9punkt - Die Debattenrundschau

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.

Oktober 2022

Eine edle Aufgabe

31.10.2022. Auf Zeit online ist Thomas Fischermann erleichtert über den Ausgang der Wahl in Brasilien, aber auch entsetzt: Wie konnte das Mitte-links-Bündnis derart knapp abschneiden? Was macht Twitter- Besitzer Elon Musk, wenn er die Meinungsfreiheit chinesischer Dissidenten durchsetzen will, aber zugleich Angst haben muss vor der Regierung Chinas, wo er seine Teslas baut, fragt Andrian Kreye in der SZ. Wir verweisen trotzdem noch auf Twitter: Die Reporterin Antonie Rietzschel berichtet über einen Anschlag auf ein geplantes Flüchtlingsheim in Bautzen. Der Anwalt Patrick Heinmann liest mit Bestürzung Aufrufe von Gemeinden wie Stralsund oder Königs Wusterhausen, die von der Bundesregierung eine russlandfreundlichere Politik fordern.

Haltet mich besser fest!

29.10.2022. Wired fordert eine öffentlich finanzierte Plattform, um die Demokratie nicht den Launen von Milliardären zu überlassen. In der taz erklärt der israelische Philosoph Yuval Kremnitzer, warum der illiberale Autoritarismus ohne Ideologie auskommt. Faschistisch sei er trotzdem, meint die SZ. In der FR betont der Historiker Ian Kershaw: Geschichte wiederholt sich nicht, auch nicht als Farce. Die FAZ wünscht sich auch für das Kino etwas mehr Dirigismus von französischen Staat.

Niemals ein Symbol der Freiheit

28.10.2022. Elon Musk hat Twitter übernommen. Als erstes feuert er die bisherigen Chefs. Für die SZ besucht Karl Markus Gauß einen Friedhof in der Slowakei und liest auf den Gräbern, wie aus der Familie Klein die Familie Kiss und dann Kiska wurde. Ebenfalls in der SZ warnt Gilda Sahebi vor Mullah-Verstehern in deutschen Medien. Warum kursieren Videos von Europäerinnen, die sich eine Haarsträhne abschneiden, aber nicht Videos von Europäerinnen, die ihr Kopftuch ablegen, um ihre Solidarität zu zeigen, fragt Raphaël Enthoven in Franc Tireur. Und Wolfgang Kraushaar erzählt in einem Vorabdruck im Perlentaucher vom rechtsextremen Terror vor dreißig Jahren.

Wir erleben einen Kampf um Werte

27.10.2022. Newlinesmag übersetzt ein Interview mit dem iranischen Soziologen Asef Bayat, das im Iran selbst verboten wurde und dennoch überall zirkuliert - er spricht über die neue Qualität des Aufstands von 2022. Im Guardian prangert die Nobelpreisträgerin Oleksandra Matwijtschuk die Straflosigkeit an, mit der Russland in der Ukraine agiert. Precht und Welzer seien "Secondhand-Kriegsverbrecher", schimpft Wolf Biermann in der Zeit. Die taz recherchiert zu rechtsextremen Attacken gegen Flüchtlinge in den Neuen Ländern.

Das halbe Land wird ruiniert sein

26.10.2022. "Solange Putin lebt, wird es in der Ukraine keinen Frieden geben", sagt Andrej Kurkow in der NZZ - und der Krieg wird beide Länder zutiefst verändern. Bisher war nur die Leugnung des Holocaust strafbar, nun hat der Bundestag sehr unauffällig eine Erweiterung des Paragrafen 130 des Strafgesetzbuchs auf die Leugnung aller Genozide beschlossen, berichtet Ronen Steinke in der SZ. Olivier Roy sieht in der FR eine neue Qualität in den iranischen Aufständen. In der FAZ erinnert der Historiker Lukas Böckmann an die Enttäuschung Fidel Castros und Che Guevaras nach der Kubakrise.

Die ungeheure Unmenschlichkeit

25.10.2022. Putin ist keine Person, Putin ist eine Organisation, und zwar eine Mafia-Organisation, sagt Peter Nadas in der NZZ an die Adresse all jener, die an Putins Menschlichkeit glaubten. Viktor Jerofejew empfiehlt in der Welt, Dmitrij Medwedew genau zuzuhören. Bellingcat macht die russische Militäreinheit namhaft, die ukrainische Zivilisten mit Cruise Missiles beschießt. Harald Welzer kritisiert laut dpa die Standing Ovations für Serhij Zhadan - dessen Sprechen sei kein Beitrag zur Zivilisation.

