9punkt - Die Debattenrundschau

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.

September 2016

Eine Situation polyzentrischer Herrschaft

30.09.2016. Die ordentlichen Zeiten des Kalten Kriegs sind längst vorbei  Heute sind wir in einer Situation, die 1914 viel mehr ähnelt, meint Christopher Clark in der NZZ. Die taz berichtet über Widerstand gegen das Totalverbot von Abtreibung in Polen. Das FAZ-Feuilleton empfiehlt Navid Kermani als Bundespräsidenten, auch weil er so religiös ist. Alle nicht öffentlich-rechtlichen Medien staunen über das neue Jugendangebot von ARD und ZDF. Alle Nicht-Printmedien staunen über Günther Oettinger.

Abwertung der Rationalität

29.09.2016. Es ist an der Zeit, "der Idee Europas eine Erhabenheit zurückzugeben", ruft der polnische Dichter Tadeusz Dabrowski in der NZZ. Nick Cohen schildert im Spectator, wie die Brexit-Scharlatane sie verrieten - und weiter verraten werden. Bei Zeit online beschreibt Barbara Nowacka die Entrechtung polnischer Frauen - Abtreibung ist verboten, Verhütungsmittel sind kaum zu bekommen.  Stefan Niggemeier zeigt in seinem Blog, wie Günther Oettinger Zeitungsverleger auffordert, in Sachen Leistungsschutzrecht Druck auf Journalisten auszuüben. Bei Spiegel online spricht Timothy Snyder über das Massaker von Babi Jar.

Gedankenscanner

28.09.2016. Michel Houellebecqs Schirrmacher-Preisrede stößt auf teils recht böse Reaktionen in den Zeitungen. In der taz freut sich die malaysische Popsängerin Yuna, dass Dolce und Gabbana nun auch tugendhafte Mode machen. Timothy Garton Ash bringt eine Tafel mit zehn Geboten fürs Internet und für Redefreiheit. Die SZ nimmt sie dankend entgegen.  Bei Zeit online erfährt man, dass Geheimdienste eher miteinander befreundet sind als mit ihren Staaten. Bei Carta fordert Christian Humborg von correctiv.org Stiftungen auf, Journalismus zu finanzieren.

Vollkommen allein

27.09.2016. In seiner Schirrmacher-Preisrede bekennt Michel Houellebecq, dass er sich in seiner Rolle als écrivain maudit ganz wohl fühlt. Necla Kelek attackiert in ihrer Laudatio auf Houellebecq die deutschen Staatstheater, die sich nicht wirklich für das Leben der Migranten interessierten. Bei der AFP erzählt der Fotograf Karam Al-Masri seine Geschichte, die alle Leiden der Stadt Aleppo resümiert. In der FAZ staunt Bülent Mumay über die türkische Geduld mit dem Islamischen Staat. Und fast alle Medien sind sich einig: Hillary Clinton hat Donald  Trump in ihrem ersten TV-Duell geschlagen.

Der Vorrang des Rechts vor den Werten

26.09.2016. Polen erlässt gerade eines der restriktivsten Abtreibungsgesetze der Welt - polnische Feministinnen setzen ihre Hoffnung auf die EU, berichten BBC und Guardian. Die Welt und der Guardian denken über die alles korrumpierende Macht Wladimir Putins nach.  In der Zeit nimmt Wolfgang Ullrich den Kunsthandel gegen manche Kritik in Schutz. In der NZZ fordert der Frankfurter Philosophieprofessor Martin Seel, zwischen "Leitkultur" und demokratischer Rechtsordnung zu unterscheiden.

Die schrille Tyrannei

24.09.2016. Überall wütet Intoleranz: In Polen wurde Abtreibung gestern quasi komplett verboten - Frauen drohen mehrjährige Haftstrafen, berichten die Agenturen. Im Iran trauen sich die Frauen mit dem Fahrrad auf die Straße und zeigen es auf Twitter, obwohl Ali Khamenei eine Fatwa gegen Frauen auf dem Fahrrad erlassen hat, berichten New York Times und stern.de. Lionel Shriver wehrt sich in der New York Times gegen den Diskurs der "kulturellen Aneignung", mit dem sich radikale Linke an den Unis zu Tugendwächtern aufschwingen. Dave Winer in seinem Blog und Jimmy Wales in der FAZ  fragen, was Apple, Google und Facebook aus der Idee des freien Internets gemacht haben.

