9punkt - Die Debattenrundschau

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.

Juli 2021

Allzu sehr im eigenen Soziotop

31.07.2021.
Aktualisiert: Die Welt attackiert Monika Grütters und das Auswärtige Amt, die dem Israelkritiker Bonaventure Ndikung das Haus der Kulturen der Welt übergaben. Angela Merkel hinterlässt den folgenden Bundesregierungen auch ein paar Probleme: Ihr Regierungsstil qua Küchenkabinett ist eines davon, schreibt Terri Langston in der Welt, die Abhängigkeit von China ist ein anderes, meint Timothy Garton Ash im Guardian. In der FAZ beteuert die scheidende Berliner Senatsbaudirektorin Regula Lüscher, dass sie nicht für das in ihrer Amtszeit Gebaute verantwortlich ist. In der taz spricht Sergej Lebedew über die russische Technik der Giftmorde.

Dinge, die nicht entstehen

30.07.2021. "Wir haben nicht verdient, geopfert zu werden!", ruft der kubanische Schriftsteller und Regimegegner Ángel Santiesteban in der FAZ an die Adresse all der Kuba-Romantiker im Westen. Die SZ staunt, dass die Berliner Senatsbaudirektorin Regula Lüscher es schafft zu gehen, ohne dass einer bemerkte, dass sie da war. Nach dem Iran will nun auch die Türkei die sozialen Medien regulieren, berichtet Bülrent Mümay in der FAZ. Selten war ein deutscher Wahlkampf so "öde", notiert die NZZ.

Es war keine Frage von rechts oder links

29.07.2021. Warum interessiert sich der westliche Feminismus eigentlich so wenig für die so weiblich geprägte belarussische Opposition, fragt Alice Bota in der Zeit. Ebenfalls in der Zeit antwortet Götz Aly der Ethnologin Brigitta Hauser-Schäublin, die von einem legitimem Erwerb des Luf-Bootes sprach. Egal welche Debatte: In Deutschland kann man sich eigentlich immer darauf verlassen, dass es um "Schuld" geht, diagnostiziert Reinhard Mohr in der Welt. Margaret Sullivan fordert in der Washington Post ein neues Selbstverständnis von Big Journalism: Weg von der "falschen Äquivalenz". Und in Polen wird Journalismus abgeschafft, konstatiert Gabriele Lesser in der taz.

Das trotzdem Erreichte

28.07.2021. Genozidleugnung ist in Bosnien-Herzegowina für strafbar erklärt worden - aber dafür musste der Hohe Repräsentant der internationalen Gemeinschaft Valentin Inzko seine "Bonn Powers" nutzen, berichtet die taz. Bei libmod.de analysiert der Historiker Martin Schulze Wessel Wladimir Putins geschichtspolitische Essays. In den Blättern erklärt Meron Mendel, wie sich mit Israelhass Differenzen kitten lassen. Und der "Palandt" wird laut SZ nun demnächst "Grüneberg" heißen - der Verlag C.H. Beck verabschiedet sich von den titelgebenden Nazis in seinen Kommentarwerken.

So aufgeladen, so zentral

27.07.2021. Die Krise in Tunesien ist ein Zeichen, schreibt Dominic Johnson in der taz: "Von Iran über Nigeria bis Brasilien zittern die Mächtigen, sobald die Pandemie außer Kontrolle gerät." Die taz berichtet auch über das blutige Sisi-Regime in Ägypten. China benutzt westliche Medienleute und Prominente, um seine Menschenrechtsverstöße in Xinjiang zu beschönigen, notiert die Politologin Mareike Ohlberg im Tagesspiegel. Stefan Laurin weist bei den Ruhrbaronen einige faktische Fehler in Per Leos Buch "Tränen ohne Trauer" nach. Und Edward Snowden rät von Iphones ab.

Das Trauma in großer Einsamkeit

26.07.2021. Durch "Nord Steam 2" hat die Ukraine für den Westen an Wert verloren, fürchtet Andrej Kurkow in der FAZ - Krieg wird dadurch wahrscheinlicher. Die Publizistin Cinzia Sciuto wehrt sich ebenfalls in der FAZ gegen die Formulierung, dass Kindern bei der Geburt ein Geschlecht "zugewiesen" wird. Der in den USA lehrende Politologe Minxin Pei hält es in der NZZ für unwahrscheinlich, dass China die USA technologisch überholt - zu rigide ist die ideologische Kontrolle. Jürgen Zimmerer sieht das Humboldt Forum in der Berliner Zeitung als Denkmal eines "Diskurses eurozentrischer Beharrung". Alan Rusbridger verteidigt in der Daily Mail die Pressefreiheit.