Im Widerstand zum Klerikalfaschismus

24.10.2022. In der SZ ist Felix Stephan einfach platt, wie gern deutsche Intellektuelle auch auf der Buchmesse noch der Ukraine eine Mitschuld geben am Krieg in ihrem Land. Libération entlarvt die gelehrten Referenzen der französischen Putin-Anhänger als Gerücht. "Let's Say Gay", überschreibt die New-York-Times-Kolumnistin Pamela Paul ein kleines Plädoyer gegen die Queerisierung des Diskurses über Homosexualität. In Berlin demonstrierten 80.000 Menschen für den Iran. Sie repräsentieren "ein Land das durch und durch säkular geworden ist", schreibt Saba Farzan in der taz. Ein muslimischer Papst à la Khomeini entspricht ohnehin nicht der iranischen Tradition, sagt der Religionssoziologe Reza Aslan in der NZZ.

Ein Rennen zu viel gelaufen

22.10.2022. ZeitOnline blickt auf die Stadt Cherson, um die ein brutaler Nervenkrieg ausgebrochen ist.  Bevor die Tories Großbritannien noch tiefer in die Krise ziehen, sollten sie lieber schnellstens auf die Weide gebracht werden, rät in der NYTimes der Konservative George Oborne. Wahrer Konservatismus wäre eine Politik der Vorsicht, schreibt Gustav Seibt in der SZ. In der NZZ erkennt Manfred Schneider, dass sich der Wahn eines Despoten aus Hass, Narzissmus und Gewissheit speist. Der Tagesspiegel erkennt den großen Irrtum des chinesischen Chefideologen Wang Huning.

Harte Entscheidungen

21.10.2022. Die taz geißelt die "geistige Brandstiftung", die Anschläge wie den auf eine Flüchtlingsunterkunft in Wismar erst möglich mache. Alexander Lukaschenka hat Belarus zur Geisel gleich zweier Diktatoren gemacht, diagnostiziert der Historiker Felix Ackermann in der NZZ. Mehr Länder könnten sich Atomwaffen zulegen, wenn Putin mit seiner nuklearen Erpressung Erfolg hat, fürchtet in der SZ der Politologe Matthew Fuhrmann. Tagesspiegel und taz berichten von einer iranischen IT-Firma, die unbehelligt in Deutschland dem Iran bei der Abschottung im Internet hilft.

Grüner, kühler und gesünder

20.10.2022. Warum interessiert sich der hiesige Kulturbetrieb, sonst vehement für Geschlechtergerechtigkeit, so gar nicht für den Aufstand im Iran, fragt in der Zeit Navid Kermani. In der Welt erinnert Daniel Haas daran, was ein Suizid für die Zurückbleibenden bedeutet. Die SZ fürchtet, dass die linke Besetzung des Klimaschutzes eher verschreckt als ermuntert. FAZ und SZ stellen außerdem zwei stadtplanerische Klimaprojekte in Rotterdam und in Paris vor. Aber ob das die Zukunft des Wohnungsbaus für die Massen sein kann? Netzpolitik ruft der EU entgegen: Stop scanning me.

Haltung zeigen

19.10.2022. In der NZZ erzählen fünf Russen von ihrer Flucht aus Russland, die sich die Polizei teuer bezahlen ließ. In der SZ beobachtet A.L. Kennedy besorgt, wie sich Rechte in UK und USA gegenseitig bestärken. Die taz fragt besorgt: Was kommt nach dem Sturz der Ayatollahs, und wird es auch im Einklang mit der iranischen Kultur sein? Die FAZ schildert die unglaubliche Geschichte der Plagiatsintrige gegen den Münchner Rechtsmediziner Matthias Graw.

Die Vereinbarung mit dem Regime

18.10.2022. Die Iraner nennen ihre Kamikaze-Drohnen "Märtyrer", und die Russen setzen sie weiter in Kiew gegen die Zivilbevölkerung ein: Der Spiegel beschreibt das "Bündnis der Ausgestoßenen" Russland und Iran. Die New York Times lotet die Macht der iranischen Revolutionsgarden aus, von denen alles im Iran abhängt. In der Welt deckt  die freie Journalistin Gilda Sahebi die herzlichen Beziehungen von SPD und Ebert-Stifung zum Iran auf. Die SZ schildert, wie sich die demokratischen Parteien in Schweden immer mehr den Rechtspopulisten angeglichen haben. Charlie Hebdo bringt eine Rede von Mickaëlle Paty  zum zweiten Jahrestag des Mords an ihrem Bruder Samuel Paty.

