9punkt - Die Debattenrundschau

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.

Mai 2020

Karneval der Individualisierung

30.05.2020. In den Postcolonial Studies wird zu viel Frantz Fanon gelesen und zu wenig Edward Said, erklärt Hans Ulrich Gumbrecht in der Welt: Das musste in den Niedergang führen. Der New Yorker beklagt, dass selbst progressive Bürgermeister in den USA die Polizei in ihren Städten nicht in den Griff bekommen. Die SZ betont im Streit um Twitter und Facebook, dass Algorithmen nie neutral sind. Die FR erkennt eine ganz ähnliche Staatsfeindschaft bei Reichsbürgern, Impfgegnern und Veganern.

Anstrengend, ja strapaziös

29.05.2020. Die Berliner Zeitung protestiert noch einmal gegen das goldene, 17 Tonnen schwere Kreuz für die Kuppel des Humboldt-Forums: Eigentlich war es gar nicht geplant, aber die Initiatoren der Attrappe suchten unverdrossen nach Finanziers und fanden sie. Der ehemalige Berliner Senatsbaudirektor Hans Stimmann schaut derweil in der Welt rüber zum Marx-Engels-Forum (oder lieber doch nicht!) Wenigstens am Berliner Olympiastadion könnte man noch etwas abreißen: die Nazi-Skupturen. Aber viele Anhänger finden sich für die Idee nicht. Außerdem: Trump und Twitter. Rassistische  Polizeigewalt in den USA. Und die gerupfte Buchmesse.

Bumm. 60.000 Likes.

28.05.2020. Ob in Russland, China, in der Türkei oder in Bangladesh - überall auf der Welt werden oppositionelle Künstler und Aktivistinnen, die die Wahrheit über Corona berichten, bedroht und verfolgt, beobachtet der Tagesspiegel. Der Theologe Christoph Markschies  erklärt das Kreuz auf dem Humboldt-Forum in der Berliner Zeitung zum "Teil einer Ausstellungsarchitektur". Die Debatte um Achille Mbembe wird in Zeit und taz weitergeführt, die um Drosten überall. Und die Frankfurter Buchmesse findet statt!

Fragezeichen! Im Ernst?

27.05.2020. Eine zweite Amtsperiode Donald Trumps könnte an der Coronakrise scheitern, hofft Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz im Interview mit Zeit online. "Welche Israel-Kritik ist antisemitisch", fragt der israelische Philosoph Omri Boehm in der SZ anlässlich der Mbembe-Debatte. Ja, Grundrechte waren eingeschränkt, aber sie waren nie außer Kraft, schreibt die ehemalige Bundesverfassungsrichterin Gertrude Lübbe-Wolff in der FAZ. Und Handauflegen wirkt bei Corona. Aber tödlich, muss hpd.de feststellen.

Die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind

26.05.2020. Wer demnächst das Zentrum der Weltkulturen im Berliner Stadtschloss besuchen will, erhält als erstes die Aufforderung, im Namen Jesu die Knie zu beugen - dagegen hilft auch der Protest der Berliner Zeitung nicht! China kann einfach machen und sich das rebellische Hongkong einverleiben. Der abhängige Westen wird schon nicht mucken, ist sich die SZ sicher. Die Financial Times sieht mit Schrecken, wie der Populist Jair Bolsonaro Brasilien in den Abgrund führt. Wie wär's, wenn die Bundesregierung die Corona-App von einer Bürgerplattform begleiten lässt, die über die Überwachung wacht, fragt der Jurist Karl-Heinz Fezer in der FAZ.

600 Real Nothilfe

25.05.2020. In der SZ erzählt Katharina Funke, wie Jair Bolsonaro für Brasilien die Weltmeisterschaft der bestätigten Corona-Fälle erringt. Der Streit um Achille Mbembe geht weiter. Perlentaucher Thierry Chervel sieht ihn als Historikerstreit mit umgekehrten Vorzeichen. Im Deutschlandfunk polemisiert Stephan Detjen scharf gegen den Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung. Und in der FAZ fragt Patrick Bahners, wer eigentlich die 700 afrikanischen Intellektuellen sind, die einen Aufruf für Mbembe unterzeichneten. Le Monde schildert die Angst Macrons vor einem neuen Populisten, die von einer prophetischen Serie bereits bebildert wurde.