Im Rhythmus der Normalität

24.07.2021. In der taz bricht Norbert Mappes-Niediek eine Lanze für Osteuropa, das nicht nur rückständig und homophob sei, sondern auch Solidarität verdiene. Außerdem huldigt sie der hartnäckigen Staatsanwaltschaft von Bologna, die auch nach 41 Jahren das Bombenattentat von 1980 weiterverfolgt. Die Welt wirft Per Leo eine Arroganz der späten Geburt vor. Die SZ vermutet, dass auch die Einsamkeit aus Menschen gefährliche Spinner macht. Und: Alfred Biolek ist tot, dem Deutschland nicht nur die gepflegte Plauderei verdankte, sondern auch die Monty Pythons.

Von A nach B ohne Datenspuren

23.07.2021. Die FAZ und der Perlentaucher kommen auf die kubanischen Unruhen zurück. Was wird siegen: "Patria o muerto" oder "Patria y vida"? Impfgegner sind keine "Dissidenten" betont Karl-Markus Gauß in der SZ. Auf Zeit online halten die Wirtschaftsethiker Thomas Beschorner und Martin Kolmar eine Impfpflicht für ethisch zu rechtfertigen. Die FAZ stellt den französischen Politologen Pierre-André Taguieff vor, der schon seit vierzig Jahren über die "Neue Rechte", Rassismus und Antisemitismus von rechts bis links forscht. Zeit online zeigt am Beispiel Indien, wie die Spyware "Pegasus" genutzt wird, um die Opposition auszuhorchen.

Hierzulande erst mal abgeschaltet

22.07.2021. Asne Seierstad erzählt in der Welt, wie ein Polizist vor zehn Jahren Viljar Hanssens Hirn in den Schädel zurücksteckte und ein Tuch darum band. Hanssen war auf Utoya von Anders Breivik angeschossen worden.  "Antirassisten" wie A. Dirk Moses wollen nicht Rassismus bekämpfen, sondern Israel, schreibt Thomas E. Schmidt in der Zeit. Joe Biden hat Nord Stream 2 durchgewunken - und die Ukraine im Stich gelassen, fürchten die Medien.

Das nächste Nachher

21.07.2021. Jetzt ist das Humboldt Forum also eröffnet. taz und FAZ führen keine Freudentänze auf. Als Wissenschaftler kann man nur depressiv werden, wenn man sieht, wie Klimawarnungen in den Wind geschlagen werden, meint der Autor Toralf Staud in der SZ. Die Enthüllungen über die "Pegasus"-Spyware gehen weiter.

Begleitet vom Atmen eines Elefanten

20.07.2021. NSO und andere "Sicherheitsfirmen" sind wie Labore, deren einzige Zweck darin besteht, maßgeschneiderte Varianten des Covid-Virus anzufertigen, um die Impfstoffe zu umgehen, sagt Edward Snowden im Guardian. Heute eröffnet das Humboldt Forum, und der taz fällt nichts Besseres ein, als "postkoloniale" Stimmen dazu zu sammeln. Dabei ist die Berlin-Ausstellung richtig schön woke, freut sich die SZ. Wenigstens die Welt ist glücklich mit dem Schloss. FAZ-Herausgeber Carsten Knop attackiert den Hessischen Rundfunk.

Im Trägermedium des Gehirns codiert

19.07.2021. In der Welt ist Deniz Yücel empört über das Laissez-faire der Bundesregierung gegenüber den Machenschaften Erdogans in Deutschland. In der Berliner Zeitung lobt Susan Neiman Bundespräsident Steinmeier, der bei seinem Israelbesuch jüngst die Israelkritiker David Grossman, Eva Illouz und Omri Boehm ehrte. Der modische Antirasssismus wiederholt in seiner Israelkritik lange bekannte Positionen der Linken, schreibt Anastasia Tikhomirova in der taz. Der Guardian und andere Medien enthüllen den Missbrauch der Überwachungssoftware "Pegasus" durch viele Staaten.

Gefährlich und verfrüht

17.07.2021. Genau jetzt, schon mitten in der Katastrophe, ist der Zeitpunkt um zu politisieren, meint spektrum.de - nicht nur über den Klimawandel, sondern auch über Katastrophenwarnungen, findet auch politico.eu. Und gewarnt wird auch in Britannien: vor Johnsons Politik der Öffnung trotz 50.000 Corona-Neuinfektionen am Tag. taz und FAS erinnern an die Attentate von München 2016 und Utoya vor zehn Jahren: Die Traumatisierungen bleiben. Die NZZ erzählt die Urgeschichte der plastischen Chirurgie.