Sanktionen aber entsprechen nicht unserem Interesse

17.10.2022. Während Russland Kiew mit Drohnen beschießt, ist sich der amerikanische General Ben Hodges in der FAZ sicher: Dieser Krieg ist ein Desaster für Wladimir Putin. Im Observer denkt Peter Pomerantsev über die Frage nach, ob Propaganda ein Verbrechen sein kann.  Die Frauenrechtsaktivistin Sahar Sanaie wünscht sich in der FR eine sehr klare Positionierung der EU-Außenpolitik zum Iran. In Afghanistan ist die Sache der Frauen bereits verloren, sagt die afghanische Psychologin Batool Haidari ebenfalls in der FR.

Das Zentrum von der Peripherie her bearbeiten

15.10.2022. Heinrich August Winkler macht in der FR klar, warum Verhandlungen im Ukraine-Krieg zum jetzigen Zeitpunkt unmöglich sind: Putin will nicht einlenken. Und ein "Einlenken" der Ukraine schüfe eine extrem gefährliche Situation. Verschiedene Medien schildern, wie schwer es Putin mit der Mobilisierung hat. Arnd Pohlmann fragt in Dlf Kultur, warum die hiesige Linke bei der Unterstützung der iranischen Frauen so zahnlos ist. Die FAZ erzählt, wie Frankreich dem Problem des Dschihadismus begegnet.

Die Caritas bedauert

14.10.2022. Stellen Sie sich vor, es ist Krieg und alle laufen weg, sagt die belarussische Exiipolitikerin Swetlana Tichanowskaja bei politico.eu - sie glaubt nicht an einen belarussischen Einsatz in der Ukraine. Die AfD hätte auch gern was ab von dem schönen Staatsgeld, mit dem die anderen Parteien ihre "nahen Stiftungen" versorgen - der SZ graut davor. Jair Bolsonaro hat durchaus auch eine Basis bei den Armen und den Schwarzen in Brasilien, fürchtet die Historikerin Lilia Moritz Schwarcz im Spiegel.

En passant mal

13.10.2022. Die Berliner Zeitung und Cicero entblödeten sich nicht, dem Eurotroll Viktor Orban eine große Bühne zu geben. Heute stellt die Berliner Zeitung die Nachfrage: Sollte man Orban eine derartige Bühne geben?  Auch der Fußballclub 1. FC Union, eine weitere Institution des Berliner Ostens, schmückte sich mit dem Autokraten, berichtet die taz. Russland verliert nicht zum ersten Mal seinen Verstand: Viktor Jerofejew erinnert an das "Philosophenschiff", mit dem vor genau hundert Jahren Lenin jene Intellektuelle, die er nicht erschoss, in den Westen schickte. Die FAZ fragt außerdem: Wem gehört die Rabbiner-Ausbildung in Deutschland?

Erst ein bisschen kryptisches Geschwurbel

12.10.2022. Empört wendet sich Necla Kelek bei Cicero gegen die Behauptung Annelena Baerbocks, die Gewalt gegen Frauen im Iran habe "nichts mit Religion" zu tun. Die iranische Journalistin Niloofar Hamedi hat die Proteste im Iran durch ein Foto der Eltern Mahsa Aminis an ihrem Krankenbett ins Rollen gebracht - und wurde dafür ins Gefängnis gesteckt, so Reuters. Die SZ widmet sich abdriftenden Popgrößen wie Kanye West und Roger Waters - meist landen sie im Antisemitismus. Im Standard erklärt die Philosophin Hilge Landweer : Die Rechte hasst, die Linke ist empört.

Reuegeld bezahlen

11.10.2022. Francis Fukuyama erklärt in verschiedenen Medien, warum die Geschichte doch nicht endete und warum man den Liberalismus vor sich selbst retten muss. Die NZZ geht den überraschenden und seltsamen Beziehungen der Moon-Sekte zur Spitze der japanischen Politik nach. Was den russischen Krieg so gefährlich macht, ist seine Ungenauigkeit, konstatiert der Guardian.