Der Mond sei aus Käse

23.05.2020. Hongkong wird durch ein neues Sicherheitsgesetz gleichgeschaltet, fürchten die Zeitungen. Auch internationale NGOs in Hongkong dürften durch das neue Gesetz gefährdet sein, warnt der Guardian. Vor drei Jahren tobte eine kurze Debatte um das Kreuz auf der Kuppel des Humboldt-Forums: Jetzt wird es aufgesetzt, und ein frommer Spruch fordert, dass die Menschheit die Knie vor Jesus beugt, konstatiert ein verzweifelter Jens Bisky in der SZ. Er könnte sich aber auch direkt gegenüber mit Mund- und Nasenschutz auf der Einheitwippe abreagieren, so die Berliner Zeitung.  Im Freitag ist Claus Leggewie unzufrieden mit der Mbembe-Debatte.

Angst vor einer horrenden Rechnung

22.05.2020. Die Coronakrise unter Putin erinnert den Historiker Stefan Kirmse in der NZZ an die Cholera im Zarenreich. So ganz nebenbei erlässt der Nationale Vonkskongress in Peking ein Gesetz, um Hongkong gleichzuschalten - die Washington Post berichtet. In der Welt verteidigt Heinrich August Winkler das Urteil des Bundesverfassungsgerichts gegen EZB und EuGH. Und wenn wir kein Fleisch äßen, gäbe es diese Pandemie nicht, schreibt Jonathan Safran Foer in der New York Times.

Das ganze System ist schief

20.05.2020. In der Zeit erklärt der Antisemitismusbeauftrage der Bundesregierung Felix Klein, warum er überhaupt keinen Anlass sieht, sich bei Achille Mbembe zu entschuldigen. Das Urteil des BVG gegen die Auslandsaktivitäten des BND, das dem BND auch im Ausland Beachtung der Grundrechte vorschreibt, wird begrüßt und kritisiert. In der NZZ erzählt die  Historikerin Ekaterina Makhotina, wie sich die Erinnerungskultur in Russland verändert. Le Monde inspiziert Michel Onfrays neue rechtsextreme Zeitschrift. Die taz versucht Entschwörung.

Intensive Er-fahrung

19.05.2020. Der Streit um Achille Mbembe geht immer noch weiter. Nach einem Brief von 700 afrikanischen Intellektuellen an Angela Merkel insistiert Tobias Rapp bei Spiegel online, dass der Holocaust nicht nur in Deutschland als singulär angesehen werde. Daniel Bax sieht in der taz durch einen Boykott Mbembes die Meinungsfreiheit gefährdet. Wer sich künftig als  Experte im Fernsehen äußern will, sollte sich in seiner Wohnung schon mal eine Ecke abteilen, meint Anton Schaller in der NZZ. Warum ist der Deutsche Ethikrat mehrheitlich religiös, fragt hpd.de. Und in der FAZ rät Simon Strauss, mit schlagendem Herzen durch die Bundesländer zu reisen.

Mit Klarheit und Bescheidung

18.05.2020. In der FR fordert die Kabarettistin und Schauspielerin Maren Kroymann eine 50/50-Quote für Männer und Frauen in der Film- und Fernsehbranche. Postkolonialismus und Zionismus sind einander ähnlicher als man glauben mag, schreibt der Soziologe Natan Sznaider im Tagesspiegel. Ist der Starreporter Ronan Farrow "zu gut, um wahr zu sein", fragt die New York Times. Und heise.de erwartete sich nicht allzu viel vom Bundesverfassungsgericht in Sachen Datenschutz.

Überall ist nun Garnison

16.05.2020. ZeitOnline bringt den internationalen Aufruf zur Demokratisierung der Arbeitswelt. In der taz erkennt Ranga Yogeshwar in der Angst das Motiv allen Handelns. Die NZZ laboriert an den Folgen der großen Schweizer Mobilmachung. Nach dem Rücktritt der Wiener Kulturstaatssekretärin Ulrike Lunacek fragt der Standard, welche kulturpolitische Visionen die Grünen eigentlich haben. Und im LRB-Blog erklärt Arianne Shahvisi die Iraner zu Meistertänzern der sozialen Distanzierung.

