9punkt - Die Debattenrundschau

Die Beißreflexe einer jungen Generation

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.11.2017. In der FR liefern Claus Leggewie und Daniel Cohn-Bendit eine messerscharfe Analyse der politischen Lage: Demnach ist die FDP die neue AfD. Kenan Malik kritisiert in seinem Buch die Idee des Multikulturalismus, Perlentaucher Thierry Chervel stellt es vor. Die Welt fürchtet den wachsenden Einfluss Chinas. Angst vor Algorithmen? Aber vor der "Blackbox" Software wird schon seit gut fünfzig Jahren gewarnt, konstatiert Kathrin Passig im Merkur. Was bleibt, wenn Presse untergeht? Nichts Gutes, meint Julia Jäkel in der FAZ.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 24.11.2017 finden Sie hier

Europa

Die FDP ist die neue AfD, schreiben Claus Leggewie und Daniel Cohn-Bendit in der FR. Sie konzedieren zwar selbst, dass die FDP nicht die Positionen der AfD teilt - aber wenn das Argument gegen die verhasste Partei so gut schlägt! "Bei Neuwahlen, denkt sie, werde sie nicht als verantwortungsflüchtig abgestraft, sondern als konsequent belohnt. Von der AfD erbt sie nicht in den völkischen Positionen, da dürfen weiter Höcke & Co. vor sich hinsektieren. Lindners FDP beerbt aber die rechtspopulistische Partei, insofern sie den bundesdeutschen Konsens auflösen und mit den Beißreflexen einer jungen Generation an die Macht kommen will, die sich von der Unionschefin nicht mehr bemuttern lässt und Ressentiments aus der scharfen Abgrenzung gegen Grüne und 68er Linke nähren kann."

Heute findet ein EU-Gipfel zur Ukraine statt. David M. Herszenhorn analysiert in politico.eu die Lage des Landes und die zwiespältigen Wirkungen der EU-Hilfen. Allerdings geht es den anderen fünf osteuropäischen Partnerländern auch dank russischem Einfluss noch schlechter: "Armenien und Aserbeidschan liegen nach wie vor im Konflikt um Bergkarabach. In Moldawien gibt es den ungeklärten Streit mit der Region Transnistrien. Zwei Regionen von Georgien, Abchasien und Süd-Ossetien sind quasi von Russland annektiert. Und Weißrussland ist ein weithin isolierter Polizeistaat, auch wenn es ein gewisses Tauwetter mit dem Westen gibt."

Die Welt druckt in diesem Kontext eine Erklärung der vom ehemaligen dänischen Ministerpräsidenten und ehemaligen Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen ins Leben gerufenen Friends of Ukraine ab, in der Politiker und Diplomaten fordern, osteuropäischen Ländern eine längerfristige Perspektive anzubieten.
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Ideen

Kenan Maliks Buch über die Idee des Multikulturalismus erscheint in diesen Tagen auf deutsch. Thierry Chervels Vorwort ist im Perlentaucher vorveröffentlicht: "Multikulturalismus ist laut Malik die Idee, dass Menschen "nicht trotz ihrer Unterschiede gleich, sondern wegen dieser Unterschiede verschieden" zu behandeln seien. Darum ist das Kopftuch ein so symbolisches Kleidungsstück: Die Idee der Freiheit, die westliche Frauen für sich reklamierten, steht unter den Vorzeichen des Kulturalismus unter Kolonialismusverdacht, wenn sie einfach so für muslimische Frauen gefordert wird. Die 'Dissidenten des Islams' - Ayaan Hirsi Ali nimmt diese Vokabel für sich in Anspruch - sind in diesem Koordinatensystem Renegaten im Fahrwasser der islamophoben Rechten."

Europa ist längst ein wirtschaftliches Konstrukt geworden, das alle nationalen Eigenheiten beseitigt, klagt Byung-Chul Han in der Welt. Die damit einhergehende Orientierungslosigkeit begünstige separatistische und rechtspopulistischen Bewegungen, so Han. Dabei liege die Schönheit im Fremden: "Deutsche sollten Deutsche bleiben. Sie sollten sogar so viel Eigenheiten wie möglich entwickeln, ohne schlechtes Gewissen zu haben. Franzosen sollten französischer werden und nicht europäischer, ohne sich jedoch zum Front National zu bekennen. Dass wir einander fremd sind, ist nicht unbedingt ein Zustand, den es zu vermeiden gilt. Heute wird die Fremdheit beseitigt, weil sie den globalen Austausch von Kapital und Information verhindert. Wir sind alle Konformisten geworden, die allerdings eine trügerische Authentizität für sich beanspruchen."

