Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.11.2001. In der FAZ schreibt der libanesische Publizist Abbas Baydoun über die "Krise der arabischen Intellektuellen". In der FR annonciert der Urbanist Mike Davis eine De-Globalisierung. Die SZ bringt einen Friedensappell von Hans Wollschläger und die NZZ beklagt die Isolation Israels.

FR, 09.11.2001

Im Gespräch äußert sich der kalifornische Kultautor Mike Davis ("Ökologie der Angst - Los Angeles und das Leben mit der Katastrophe") über die Folgen der September-Attentate für die USA. Düster, düster: Davis befürchtet, dass sein Land fremdenfeindlicher, rassistischer und um bürgerliche Freiheiten ärmer werden wird. Er glaubt auch, dass nun eine Rezession einsetzt und in ihrer Folge mehr soziale Segregation in den Städten: "Falls es gewalttätige Aufstände von Schwarzen gibt, wie in den 60er Jahren, zieht die weiße Mittelklasse wieder in die Suburbs. Und die Rezession wird weltweit Auswirkungen haben. Ich glaube, es wird eine Art De-Globalisierung einsetzen."

Betreffend die Zerreißprobe um das Bundeswehrmandat bezweifelt Harry Nutt in der FR die Kommunikationskompetenz der Politik. Man könne das Militär zwar noch deutlich als demokratische Institution wahrnehmen, aber es werde immer unklarer, ob und wie es an demokratische Kommunikation angeschlossen sei. Noch stärker als sonst stehe die Politik in dem Verdacht, einem sturen Mechanismus von Scheinhandlungen und -rhetorik zu folgen. Für Nutt gleicht das Unternehmen "Enduring Freedom", je länger es dauert, einem "unlösbaren Rätsel, über dessen Fragestellung noch nicht einmal Konsens besteht."

Sonst wird bloß besprochen heute: Bilder vom Volkskünstler ? Norman Rockwell im New Yorker Guggenheim Museum, der neue Film der Coen-Brüder: "The Man, Who Wasn't There", Sarah Kanes "Psychose 4,48" an den Münchner Kammerspielen, Eberhard Petschinkas "Der blutige Ernst" an der Wiener Burg, eine Ausstellung zeitgenössischer chinesischer Künstler im Hamburger Bahnhof in Berlin. Und Sylvia Staude schließlich war bei einem Kurt Jooss gewidmetem "Fest der Künste" der Essener Folkwang-Hochschule.

TAZ, 09.11.2001

Armin Nassehi erklärt, wie Jürgen Habermas bei seinem "bekennenden Nichtbekenntnis" in der Paulskirchen-Rede von der Religion überrascht wurde. Die säkularisierte Gesellschaft sei keineswegs eine religionslose Gesellschaft, meint Nassehi. Die Nicht-Verfügbarkeit unseres Daseins als Voraussetzung für unsere eigene Freiheit, wie Habermas sie im Zusammenhang mit der technischen Verfügbarkeit des menschlichen Genoms anklingen lasse, sei ein religiöser Gedanke: "Wir müssen uns wohl daran gewöhnen, dass religiöse Motive in einer sich radikal wandelnden Welt zunehmen werden ... Das gilt sowohl für die neu vermessene innere Natur des Menschen und durch neue Techniken induzierte (ethisch genannte) Entscheidungsprobleme wie für die äußere Gestalt einer globalisierten Weltgesellschaft."

Weitere Artikel: Thomas Girst über den visuellen Umgang mit dem nicht mehr vorhandenen World Trade Center (schneidet man's raus oder bindet man eine Trauerschleife drum?), Christian Füller berichtet von einem Vortrag des New Yorker Schulkanzlers Harold O. Levy in der American Academy in Berlin, Jenni Zylka erzählt, was ein gestandener Las-Vegas-Crooner in der Berliner Clubszene macht. Und besprochen werden Sarah Kanes "4.48 Psychose" an den Münchner Kammerspielen sowie das neue Album von "4 Hero".

Und die Themen des Tages warten auf mit einem Schäuble-Interview (Schäuble ? sieh an ? ist der Meinung, Schröder handelt seit dem 11. September im Wesentlichen richtig) und einem Gespräch mit dem diesjährigen Nobelpreisträger für Wirtschaft, Joseph E. Stiglitz, über die Folgen bisheriger Liberalisierungsabkommen.

Last not least Tom.

