschreibung der geschaffenen Strukturen zum Ort. Die Technologien der 'augemented reality' hingegen verwandeln fest eingeordnete Orte durch Anreicherung oder Extraktion von Informationen zurück in Räume."

Weitere Artikel: Franz Anton Cramer feiert die Tanzszene in den fünf neuen Ländern, die klein, aber viel besser als ihr Ruf sein soll. Daniel Kothenschulte schreibt über Künstler-Filme beim Festival von Locarno. Und Roland H. Wiegenstein schreibt zum Tod des italienischen Schriftstellers Franco Lucentini.

Besprochen werden die Ausstellung "Klopfzeichen" in Leipzig und Bücher, darunter zwei erotische Romane von Pierre Louys, eine "Schöne Geschichte der Fotografie" von Peter Nadas und - schleppend beginnt die Beschäftigung mit H. C. Artmann - drei Bücher über den Dichter aus dem Jahre 2001 (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

NZZ, 06.08.2002

Andrea Köhler hat sich in New York auf die Suche nach dem jüdischen Blick begeben. Dort untersucht das Jewish Museum in einer Ausstellung die skandalträchtige Frage, ob jüdische Fotografen die Welt anders sehen als ihre nichtjüdischen Kollegen. Nicht unbedingt, meint Köhler: "Wenn also der biografische Topos für die Fotografie eine Rolle spielt, so scheint die ethnische Zuordnung weniger wichtig zu sein als die Erfahrung des Fremdseins, this unheimlich feeling."

Ernüchtert und ein wenig angewidert zeigt sich Bern Kathan von den Diskussionsplattformen im Internet, die einst als Bannerträger einer wirklich demokratischen Gesellschaft gesehehn wurden. Heute ist das anders: "Das Internet ist, bei allen Möglichkeiten, die es sonst bietet, auch so etwas wie eine Art Fäkalraum, eine Bedürfnisanstalt. Ein Forum erlaubt es, bereits wenige Augenblicke nach der Eingabe das Ergebnis eigener Absonderungen narzistisch zu bewundern. Reinigende Defäkation, geruchs-, geschichts-, beziehungs- und distanzlos."

Weiteres: "sda" schreibt den Nachruf auf den 81-jährigen italienischen Schriftsteller Franco Lucentini, der sich von seinem Treppengeländer gestürzt hat. Patricia Benecke hat sich in Londons National Theatre tapfer die insgesamt neunstündige Uraufführung der neuen Trilogie von Tom Stoppard angesehen. Und Rahel Hartmann freut sich über die Renovierung der Villa Saracena der italienischen Architekturlegende Luigi Moretti (mehr hier). Besprochen werden außerdem Bücher, darunter Gore Vidals neuester Streich "Das goldene Zeitalter" und das Romandebüt von Olga Flor "Erlkönig" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 06.08.2002

Der tunesische Intellektuelle Abdelwahab Meddeb meditiert über die einstige Stärke des Islam, seine heutige Schwäche und sein Festhalten an alten Mythologien: "Der heutige Islam hat die Kühnheit des Denkens vergessen, die ihn durch die eigene Tradition an die Bedingungen der Moderne hätte heranführen können" schließt er. "Statt dessen wiederholt er eine Mythologie, die ihn nur tiefer ins Unglück zieht. Er überlässt dem Ressentiment das Regiment."

Das Ressentiment übernimmt auch in Moskau das Regiment, wie man seit dem Fall Sorokin vermuten kann. Der Schriftsteller wird bekanntlich seit Monaten von der Putin-nahen Jugendorganisastion "Gemeinsamer Weg" (oder die "Zusammengehenden") mit Pornografievorwürfen drangsaliert. Er wehrt sich jetzt mit einen Gegenprozess, berichtet Kerstin Holm, und sie kommentiert: "Die byzantinisch-sowjetisch aussehende Intrige, hinter der allem Anschein nach finanzstarke Auftraggeber stehen, verfolgt offenbar das Ziel einer 'Säuberung' der Gesellschaft. Nach dem politischen und dem wirtschaftlichen System soll die Kultur an die Kandare genommen werden. Und nach der Zähmung von Presse und Fernsehen erscheint die schöpferische Einbildungskraft des Schriftstellers als gefährliche letzte Bastion der Unbeugsamkeit." Wer käme hier noch auf diese Idee?

Weiteres: Florian Illies stellt die älteste bekannte Fotografie von Berlin vor, die neulich bei einer Auktion in New York entdeckt wurde - sie zeigt natürlich das Stadtschloss. Gina Thomas meldet, dass der Historiker Simon Schama (mehr hier und hier) für eine Fernsehserie der BBC über nach Amerika auswandernde Briten einen Rekordvorschuss von drei Millionen Pfund bekam. Siegfried Stadler meldet, dass die renommierte Feininger-Galerie in Quedlinburg wegen der Finanznöte der Stadt geschlossen werden könnte. Dietmar Polaczek schreibt zum Tod des italienischen Autors Franco Lucentini. Peter Winter gratuliert dem englischen Maler Howard Hodgkin (mehr hier) zum Siebzigsten.

Auf der letzten Seite berichtet Carina Villinger über die berühmten Lawn Road Flats in London - Klassiker der modernen Baukunst, wo einst auch Agatha Christie wohnte - nun einer dringend fälligen Renovierung zugeführt werden. Barbara Catoir schreibt ein Profil über Carl Haenlein, der die Hannoversche Kestner-Gesellschaft leitet. Und Eva Menasse berichtet, dass Kardinal Ratzinger sieben Katholikinnen exkommunizierte, die in Wien als Priesterinnen praktizierten. Auf der Medienseite beschreibt Michael Seewald, "wie der gesellschaftliche Wandel den Dreh mit Kindern und Jugendlichen leichter macht". Außerdem berichtet Sandra Theis, dass Presserat und Journalistenverband in der Miles & More-Affäre nun doch auf Seiten der Pressefreiheit stehen.

Besprechungen gelten der Uraufführung von Tom Stoppards Trilogie "Ufer von Utopia" in London, dem Lincoln Center Festival in New York, einer Ausstellung des Malers George Romnney in der Londoner National Portrait Gallery, einer Ausstellung des Fotografen William Christenberry in der Kölner SK-Stiftung.