Wo Männer ohnehin Mangelware sind

10.10.2022. Die Krise auf dem ukrainischen Schlachtfeld stärkt üble Gestalten wie den Gründer der Kampfgruppe Wagner Jewgeni Prigoschin und den Tschetschenenführer Ramsan Kadyrow. Timothy Snyder leitet daraus in seinem Blog die Hoffnung ab, dass sich die Machtkämpfe nach Moskau verlagern. SPD-Altvordere haben aber auch noch in anderen Autokratien Potenzial, wie die FAS am Beispiel Rudolf Scharpings zeigt. In der NZZ beschreibt Sonja Margolina das demografische Problem Russlands. Die Zeitungen würdigen Bruno Latour, der im Alter von 75 Jahren gestorben ist.

Ihr Königreich der Unterdrückung endet

08.10.2022. Der Friedensnobelpreis für Ales Bjaljazki, CCL und Memorial hat in der Ukraine Kritik ausgelöst. taz und FAZ widersprechen vehement und würdigen neben der ukrainischen NGO dezidiert auch die Menschenrechtsaktivisten in Russland und Belarus. Im Guardian erklärt Brian Milakovsky, wie sich die Ukraine die Loyalität der russischsprachigen Bevölkerung erarbeite. Auf ZeitOnline fordert Meral Şimşek mehr Solidarität mit den Frauen und Kurden im Iran. Und Atlantic verabschiedet sich vom GIF.

Minimal östliches Aussehen

07.10.2022. Putin verheizt für seinen Krieg mit Vorliebe Angehörige ethnischer Minderheiten. Die FAZ stellt die Aktivistin Alexandra Garmaschapowa vor, die sich dagegen wehrt. Anne Applebaum erzählte bei einer Rede, die in der SZ abgedruckt ist, wie sie die Hoffnung aufgab, dass Menschen aus Geschichte lernen. Die Welt fragt, was der Ukraine-Krieg für Xi Jinping bedeutet.

Zu keiner Zeit freiwillig

06.10.2022. "Und dann wickeln sie dich wieder in einen Schleier, um zu verstecken, was sie dir angetan haben", sagt Nasrin Sotudeh im Gespräch mit der Zeit. In der FAZ und der NZZ wird über das Thema Integration nachgedacht. In scharfem Ton fordert der polnische Journalist Grzegorz Jankowski in der Welt die deutsche Regierung auf, die polnischen Reparationsforderungen von 1,3 Billionen Euro zu akzeptieren. Auch Ronen Steinke findet die polnische Forderungen in der SZ keineswegs abwegig.

Nicht Nein zu sagen zu können gegen die Unterdrückung

05.10.2022. Gilda Sahebi erklärt in der FAZ, warum die Ajatollahs im Iran so sehr auf der Einhaltung ihrer religiösen Gebote bestehen: Es bringt ihnen eine Menge Geld. Masih Alinejad erzählt auf Twitter die Geschichte der 17-jährigen Nika Shakarami, die bei den iranischen Protesten verschwand, bis die iranische Polizei ihre Leiche zurückgab. Religion hat sehr wohl etwas mit Religion zu tun, schreibt Ahmad Mansour an die Adresse Annalena Baerbocks in der NZZ. Für Peter Pomerantsev in Time wird der Keller zum Sinnbild des Krieges, der gegen die Ukraine geführt wird, in der Realität und als Metapher.

Für das Tanzen auf der Straße

04.10.2022. In der Berliner Zeitung blickt Slavoj Zizek voller Bewunderung auf die Proteste im Iran: "Frau, Leben, Freiheit" ist nicht #MeToo. Hubertus Knabe studiert für die FAZ alte Stasi-Dokumente über Wladimir Putins Dresdner Zeit. Das Interesse am Stierkampf lässt in Spanien deutlich nach, beobachtet die taz. Im Observer meldet Kenan Malik Zweifel an der Idee des "Gemeinwohls" an.

Russland schrumpft

01.10.2022. Mit Brimborum feierte Wladimir Putin gestern seine Schein-Annexionen von Gebieten, die er noch nicht mal erobert hat, und befleißigte sich in einer "bizarren Rede" einer postkolonialen Rhetorik. Dieser Schein wahrt nicht mal den Schein, konstatiert Anne Applebaum in Atlantic. Oksana Sabschuko ist im Standard zuversichtlich, dass Russland zerfällt. Alexei Nawalny entwickelt in der FAS Perspektiven für Russland als parlamentarische Demokratie. Zeit online führt außerdem ein sehr instruktives Interview mit dem Politologen Angelo Bolaffi über Italien nach den Wahlen.