NZZ, 09.11.2001

Naomi Bubis berichtet über die zunehmende Isolation Israels, die auf die Sympathie der Weltöffentlichkeit mit den "schwächeren" Palästinensern, aber auch auf die ausländische Medienberichterstattung zurückzuführen sei. Dass die Realität jedoch komplexer ist, zeigt der Fernsehkommentar der Journalistin Shelly Yachimovitz: "Weshalb nimmt die internationale Anti-Terror-Koalition den Tod unzähliger afghanischer Zivilisten in Kauf, während sie im gleichen Atemzug gezielte israelische Schläge gegen palästinensische Terrorzellen verurteilt?", fragt sie.

Sieglinde Geisel berichtet über den Auftakt zu einer Reihe von Gesprächen über Fundamentalismus und den Anti-Terror Krieg, die in den nächsten Wochen in der Akademie der Künste in Berlin fortgesetzt werden. Ohne einen Verweis auf den 11. September kommt Roman Hollenstein nicht aus, wenn er über eine Ausstellung zur Geschichte des ersten von Schweizern erbauten Hochhauses, des Centro Svizzero in Mailand schreibt.

Besprochen werden die Ausstellung "Heinrich Kleist by Frank Stella" im Württembergischen Kunstverein, die Wiedereröffnung des Museum Ludwig mit der Ausstellung "Museum der Wünsche" und die Eröffnung des ersten österreichischen Karikaturmuseums. Gefeiert werden die glanzvollen Jubiläumsveranstaltungen des Stuttgarter Staatsballetts und der Konzertabend von Gennady Rozhdestvensky in der Tonhalle Zürich.

FAZ, 09.11.2001

Einen selbstkritischen und nach Lage der Dinge wohl ziemlich mutigen Text über die "Krise arabischer Intellektueller" schickt der Dichter und Journalist bei der Beiruter Zeitung As-Safir Abbas Baydoun. Sie suchten immer wieder Ausreden, um nicht in den Spiegel zu blicken schreibt er: "Statt also Rechenschaft von den anderen zu fordern, wäre es unsere größte Pflicht, unsere Kultur von der ihr eigenen Dünkelhaftigkeit zu befreien. Mag unser Vorwurf, dass Amerika unser Leid und unsere Ungeschicklichkeit ausbeutet, nicht falsch sein, so bringen wir doch keine gleichwertige Anstrengung auf, um unsere eigene Verantwortung für die Gründe dieses Leids zu erkennen... Stets haben wir es vorgezogen, im Inneren eines jeden von uns einen kleinen Tyrannen heranzuziehen, der jede Rechenschaft gegenüber uns und den anderen aufschiebt, bis die historische Rache am Westen vollzogen ist - so wenig Hoffnung auch darauf bestehen mag."

Dirk Schümer erzählt von einem niederländisch-belgischen Literaturskandal: Der niederländische Autor Gerard Reve solle den Literaturpreis der niederländisch-flämischen Sprachunion nicht erhalten, weil sein Lebensgefährte eine Affäre mit einem Dreizehnjährigen hatte - der belgische König, der den Preis hätte überreichen sollen, zog sich zurück. "Nach der geplatzten Preisverleihung durch den König werde es nun auch kein Ersatzfest im kleinen Kreis geben. Reve habe den Verleihern seine Kontonummer mitgeteilt."

Weiteres: Dokumentiert wird eine Rede unseres Bundeskulturministers Julian Nida-Rümelin über "die offene Gesellschaft und ihre Feinde" Jordan Mejias porträtiert die konservative amerikanische Publizistin Peggy Noonan, die bei den Aufräumarbeiten in Ground Zero wenigstens ein Gutes entdeckt hat: Es gibt wieder Männer, die "Dinge ziehen und Dinge stoßen und Dinge wegschleppen und Dinge bauen". Auf der Medienseite schildert Markus Wehner die Rolle der Medien in der georgischen Staatskrise, und Jörg Thomann weist auf die Dokumentation "Die Oetker-Entführung" hin, die heute abend in der ARD läuft. Auf der letzten Seite porträtiert Christian Schwägerl den Biochemiker Jens Kuhn, der russischen Biowaffenlabors bei der Rekonversion hilft.