Im Wasser treibend

16.07.2021. Der Klimawandel richtet Verwüstungen an. Der New-York-Times-Kolumnist Ezra Klein fragt: Warum macht die Menschheit nicht Weltrevolution? Der kubanische Regimekritiker Michel Matos erklärt in der taz, warum die Unruhen in Kuba zu Bürgerkrieg führen könnte. taz und SZ fragen, ob der jüngste Streit zwischen der EU und Polen nicht zum "Polexit" führen muss. In der Welt warnt Susanne Schröter vor der Zusammenarbeit mit islamistischen Organisationen.

Damit so etwas nicht passiert

15.07.2021. "Leider konnte uns die EU nicht davor bewahren, dass wir heute in einem autoritären Staat leben müssen",  sagt der ehemalige Präsident des polnischen Verfassungsgerichts Jerzy Stepien in der taz. Droht ein Polexit durch die Gerichte? In der Zeit schreibt der türkische Journalist Erk Acarer, der letzte Woche in Berlin verprügelt wurde. hpd.de berichtet über die Grünen-Politikerin und Ditib-Kritikerin Berivan Aymaz, die von türkischen Medien bedroht wird. In der Zeit antwortet A. Dirk Moses auf Saul Friedländer und kritisiert ihn als Repräsentanten einer "illiberalen Wende". Im New Yorker erklärt Robin DiAngelo ihr antirassistisches Geschäftsmodell.

Privatstrand, Moschee, zwei Schiffsanleger

14.07.2021. Der fatale Einfluss der Kirchen auf Politik wird heute doppelt thematisiert: Auf Zeit online erklärt der georgische Politikwissenschaftler Bidzina Lebanidze, wie die orthodoxe Kirche in seinem Land den Hass auf Schwule instrumentalisiert. Bei hpd.de erklärt der Aktivist Benno Büeler, wie die Kirchen sexuelle Aufklärung und Bildung für Frauen verhindern. Friederike Böge erzählt in der FAZ, wie die chinesische #MeToo-Aktivistin Zhou Xiaoxuan mundtot gemacht wird.

Genau das, was auch Europa braucht

13.07.2021. Die Medien bereiten doch nochmal die Fußball-EM auf. Die Niederlage ließ einige unschöne Seiten des englischen Nationalgefühls aufscheinen: den Rassismus nach drei verschossenen Elfmetern, und vorher schon einen Nationalismus, der bis heute nicht ohne Referenzen auf den Zweiten Weltkrieg auskommt, schreiben FAZ, SZ und andere Medien. Früher war linker Antisemitismus unsexy, jetzt ist er Pop, konstatiert Mirna Funk in der taz. Was genau ist gescheitert am Afghanistaneinsatz, fragen die Salonkolumnisten. Die SZ berichtet über ungewöhnliche Unruhe in der ARD, die den "Weltspiegel" künftig nachts senden will.

Die kumulative Dynamik

12.07.2021. Auch die NZZ geht jetzt auf die Debatte um A. Dirk Moses ein, dem Claudia Schwartz "dummes Geschwätz" vorwirft. Die Historikerin Ulrike Jureit verwirft in der FAZ gegen Jürgen Zimmerer und Michael Rothberg die Ableitung des Holocaust aus dem Kolonialismus. hpd.de erzählt, wie Kolonialismus heute weitergeht: durch evangelikale Missionare, die die letzten indigenen Völker bekehren wollen. Die taz analysiert den neuen digitalen Kapitalismus. Und bei Twitter regiert Chiellini.

Dosenbier trinken und SUV fahren

10.07.2021. In Atlantic schöpft Yasha Mounk wieder Hoffnung für die liberalen Demokratien: Je länger Populisten regieren, umso weniger kann man von ihnen halten. In der Welt blickt Sergej Lebedew in die Schattenwelt, die mit den politischen Morden in Russland entsteht. Nach der Ermordung des haitianischen Präsidenten Jovenel Moise fragt Le Monde, warum niemand die sich ankündigende Tragödie aufhielt. Die SZ blickt auf die marode Salzbachtalbrücke, deren Sperrung den Verkehr in und um Wiesbaden lahmlegt.

Der Pfad der Autonomie

09.07.2021. Hat der Holocaust seinen Ursprung in dem Genozid an den Nama und Herero? In der New York Times ziehen die postkolonialen ForscherInnen Kavena Hambira und Miriam Gleckman-Krut eine Verbindungslinie und fordern größere Reparationen für Herero und Nama. Die Attacken auf die Journalisten Erk Acarer und Peter R. de Vries werfen Fragen zum Stand der Pressefreiheit in Europa auf. Die SZ liest mit Schrecken den "Leitfaden für wertschätzende Kommunikation der Stadt Köln".