In Zivil, selbstverständlich

23.09.2016. Die Geschichte des Piratenpolitikers Gerwald Claus-Brunner stellt auch seine Partei, die über Jahre nicht agierte, in ein trübes Licht, meint der Tagesspiegel.  Während der Iran sich angeblich ein bisschen öffnet, gehen die Hinrichtungen weiter, und eine Sittenpolizei kontrolliert die Kopftücher der Frauen, konstatiert die huffpo.fr. Facebook hat falsche Angaben über die Effizienz von Werbung gemacht, hat das Wall Street Journal herausgefunden - und Facebook ist auch politisch in der Diskussion.

Wer ist im Besitz der Leitkultur?

22.09.2016. In Deutschland gibt es keine richtige Trennung von Staat und Religion, und das ist auch gut so, meint der  Kirchenrechtler Hans Michael Heinig in der FAZ.  Überall wird über ARD und ZDF diskutiert: In Irights.info fordert die Grünen-Politikerin Tabea Rößner eine Debatte über die Öffentlich-Rechtlichen im Zeitalter des Medienwandels. Die taz weiß, was die ARD für Fußball bezahlt. Die FAZ kennt den Hintergrund zu Horst Seehofers Vorschlag, ARD und ZDF zusammenzulegen.  Die extremistischen Siedler sind nicht die bestimmenden Akteure im Nahostkonflikt, hält die Jüdische Allgemeine fest.

Aber die Uhr gehört den Völkern

21.09.2016. Überall wird über die Macht von Facebook und Google debattiert: Im Guardian fordert Espen Egil Hansen, dass sich Mark Zuckerberg der Verantwortung seines Konzerns für die Öffentlichkeit stellt. In der "Freiburger Deklaration" formiert sich ein Verband progressiver Muslime - der aber laut FAZ schon Widerstände auslöst. In Le Monde kündigt Alain Mabanckou eine "Revolution im Kongo-Becken" an.  Der Tagesspiegel fragt: Hat die Berliner Kultur Angst vor dem Neuen?

Diese verratenen Milieus

20.09.2016. Leistungsschutzrecht ist die falsche Medizin für ein echtes Symptom, meint Julia Reda in Zeit online. Ähnlich sieht es FAZ-Digitalchef Mathias Müller von Blumencron in der Presse.  Aber so oder so will Österreich Google und Facebook für die Presseförderung anzapfen, berichtet der Standard. Spiegel-online-Kolumnist Jan Fleischhauer fragt ARD und ZDF mit Blick auf IOC, FIFA und Co., ob sie bei der "Auswahl der Geschäftspartner" nicht etwas sorgfältiger verfahren sollten. Netzpolitik erzählt eine Geschichte über Youtube, Juncker und eine junge Bloggerin, die trotzdem zu fragen wagte.

Schon stürzen sich die Reinen auf die Sündhaften

19.09.2016. Der Rollback in der Türkei bedeutet auch und vor allem, dass Frauenrechte eingeschränkt werden, schreibt Elif Shafak in der NZZ. In der FAS fragt Justus Haucap nach der Legitimation der öffentlich-rechtlichen Sender in Zeiten der Informationsflut. Auch in Frankreich wird über die öffentlichen Sender diskutiert. Keine Regierung hat mehr Whistleblower als Verräter in den Knast gesteckt als die Regierung Obama, stellt die taz fest. Die Washington Post fordert unterdessen "keine Gnade" für ihre einstige Quelle Edward Snowden.

Besser mit Kooperation

17.09.2016. Im Bereich der Familienpolitik sieht die taz Parallelen zwischen AfD und Islamisten. Wird die Türkei ein geschlossenes Land, fragt die SZ bang nach der Absage der diesjährigen Canakkale-Biennale. Wir müssen uns für den Raum zwischen der Türkei und China interessieren, ruft der Historiker Peter Frankopan in der FR. Kulturelle Aneignung ist ein Kernbestandteil von Kultur, meint der Tages-Anzeiger. Die FAZ reibt sich angesichts von Günther Oettingers Urheberrechtsplänen zufrieden die Hände.

Welcher Respekt?