Kathrin Passig versucht im Merkur eine Archäologe der Metapher. Der Begriff "Blackbox" für nicht mehr verständliche Software - modisch "Algorithmen - ist mindestens fünfzig Jahre alt und findet sich bereits in Schriften von Joseph Weizenbaum über Programme mit 10.000 Zeilen Code. Sollte man sich also über Algorithmen weniger Sorgen machen? "Dass ein Sachverhalt schon länger besteht, ohne dass bisher die Welt untergegangen ist, muss nicht heißen, dass er harmlos ist. Vielleicht geht die Welt ein bisschen später trotzdem unter, oder vielleicht sind wir bereits die gründlich indoktrinierten Produkte dieser Fehlentwicklung, unfähig, das Problem überhaupt noch zu erkennen. Aber jedenfalls greift es zu kurz, die Machine-Learning-Verfahren der letzten Jahre zu beschuldigen und eine Rückkehr zu der einfach und vollständig durchschaubaren Software zu fordern, wie wir sie noch vor fünf Jahren, na gut: vor zehn … oder wenigstens zwanzig … aber doch ganz sicher vor fünfzig Jahren hatten."
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Überwachung

Während wir durch Künstliche Intelligenz, etwa Gesichtserkennungssoftware, für Facebook und Apple immer transparenter werden, wird die Maschinerie dahinter immer undurchsichtiger, fürchten Anna-Verena Nosthoff und Felix Maschewski in der NZZ: "In Zeiten digitaler Schattenspiele scheint das Diktum kalifornischer Sonnenkönige 'Mehr Transparenz wagen!' nur für einen zu gelten: den Nutzer der smarten Services. Am Horizont leuchten daher vor allem panoptische Kontrollimperative auf; zwielichtige Machtpraktiken, die neue Sichtbarkeitsregime etablieren: Während der Einzelne von digitalen Voyeuren immer genauer beobachtet wird, wächst der Einfluss von Techniken wie der KI, die kaum verstanden ist; von geheimen Algorithmen, die nur wenige kennen; von Experimenten, die unbewusst, und Geräten, die Blackboxes bleiben."
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Medien

"Wer bleibt übrig, wenn das echte Geld anderswo verdient wird", fragt die Gruner + Jahr-Chefin Julia Jäkel mit Blick auf Facebook und Google. Und malt eine entfesselte Öffentlichkeit an die Wand: "Es sind die, denen so eine Lage zupasskommt: Wahnsinnige, die gar nicht anders können; Radikale aller Spielarten, die in dieser Lage Morgenluft wittern; Sekten und Parteien mit zwielichtigen Anliegen und Ansichten, für die sie lieber selbst trommeln, als sich mit einer freien, kritischen Presse auseinanderzusetzen; Staaten wie Russland, denen politische Destabilisierung geostrategisch in die Hände spielt." Eine echte Konsequenz - etwa eine Forderung nach Subventionen für die angeschlagene Presse - zieht Jäkel aus ihrer Diagnose allerdings nicht.
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Geschichte

In der Berliner Zeitung unterstützt Götz Aly die von Rita Süssmuth und Wolfgang Thierse angeregte Initiative für ein Denkmal für vertriebene und verfolgte Polen in Berlin. Zwangsarbeit, Deportationen, Euthanasie und der Versuch, polnische Kultur auszulöschen spielen im öffentlichen Gedächtnis heute eine geringe Rolle, so Aly: "Egal, welche Partei in Warschau regiert: Die deutsche Seite muss versöhnend vorangehen. Angesichts der Vorgeschichte verstehe ich, dass viele Polen heutige flüchtlingspolitische oder rechtsstaatliche Belehrungen Deutschlands befremdlich finden."
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Politik

