9punkt - Die Debattenrundschau

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.

April 2021

Themen, die uns plagen

30.04.2021. Das Versagen der indischen Politik in der Coronakrise ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, ruft Arundhati Roy im Guardian. Aber auch die westlichen Länder machen sich schuldig, weil sie Patente und Impfstoffe nicht weitergeben, schreibt Sanka Chandima Abayawardena in politico.eu.  In Deutschland feiern die taz und Zeit online das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum  Klimaschutz - nur die NZZ schimpft. Erste Benin-Bronzen werden zurückgegeben. Die SZ freut sich so halb und halb. Wolfgang Kraushaar kommt in einem  taz-Essay auf den arabischen Frühling und die Occupy-Bewegung zurück.

Eine Art Demokratie-TÜV

29.04.2021. Die Behauptung, Politik, sei durch wissenschaftlichen Rat getrieben, ist auch oft genug eine Schutzbehauptung von Politikern, die Verantwortung scheuen, sagt Juli Zeh in der Zeit. Wissenschaftsskepsis findet sich jedenfalls nicht nur rechts, schreibt Natalie Grams in hpd.de mit Blick auf die Homöopathie-Anhänger. Die SZ freut sich, dass Deutschland nun über die Rückgabe der Benin-Bronzen diskutieren will. In Indien wüten neue Mutanten des Coronavirus auch deshalb so ungehemmt, weil Narendra Nodi riesige religiöse Feste zuließ, konstatiert der Indienforscher Axel Michaels in der FAZ. In der SZ fleht der schottische Schriftsteller Misha Glenny: "Nehmt uns zurück!"

Daten auf Zettel schreiben

28.04.2021. In der SZ protestiert ein Quartett der deutschen Rock- und Popmusik gegen die geplante Urheberrechtsnovelle. In der taz fragt Georg Diez, welche Verwüstungen die Pandemie in der öffentlichen Debatten hinterlassen wird. In der Welt untersucht Ahmed Mansour die modische Rhetorik des politischen Islams. Die NZZ rät Adolf Muschg in seinen Attacken auf die Cancel Culture zu weniger Krassheit und mehr Präzision. Und die Krautreporter feiern das Aus der geplanten Presseförderung.

Nicht auszuhebeln

27.04.2021. In La Règle du Jeu protestiert Bernard-Henri Lévy gegen die Verhinderung des Prozesses zum Mord an Sarah Halimi - der Mörder, der Halimi unter "Allahu akbar"-Rufen aus dem Fenster warf, wurde von vornherein für schuldunfähig erklärt, weil er sich vor seiner Tat mit Drogen aufgeputscht hatte. In Time träumt Judith Butler im Zeichen der Coronakrise von globaler Entgrenzung und Abbau der Individualität auf einer Erde, in deren Zentrum nicht der Mensch steht. Die SZ berichtet über die Gleichschaltung ungarischer Universitäten mithilfe von EU-Geldern. Die taz beklagt Sarah Wagenknechts "verstaubte Spießermoral".

Bestimmt eine Frage der Ehre

26.04.2021. Der Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention ist ein Schlag für die türkischen Frauen, sagt Asli Erdogan in der FAS. In der FAZ erklärt Armin Pfahl-Traughber, warum er die Begriffe "Islamophobie" und "antimuslimischer Rassismus" zu ideologisch findet, als dass sie tatsächliche Diskriminierungen beschreiben könnten. Die SchauspielerInnen von #allesdichtmachen "spalten die ohnehin aufgeregte Gesellschaft", fürchtet die SZ. Der "Tatort"-Regisseur Dietrich Brüggemann, einer der Organisatoren der Aktion, hält aber laut ntv.de und Netzpolitik an seiner Position fest.

Wo kommt Energie her

24.04.2021. In der taz erkennt der Soziologe Hartmut Rosa nach etlichen Monaten im Home-Office: Der Beschleunigungsdruck wird uns nicht nur von außen aufoktroyiert. In Atlantic sieht Anne Applebaum das Leben von Alexei Nawalny zu einer Metapher werden. Slate fällt auf, dass prominente Newsletter-Autoren selten über Stadtratssitzungen berichten. Die SZ erklärt, wie die neue Litigation-PR der Medienanwälte funktioniert. Und ein bisschen lustlos werfen sich die Feuilletons in die Meinungsschlacht um die Video-Aktion #allesdichtmachen.

Abwarten, ob ein "echter" Krieg kommt

23.04.2021. Alles dicht. Alles schlicht. Alles klar? Die Aktion #allesdichtmachen, in der sich bekannte Fernsehsehschauspieler gegen die Corona-Politik der Bundesregierung wenden, ist eindeutig daneben gegangen, findet etwa rnd.de. Aber es gibt ja auch schon die Gegenaktion #allesschlichtmachen, tröstet der Tagesspiegel. Für die Kultur ist die Saison mal wieder gelaufen, konstatiert der Tagesspiegel - und die Politik kümmert's nicht.  Die taz erklärt, warum die Forschung über den Genozid an den Armeniern Lücken hat.