16.09.2016. Die Autorin Lionel Shriver polemisierte in einer Rede gegen den Begriff der "kulturellen Aneignung" und löste in angelsächsischen Medien einen Riesenskandal aus. Wir sammeln Stimmen aus der sehr kontroversen Debatte. In Libération geißelt eine Gruppe syrischer Intellektueller die Einordnung des syrischen Kampfs um Demokratie unter den "Krieg gegen den Terror".  Morgen findet wieder der "Marsch für das Leben statt" statt, und der Berliner Erzbischof Heiner Koch reiht sich ein in die Phalanx der Fundamentalisten und AfD-Politikerinnen, während Julia Klöckner sich mit einem freundlichen Grußwort begnügt, berichtet correctiv.org.

Wenn die Qualitätspresse schäumt

15.09.2016. Im Perlentaucher erklärt Till Kreutzer, warum das europäische Leistungsschutzrecht nicht mal seinen Lobbyisten nützen wird. Die Zeit findet, dass ARD und ZDF eine Rundumerneuerung durchaus gebrauchen könnten. In der FAZ  fürchtet Dan Diner einen Kulturkampf in und um Europa. Die taz fragt: Wer ist dieser Brillenträger mit dem Viertellächeln einer Mona Lisa? Außerdem wünscht sich die taz eine Debatte über die Verheerungen des Paragrafen 175.

Es steht schlecht um das historische Subjekt

14.09.2016. In Brüssel lassen Hubert Burda und Axel Springer die Veuve-Cliquot-Korken knallen: Bald kommt das Europäische Leistungsschutzrecht, berichtet politico.eu. Copyrightexceptions.eu zeigt unterdessen den Flickenteppich des europäischen Urheberrechts. Und die FAZ berichtet, dass die Musikindustrie gegen das Mitschneiden von Musik protestiert. Im Guardian begründet Edward Snowden, warum ein Gnadenerweis Barack Obamas für ihn richtig wäre.

Zur Interoperabilität verpflichtet

13.09.2016. Baschar al-Assad hungert große Teile seiner Bevölkerung aus. Die Vereinten Nationen helfen ihm dabei, konstatiert die taz. Die Frauen des Islamischen Staats beweisen vor allem eins: In ihnen steckt genauso viel Gewalt wie in den Männern,  beobachtet die Revue des deux Mondes. Der Guardian-Kolumnist Nick Cohen ist bestürzt über das Ausmaß des Antisemitismus in der britischen Linken. In der taz erklärt Martin Delius von der Linkspartei, warum er das Urheberrecht für eine soziale Frage hält.

Die Berliner Nicht-Berliner

12.09.2016. Erstaunlich still ist Michael Müller im Berliner Wahlkampf beim Thema Kultur, wundert sich die taz. Liegt's daran, dass er nur noch "Eventkultur" will?  Bei der Sitzung der VG Wort ging es turbulent zu - und eine zweite Sitzung wird wohl von Nöten sein - die Medien machen in diesem Spiel einen klaren Bösen aus.  Die NZZ  fürchtet mit Blick auf die Türkei: Das demokratische Dilemma lässt sich nicht auflösen.

Von radioaktiver Gruseligkeit

10.09.2016. Der Schock über Facebook als Plattform der Öffentlichkeit und ihr hauptsächlicher Zensor sitzt tief. Inzwischen dürfen selbst Nutzer des Netzwerks das Foto des nackten kleinen Mädchens aus Vietnam sehen. Bei Facebook konzediert man, dass man diesmal nicht so sein will. Im Guardian empört sich die norwegische Ministerpräsidentin Erna Solberg über die Anmaßung der Plattform. Ebefalls im Guardian betont Marina Hyde, dass Facebook aktiv zensierte - nicht die Algorithmen waren schuld. Bei Libération spricht der große Alain Mabanckou über Frankreich und seine ehemaligen Kolonien.

Mit maximaler Polemik

09.09.2016. in Libération versucht der Politologe Philippe Corcuff zu erklären, was Islamophobie ist. Stefan Niggemeier bereitet sich in seinem Blog auf eine turbulente Mitgliederversammlung der VG Wort vor. Viel Aufsehen erregt im Netz ein Brief des Aftenposten-Chefredakteurs Espen Egil Hansen an Mark Zuckerberg: "Du missbrauchst meiner Meinung nach deine Macht." Die Electronic Frontier Foundation misstraut Apples kabellosen Kopfhörern.