Bei ungehinderter Ausbreitung

15.05.2020. Aktualisiert: Neues zu Mbembe und BDS. Die Achille-Mbembe-Debatte in SZ und FR. Sonja Zekri möchte den Holocaust in der SZ aus Sicht der postcolonial studies neu betrachten. Claus Leggewie findet Mbembes Äußerungen in der FR misslich, aber sie sollten nicht vom Kampf gegen den eigentlichen Gegner ablenken. In der NZZ stellt sich Giorgio Agamben schon mal auf den Scheiterhaufen und erwartet, dass gleich jemand mit einer Lunte kommt: alles wegen Corona. Und da ist schon die Max-Planck-Forscherin Viola Priesemann, die in Zeit online gegen zu frühe Lockerungen plädiert.

Und dann gehen sie selbst ins Internet

14.05.2020. Nicht nur Achille Mbembe, die postcolonial studies als Ganzes haben ein Problem mit Israel, schreibt der Philosoph Ingo Elbe in der taz. Trotz aller glänzenden Geschäfte, die man mit China macht, ist es Zeit zu begreifen, was es ist: eine Diktatur, schreibt der britische Politiker Denis Macshane in der WeltNetzpolitik macht sich Sorgen: Es gibt nun auch außerhalb des Internets Verschwörungstheorien.  In der Berliner Zeitung erklärt Ilko-Sascha Kowalczuk, warum es in Deutschland so wenige Ostdeutsche nach ganz oben schaffen: Eliten sind hier westdeutsch.

Schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar

13.05.2020. In der taz verteidigt Charlotte Wiedemann Achille Mbembes Blick auf Israel und den Holocaust. In geschichtedergegenwart.ch erklärt der Historiker Caspar Battegay, warum gerade Mbembes Ideal der Versöhnung sein Verhältnis zu Israel so heikel macht. Es hat auch ganz praktische Gründe, warum sich Verschwörungstheoretiker jetzt gerade auf Bill Gates kaprizieren, erläutert golem.de. In der FAZ verteidigt der Bundesverfassungsrichter Peter M. Huber das Urteil des BVG gegen die EZB. In der FR fordert der Risikoexperte Gerd Gigerenzer mehr statistisches Denken und Kenntnis von der Mathematik in der Politik.

Die Idee des Lebenden insgesamt

12.05.2020. Achille Mbembe schickt der taz einen sehr milden, versöhnlichen Text, in dem er ein bisschen weiter ausholt, um sein Denken zu erklären - eine Entschuldigung will er aber immer noch. Mbembe gehört auch zu den Unterzeichnern eines internationalen Aufrufs von Professoren, die erklären, nicht mehr in deutsche universitäre Kommissionen eintreten zu wollen, falls dort BDS-nahe Künstler oder Wissenschaftler unerwünscht sind. Im Tagesspiegel fragt Gerhart Baum: Wo war in der Stunde der Exekutive eigentlich die Legislative?

Erinnerungen an immerwährende Unsicherheit

11.05.2020. In der Debatte um Achillle Mbembe werden jetzt alle Schutzmasken fallengelassen. Mbembe selbst sieht sich in einem Beitrag für das kamerunische Magazin cameplus.com als Opfer von Rassismus und fordert einer Entschuldigung vom Antisemitismusbeauftragten Felix Klein. In der FAS wirft Jürgen Kaube Mbembe vor, gelogen zu haben.  Die SZ mischt sich unter die Aluhüte auf dem Rosa-Luxemburg-Platz. In der NZZ protestiert die Politologin Regula Stämpfli gegen angeblich viel zu weit gehende Corona-Maßnahmen.

Wir brauchen noch 'ne Weile, sorry

09.05.2020. In der FAZ liest der Historiker Thomas Weber einen alten Text von Achille Mbembe und stellt fest, dass das Thema Israel (und die "Wiederholung", die er dem Land vorwirft) am Ursprung seiner Philosophie liegt. Frank-Walter Steinmeiers Rede zum 8. Mai stößt auf ein gespaltenes Echo. Susan Neiman erklärt in der taz, was die Amerikaner aus der deutschen Vergangenheitsbewältigung lernen können. Die NZZ fragt, ob der Lockdown sinnvoll war: Ist Rauchen nicht gefährlicher? Die taz empfiehlt dagegen, den GMV einzuschalten.