Wie viel vermeintlich Bekanntes wir gar nicht genau wissen

22.04.2021. In der Zeit spricht die Historikerin Susanne Heim über den Abschluss der monumentalen Edition "Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden". Es werden Genozide kommen, schlimmer als je, Omnizide. Schuld ist die Klimakrise, warnt der Historiker Jürgen Zimmerer in der taz. Nicht wenige Protagonisten der Studentenbewegung sind später in die extreme Rechte abgerutscht - Wolfgang Kraushaar sieht bei den Salonkolumnisten Kontinuitäten. Während Alexei Nawalny um sein Leben kämpft, sucht der sächsische Ministerpräsident 160 Kilometer entfernt bei einem Sektempfang einen  "Modus der Verständigung" mit Putin , notiert die Zeit.

Ein Korrektiv wird schmerzlich vermisst

21.04.2021. Putins System tötet Nawalny, langsam und qualvoll, und die ganze Welt schaut zu, schreibt  Maria Pewtschich von der Nawalny-Stiftung Antikorruption im Guardian. Putin ist aber multitaskingfähig und konzentriert an der Grenze zur Ukraine so viele Truppen, dass es keine Drohgebärde mehr sein kann, notiert die FAZ. Ebenfalls in der FAZ schreibt der ukrainische Autor Serhij Zhadan über die Stimmung in seinem Land. In geschichtedergegenwart.ch erinnert Claus Leggewie an die ikonische Figur des Ali La Pointe, hinter dessen Bild sich die algerische Protestbewegung versammelt. Die SZ möchte Kultur in verlassenen Kaufhäusern.

Widerspruch als Grundprinzip

20.04.2021. Annalena Baerbock ist nun also die Kanzlerkandidatin der Grünen, wie hätte es auch anders kommen können, ist sich die Presse einig. Nur die Buchverlage waren unvorbereitet: Von und über Habeck gibt es Bibliotheken, von und über Baerbock nichts, notiert der Buchreport. Die SZ annonciert in einer neuen schwarz-grünen Koalition einen heftigen Konflikt zwischen Natur- und Klimaschutz. Wenn Putin Alexei Nawalny sterben lässt, raubt er dem Land die Zukunft, schreibt Timothy Snyder in seinem Substack-Blog. In der Washington Post protestiert Cornel West gegen die Abschaffung der "Classical Studies" an der schwarzen Howard University.

Im Wassertank gelöscht

19.04.2021. Tücke des Sozialstaats: Freischaffenden Künstlern, die in der Krise statt Sozialhilfe zu beantragen in anderen Jobs arbeiteten, droht der Rauswurf aus der Künstlersozialkasse, berichtet die SZ. In vielen afrikanischen Ländern wurde in diesem Jahr gewählt - die Demokratie verlor mit bis zu 95 Prozent, resümiert die taz. Das Leben Alexei Nawalnys hängt an einem Faden, fürchtet die Financial Times. Die FAS porträtiert Hedwig Richter als Pophistorikerin. gechichtedergegenwart.ch rät zur Maske des ärgsten Feinds.

Absenkung der Freibeträge

17.04.2021. Die amerikanische Waffenindustrie bringt nicht nur Gewalt in die USA, sondern auch in die südlichen Nachbarstaaten, schreibt Iaon Grillo im Guardian - die Folge ist eine verstärkte Migration in die USA. Es gab zwei Seiten, die von dem Clinch profitierten, in dem sich Trump und die Medien befanden, nämlich Trump und die Medien - nun folgt der Kater, beobachtet die taz. Der Rückzug der westlichen Länder aus Afghanistan wird die Gewalt in dem Land nicht stoppen, fürchtet die FAZ. hpd.de erklärt, was die Plattform change.org als "implizite Hassrede" versteht und warum sie deshalb eine Petition gegen Islamismus löscht.

Auf der Überholspur einer Diskursautobahn

16.04.2021. Frankreich hat offiziell die Zahl der 100.000 Coronatoten überschritten - Le Monde zieht traurige Bilanz. Im Spiegel kritisiert der Historiker Peter Longerich die "Jerusalem Declaration", die als "nicht per se" antisemitisch deklariere, was von Antisemitismus nicht zu unterscheiden sei. Der Austritt aus der Istanbul-Konvention macht laut SZ noch einmal deutlicher, wie krass Gewalt gegen Frauen gerade in der Türkei ein Thema ist.  Wenn erst die Benin-Bronzen zurückgegeben sind, "werden wir uns überlegen", was Museen in Deutschland behalten dürfen, sagt Mnyaka Sururu Mboro vom Verein Berlin Postkolonial in der taz.