Ferner stellt Inge Hacker ein neues, von Tadao Ando entworfenes Kunstzentrum der Pulitzer-Stiftung in Saint Louis vor. Jörg Magenau bespricht das Literaturfestival "ortsversetzt" in Berlin. Caroline Neubaur resümiert eine Hamburger Tagung über Religion und Psychoanalyse. Auf der Schallplatte-und-Phono-Seite geht es um eine "erstaunliche Aufnahme" von Bergs "Lulu", die von der Oper Palermo eingespielt wurde, um Streichquartette von Hugo Wolf, um wiederentdeckte Bach-Aufnahmen des Cellisten Pablo Casals und um Pink Floyd.

Weitere Besprechungen gelten Francois Ozons Film "Unter dem Sand" mit Charlotte Rampling, Sarah Kanes Stück "4.48 Psychose" in den Münchner Kammerspielen, einer Ausstellung von Naturfotografie in Stuttgart, der Ausstellung "Giganti", in der zeitgenössische Künstler die römischen Kaiserforen bespielen, einem Auftritt des Gewandhausorchesters in der New Yorker Carnegie Hall, einer Pawel-Filonow-Ausstellung in Sankt Petersburg und dem Grazer Festival "Musikprotokoll" (mehr hier).

SZ, 09.11.2001

Die SZ bringt die Kurzfassung der Dankesrede für den Kulturpreis der Bayerischen Landesstiftung, die der Schriftsteller und Übersetzer Hans Wollschläger am 7. November in München gehalten hat. Bezaubernd, wie Wollschläger das Unveränderliche im Veränderten beschwört ("Das bißchen Anders-Sein der Augenblicke untereinander: nur die Veränderer hießen immer ein bißchen alias, philologisch unerhebliche Varianten im Text.") Vor allem aber ist die Rede ein beeindruckender Friedensappell: "Ich bekenne Ihnen, daß ich völlig fassungslos vor dem Anblick stehe, wie dem Kanzler dieser Republik, seinem Außen-, seinem Verteidigungsminister ohne vorwarnende Inkubationszeit das schneidige Auftreten von unverhohlen stolzen Kriegsherren gelingt ... Sind wir wieder Klippschüler geworden, die neu lernen müssen, was aus Hitlers Krieg und der Wiederkehr seines Geistes am Golf und auf dem Balkan doch längst gelernt schien?"

Daran anschließen lässt sich ein Beitrag von Henning Voscherau: Ist die Überlegung Verrat, ob Eignung und Zweckmäßigkeit der jetzt absehbaren militärischen Eskalation gegeben sind? fragt der ehemalige Hamburger OB und glaubt dies keineswegs. Voscherau fordert auf zur Zivilcourage gegen die kurzsichtige Maxime "Wer nicht für uns ist, ist gegen uns". Außer Zweifel stehen für ihn indes die Rechtmäßigkeit der amerikanischen Vergeltung sowie der Mut der Bundesregierung, "angesichts der militärischen Flankierung eines politischen Friedens- und Aufbauplans den Kopf nicht in den Sand zu stecken." Nur dürfe man von dieser Regierung eben auch verlangen, dass sie einen solchen Plan überhaupt habe, ihn sichtbar vertrete, das prioritäre Ziel formuliere und zu (möglichst präventiven) zivilen Beiträgen bereit sei. "Diese Bringschuld kam schon auf dem Balkan zu kurz."

Ferner im Blatt: Ijoma Mangold bringt Licht ins Dunkel der Haffmanschen Schacherei mit Autorenrechten, Petra Steinberger erklärt, was Amerika und Saudiarabien vereint (der Puritanismus), Andrian Kreye berichtet von einer New Yorker Lesung mit Jonathan Franzen ("The Corrections"), Wolfgang Schreiber sagt, was Claudia Abbado und den Henschel-Verlag gegeneinander aufbringt. Und Gottfried Knapp freut sich über die neue Synagoge in Dresden, die heute, am Tag der Zerstörung der alten, eingeweiht wird.

Besprochen werden eine Ausstellung in Sachen Sex im Hygiene-Museum Dresden, eine Schau über den Zauber der Zarenresidenz Pawlowsk im Münchner Haus der Kunst, Klaus Hubers und Michael Schindhelms Mandelstam-Stück "Schwarzerde" in Basel, "4.48 Psychose" von Sarah Kane in München, Peter Cattaneos neue Filmkomödie "Lucky Break" und ein einsames Buch: Adriano Sofris etwas andere Reisebeschreibung "Die Gefängnisse der anderen" (siehe auch unsere Bücherschau ab 14 Uhr).