Reinen Tisch machen

08.05.2020. 8. Mai. Die vielen Beiträge zum 75. Jahrestags des Kriegsendes machen vor allem eines deutlich: Es gibt kein gemeinsames Gedenken. In der FAZ wenden sich die Außenminister der Ukraine und der baltischen Staaten gegen die neuen Geschichtsversionen aus Russland. In der FR bezeichnet Artur Becker die Niederschlagung des Warschauer Aufstands als "zweite Völkervernichtung". In der NZZ denkt Heinrich August Winkler über Instrumentalisierungen der Geschichte nach. Außerdem: Stefanie Carp, die Leiterin der Ruhrtriennale bringt in der Nachtkritik eine leidenschaftliche Verteidigung Achille Mbembes - und fordert ein neues Nachdenken über Israel im Licht des Postkolonialismus.

Genau diese alten Strukturen

07.05.2020. In der Zeit erklärt die israelische Soziologin Eva Illouz, warum sie die Absetzung des Antisemitismusbeauftragen Felix Klein will. In der SZ schließt sich Stefanie Carp von der Ruhrtriennale, deren Einladung von Achille Mbembe den Streit auslöste, der Kritik an Klein an. Die taz und der Freitag beleuchten die seltsame "Hygienedemo"-Szene, die vor der Volksbühne gegen Lockdown und Maskenpflicht demonstriert. Die Zeit erinnert an das Los der sowjetischen Kriegsgefangenen, die von Hitler zu Millionen ermordet und von Stalin in den Gulag geschickt wurden.

Die Folgen einer stillgelegten Gesellschaft

06.05.2020. In der SZ feiert Daniel Kehlmann Christian Drosten, aber nicht die grauen Beamten vom RKI. In Zeit online erklärt der Virologe Alexander S. Kekulé, was wir alles tun müssen, wenn wir S.M.A.R.T. sein wollen. Der Guardian findet heraus, warum in der Slowakei zehnmal weniger Menschen an Covid-19 sterben als in Österreich. Die SZ kritisiert das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Geldpolitik der EZB. Die taz bringt ein Dossier zum 75. Jahrestag des Kriegsendes.

Bettlernation im heillosen Chaos

05.05.2020. In Zeit online zeichnet George Packer ein verheerendes Bild vom Zustand der USA in der Coronakrise. Und Niall Ferguson sagt in der NZZ die nachfolgende Wirtschaftskrise an. In der FAZ fragt die Historikerin Bettina Hitzer, wie es sein wird, nach den akuten Höchstständen permanent mit der Drohung zu leben. Außerdem: In der Internationalen Politik fragt Richard Herzinger, wie es Wladimir Putin als Pate des Rechtsextremismus auch noch so weit bringen konnte, den Antifaschismus für sich zu kapern.

Selbst im Inkognito-Modus

04.05.2020. Nun mobilisiert ein breites Bündnis von Professoren für Achille Mbembe. Ein Papier israelischer Akademiker fordert die Absetzung des Bundesbeauftragen für Antisemitismus, Felix Klein. Ein weiteres Professorenbündnis um die Assmanns, Eva Illouz, Wolfgang Benz und viele andere verteidigt den Vergleich als Methode des Erkenntnisgewinns. Aleida Assmann fürchtet außerdem in der Berliner Zeitung, dass die Debatte um Mbembe vom wahren Antisemitismus ablenke. Die taz erinnert an den israelischen Beitrag zur südafrikanischen Apartheid. Außerdem: Die SZ erinnert daran, dass Aufklärung nichts ist, wenn sie nicht an der Kanalisation arbeitet. Und Golem erklärt am Beispiel von Xiaomi, was eine "Hintertür mit Telefonfunktion" ist.

Kleine Vollstrecker

02.05.2020. Die taz erinnert an den 8. Mai 1945, unter anderem trocknet die Schriftstellerin Manja Präkels die Tränen der alten Kommunisten. In der FAZ füchtet Ranga Yogeshwar Phase Zwei der Pandemie, in der sich der Volkszorn seine Opfer sucht. Heise.de verfolgt die Wendungen im Urheberrechtsstreit zwischen Moses Pelham und Kraftwerk. Die Jüdische Allgemeine lauscht mit Entsetzen den Sottisen von Lisa Eckart. Weiterdiskutiert wird außerdem um Achille Mbembe und den Wert des Lebens.