Jeden Tag eine Million Euro

08.09.2016. Kurz vor der Sitzung der VG Wort am Samstag kocht der Streit hoch. Die FAZ, sonst Herold des "Geistigen Eigentums", macht in diesem Fall darauf aufmerksam, dass die Eigentümer auch freiwillig verzichten können.  Das Problem sind nicht ein paar Burkas in Europa, sondern der salafistische Totalitarismus, meint die NZZ. Wired erzählt, wie Google in die Hirne von Terroristen eindringen und sie neutralisieren will.

Die Kleidermenge der Frauen

07.09.2016. Der Guardian startet eine Reihe zur Krise der westlichen Linken: Im ersten Artikel rekapituliert der Journalist John Harris, wie Labour aufhörte, die Partei der Arbeiter zu sein. Frankreich sucht nach nach einem "Islam de France" und scheitert an den Organisationen und den Gläubigen, sagt Rachid Benzine in Slate.fr. Der Börsenverein schließt seine Online-Plattform buchhandel.de - und kapituliert damit vorm Online-Markt, meldet buchreport.de.

Schranken-Schranken

06.09.2016. Die Welt erklärt, warum die relativ hohe Wahlbeteiligung in Mecklenburg-Vorpommern nicht gefeiert wird: Mobilisiert wurden vor allem AfD-Wähler. Die taz fordert nach den Wahlen eine Trauerarbeit unter Konservativen. Manuel Valls streitet mit der New York Times über Frankreich und den Islam.  In der FAZ kritisiert der Grünen-Politiker Jan Philipp Albrecht die Lobby-Politik der Digitalkommissars Günther Oettinger. Bei irights.info erklärt Martin Kretschmer, wie verwaiste Werke zugänglich gemacht werden könnten. Wofgang Michal fürchtet in seinem Blog, dass Autoren bei der VG Wort ihre Rechte verspielen.

Aus Sexismus wurde Differenz

05.09.2016. Wer im Internet anonym unterwegs ist, darf in der Öffentlichkeit kein Burka-Verbot fordern, meint der Jurist Christoph Möllers in der SZ. Die kanadische Feministin Louise Mailloux wendet sich in ihrem Blog gegen das Kopftuch in Schulen. In der taz fordert die  Historikerin Anna Hajkova  eine "queere Geschichte des Holocaust ".  Günther Oettinger verteidigt in der FAZ das europäische Leistungsschutzrecht für Presseverleger.

Das Schönste an Ankara

03.09.2016. Ist Erdogan der Kanzlerin so lange auf die Füße getreten, bis diese sich vor Schmerz zum Kotau krümmte? FAZ und Berliner Zeitung schreiben zum Hickhack um die Armenien-Resolution. Die SZ warnt vor einer Wiederauflage des Kulturkampfes, den Europa bereits gegen die Katholische Kirche verloren habe. Die NZZ beobachtet bei Gedenkveranstalungen für ermordete Juden in Litauen: Das Land wird offener und toleranter. Warum lesen Wirtschaftswissenschaftler eigentlich nicht mehr ihre Klassiker?, fragt die taz.

Zusammensein im Rudel

02.09.2016. Die Abschreckungskraft internationalen Rechts ist nirgends so wirkungslos verpufft wie in Syrien, konstatiert der New Yorker. Die Nicht-Intervention des Westens hat den Konflikt nicht befriedet, sondern nur zur Intervention aller anderen Kräfte geführt, meint die Welt. Die EU könnte mit der Steuerforderung an Apple neues Terrain bei der europäischen Öffentlichkeit gewinnen, hofft politico.eu. Verspielen könnte sie ihr Ansehen dann gleich wieder mit der Europäisierung des Leistungsschutzrechts für Presseverleger, fürchtet Zeit online. Slate.fr erinnert an den Gründungsvater des Dschihadismus, Sayyid Qutb, der vor fünfzig Jahren vom Nasser-Regime exekutiert wurde.

Jahrelange Bau- und Bohrarbeiten

01.09.2016. Nach dem Steuerbescheid für Apple lobt sich der Guardian die "gesichtslosen Bürokraten" aus Brüssel. Ebenfalls im Guardian: In London geht die Gentrification weiter. Nun vertreiben die Superreichen die Reichen. In der SZ fordert Theaterwissenschaftler Christopher Balme einen Abschied von Intendanten mit Superkräften im Deutschen Staatstheater. In der taz und der Jüdischen Allgemeinen fürchten nun auch jüdische Frauen um ihre Freiheit, sich "keusch" zu kleiden.