Das Motiv der Ursprünglichkeit

08.07.2021. Heute antworten Dan Diner in der FAZ und Saul Friedländer in der Zeit auf A. Dirk Moses' Streitschrift über den angeblichen "Katechismus der Deutschen". Beide Autoren waren von Moses als Urheber dieses Katechismus benannt worden. Diner sucht den eigentlich religiösen Impuls in der Debatte. Friedländer fragt, wen Moses mit "Eliten" meint. Der Streit über eine mögliche Parteistiftung der AfD geht weiter. Ein Papier von WissenschaftlerInnen sucht außerdem nach "Alternativen zum Lockdown".

Computer, Brunch und Podcasts

07.07.2021. "Belarus lebt" heißt eine Ausstellung in Berlin, die die Proteste gegen das Lukaschenko-Regime würdigt. Aber leider lebt es zum Teil inzwischen im Gefängnis, wie der Präsidentschaftskandidat  Wiktor Babaryka. Über beide berichtet die taz. Die FAZ schildert das Versagen Russlands in der Coronakrise. Auch in Chile hat die Katholische Kirche in der Bewältigung ihrer Missbrauchsgeschichte Kredit verloren, berichtet die Welt. Die SZ beleuchtet das dunkle Wesen und Wirken des Bitcoin.

Mindestens fünf Beratungssitzungen

06.07.2021. China ist bei weitem nicht so homogen, wie es tut, schreibt der Tübinger Sinologe Helwig Schmidt-Glintzerin der NZZ. Bei Achgut erzählt der China-Kenner Jürgen Kremb, wie China im Sinne der Gleichschaltung die Sprache bereinigt: Selbst  das Wort "Festland" steht auf dem Index. Es kommt drauf an, Geschichte nicht in Propaganda zu verwandeln, rufen vier Autoren in der New York Times und wenden sich gegen geschichtspolitische Gesetze in einigen amerikanischen Bundesstaaten. Open Democracy hat in Gesundheitseinrichtungen in Kenia, Tansania und Uganda recherchiert, die "Therapien" gegen Homosexualität anbieten.

Grundrechte, die alle besitzen sollten

05.07.2021. Die Grünen möchten das Transsexuellengesetz ändern. Susan Vahabzadeh fürchtet in der SZ, dass die Kategorie Frau aus der Statistik verschwindet. In seinem Blog erklärt Kenan Malik, warum der Begriff "White Privilege" keinen Sinn ergibt.  Der österreichische Bundespräsident hat seinem iranischen Kollegen Ebrahim Raisi zur Wahl gratuliert - Mina Ahadi und Nasrin Amirseghi protestieren in einem offenen Brief. Noch ist Polen nicht verloren, jedenfalls nicht ganz, notiert die NZZ mit Blick auf die Pressefreiheit im Land.

Intuitiv digital

03.07.2021. Nick Cohen erklärt in in thecritic.co.uk, warum er Catherine Beltons Buch "Putin's People" lieber nicht bespricht. Zeit online versucht, die komplett aus dem Ruder gelaufene amerikanische Debatte über "Critical Race Theory" zu resümieren -  amerikanische Bundesstaaten haben Gesetze auf Trump-Linie erlassen, damit sie an Schulen nicht gelehrt wird. Bill Cosby, der von Dutzenden Frauen der Vergewaltigung beschuldigt wurde, ist wegen eines Verfahrensfehlers aus dem Gefängnis entlassen worden - eine Katastrophe für alle Opfer sexueller Gewalt, finden CNN.com und Guardian.

Studium im Alleingang

02.07.2021. Mit Grausen blickt Friederike Böge, die Chinakorrespondentin der FAZ, auf die stalinistischen Paraden, mit denen Xi Jinping den hundertsten Geburtstag der KP feiern lässt. Aber die Machtmaschine funktioniert, stellen SZ und FAZ fest, und zwar auch in Deutschland. In der SZ erklärt Ahmad Jawil Sultani, langjähriger Übersetzer für die Bundeswehr in Afghanistan, was deren Abzug für ihn bedeutet: Lebensgefahr. In der taz fragt Ulrike Herrmann: Zahlen die Armen für das klimapolitisch gute Gewissen der Reicheren? Und für ihre "kulturelle Hegemonie", fragt Reinhard Mohr in der Welt.

Fast weltgeistartig

01.07.2021. Demontage oder Selbstdemontage einer Politikerin? Die Frage, ob Annalena Baerbock in ihrem schnell auf den Markt geworfenen Buch "Jetzt" plagiiert hat, ist Thema Nummer 1 in den Feuilletons. Die Zeit erklärt, was der chinesische Begriff "Chàbuduō" heißt, so etwas wie "Passt schon". Alan Posener kommt in starke-meinungen.de nochmal auf die Debatten um Carolin Emcke und A. Dirk Moser und auf Aleida Assmanns Unterscheidung zwischen einem guten und einem falschen Antisemitismusbegriff zurück.