Mit Unbehagen beobachtet Marko Martin in der Welt den zunehmenden Einfluss Chinas auf allen Kontinenten, insbesondere auch im Hinblick auf die Entwicklungsländer, die sich durch neue Infrastrukturen sozialen Aufstieg erhoffen. Nicht nur der Abbruch der Beziehungen zum demokratischen Taiwan als Voraussetzung für die "Entwicklungshilfe" bereitet Martin Sorgen: Mit Chinas "Geld und Einfluss kommt auf inzwischen gar nicht mehr so leisen Pfoten dann auch die entsprechend massenverführerische Lektion: Es geht auch ohne politischen Pluralismus, solange der Magen voll ist - und das chinesische Billiggeschirr und die perfekt ineinanderzustapelnden Kochutensilien in den Miniaturküchen der Favelas und Elendsviertel eine bessere Gegenwart verschaffen. Für den Rest sorgt die Expansion chinesischer Medien (oder jener mit chinesischem Aktienanteil), die wie etwa CGTN China Global Television Network längst perfekt auf Englisch senden und sich ihre antiwestliche CNN-Travestie vom Kreml-Sender RT Russia Today abgeguckt haben."

In seiner FAZ-Kolumne beobachtet Bülent Mumay, wie Erdogan, ein "Meister" des Seitenwechselns", näher an Russland heranrückt und den USA den Kampf ansagt.
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Religion

Toby Ashraf spricht für die taz mit den Filmemacherinnen Antje Kruska und Judith Keil, die einen Film über die Neuköllner Dar-Assalam Moschee gemacht haben und aus allen Wolken fielen, als sie hörten, dass die Moschee und ihr Imam Taha Sabri mit Radikalen in Zusammenhang gebracht wurden: "Unsere Haltung war aber sofort solidarisch mit unserem Protagonisten, was nicht bedeutet, dass wir uns nicht mit dem Verfassungsschutz und einigen Experten in Verbindung gesetzt hätten. Natürlich haben wir auch mit Taha Sabri darüber geredet. Wir sind ziemlich schnell zu dem Schluss gekommen, dass die Beschuldigungen gegen Sabri, heimlich radikal zu sein oder verfassungswidrig zu operieren, nicht zusammenzubringen sind mit seinem täglichen Engagement." Unter anderem hatte die Religionskritikerin Necla Kelek die Moschee in der Welt neulich als salafistisch bezeichnet.
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Gesellschaft

Die Stadt München gibt auf Druck von Microsoft das "Limux"-Projekt auf und kehrt von Linux- zu Windows-Software zurück. Sebastian Grüner schildert bei golem.de die Schwierigkeiten dieser Migration, die auch einige auf Linux spezialisierte Mitarbeiter überflüssig macht, so dass es "wohl auch immer schwieriger (wird), kompetenten und adäquaten Ersatz für sie zu finden. Hier gibt es auch ganz offensichtlich die Möglichkeit der Linux-Community, die Rückmigration zu Windows sehr einfach zu sabotieren: die Beteiligten könnten die Mitarbeit schlicht verweigern. Ob das im Sinne des Projekts und der Tausenden Kollegen ist, die auf die weitere Pflege angewiesen sind, sei dahingestellt. Wer nicht mehr viel zu verlieren hat, hat aber vielleicht auch weniger Skrupel. "

Heute beginnt der Prozess für die Gießener Ärztin Kristina Hänel, der radikale Abtreibungsgegner Werbung für Schwangerschaftsabbrüche vorwerfen (Unser Resümee). Schon heute nehmen immer weniger Ärzte den Eingriff vor, weiß Oliver Klasen in der SZ: "In den vergangenen Jahren sind viele Mediziner in Rente gegangen, die in den Siebzigerjahren die Auseinandersetzung um den Abtreibungsparagrafen erlebt haben und dann schon aus politischen Gründen Frauen in Not helfen wollten. Und Nachfolger gibt es nicht genügend; weil Schwangerschaftsabbrüche nicht lukrativ sind, aber auch, weil besonders niedergelassene Kollegen juristische Auseinandersetzungen mit Abtreibungsgegnern fürchten. Ebensolche, wie Hänel sie nun führt."
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