Einblicke ins Heilige

15.04.2021. Die Coronakrise zeigt: Es ist Zeit, "das staatliche Gefüge insgesamt einer strengen und grundsätzlichen Inspektion zu unterziehen", schreibt Thomas Schmid in der Welt. Hongkong kommen die Hongkonger abhanden: 44 Prozent der Bevölkerung wollen die Stadt gern verlassen, berichtet die Zeit. Wer die deutsche "Schuldobsession" kritisiert, wie Hedwig Richter und Bernd Ulrich das letzte Wochen taten, bedient die Rede vom "Schuldkult", wie Neurechte sie führen, kritisieren die Historiker Christina Morina und Dietmar Süß  in der SZ. Der Tagesspiegel stellt einen UN-Bericht zur (oft beklagenswerten) Lage der Frauen in der Welt vor.

Die Grenze existierte. Das tut sie auch jetzt

14.04.2021. Unser Gesundheitssystem erstickt in Bürokratie, warnen SZ und Zeit online.  Der Kunsthistoriker Gürsoy Dogtas schreibt in der taz über Gewalt in türkischen Familien, die durch den Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention noch bestärkt wird. Es gibt tatsächlich noch eine Partei, in der ein echter Nationalsozialist ein Parteiamt hat (Hermann Klenner, Mitgliedsnummer 9756141, 95 Jahre alt), und das ist die Linkspartei, hat Hubertus Knabe für die Welt herausgefunden. In Indien hat sich längst eine neue Elite gebildet, die sich nicht mehr am Westen orientiert, konstatiert der Genetiker Razib Khan in Unherd.

Eigenhändig zerrissene Dokumente

13.04.2021. Der Guardian zeigt in neuen Dokumenten, wie Politiker Facebook für politische Manipulation missbrauchen. Warum sollten die Russen Europa physisch erobern wollen, sie wollen doch weiter sicher in ihren Villen an der Côte d'Azur leben, konstatiert der estnische Politiker Toomas Hendrik Ilves im Gespräch mit American Purpose. Das europäische Urheberrecht wird in Deutschland verwirklicht, und zwar schnell, auch wenn immer noch nicht klar ist, wie, berichten golem.de und heise.de. hpd.de erzählt, wie Polen einen fundamentalistischen Katholiken zum Richter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte machen will.

Die harte Tür

12.04.2021. Die gewalttätigen Proteste in Nordirland in den letzten Tagen haben gezeigt, dass die Irland-Frage im Brexit-Deal nicht befriedigend gelöst werden konnte, notiert der Guardian. Wo bleibt in der Coronakrise die Solidarität mit den Jungen, fragt die SZ. Das Gendern hat keine Zukunft, vermutet Rainer Moritz in der FAZ - denn Sprache ging noch nie den Weg des größeren Widerstands. In der FAS attackiert die Kolumnistin Ronya Othmann die Kolumnistin Kübra Gümüsay. Substack kann charismatischen Journalisten eine Menge Geld verschaffen und steht für eine Machtverschiebung in den Kreativbranchen, glaubt Ben Smith in der New York Times.

Dafür viele Likes auf Twitter

10.04.2021. In der Welt fragt Judith Sevinç Basad, wie die woke Linke so abgehoben und dogmatisch werden konnte. Weil die Liberalen so wehleidig geworden sind, antwortet ihr Jan-Werner Müller in der NZZ. In der FAZ will sich Hans Christoph Buch das Leben in Haiti nicht schönreden lassen. In der taz nimmt die Historikerin Karina Urbach mit den Tagebüchern des reaktionären Snobs Chip Channon Einblick in das plüschig-palmige Hohenzollern-Leben in Schloss Cecilienhof. Und natürlich verabschieden die Zeitungen Prinz Philip, den boshaften Prinzgemahl.

Das ist keine schöne neue Welt

09.04.2021. Viel Ärger um Sahra Wagenknecht: Am Wochenende sollte sie zur Bundestagskandidatin gekürt werden. Aber nun sorgt ihr vorzeitig zirkulierendes neues Buch in der Linkspartei laut taz für hellste Empörung: Dort kritisiert sie die modische Linke und verteidigt Gelbwesten und "Querdenker". #FoucaultToo? Viele deutsche Zeitungen setzen sich mit Pädophilie-Vorwürfen gegen den Urvater der Postmoderne auseinander. Nicht nur in Ungarn, sondern in ganz Europa "bahnt sich eine Krise der akademischen Freiheit an", schreibt der Politikwissenschaftler Liviu Matei  im Tagesspiegel.

Statt der aufgenähten Flagge Taiwans

08.04.2021. In der SZ appelliert Swetlana Alexijewitsch an die Solidarität Europas, auch im eigenen Interesse: "Ich denke, dass Europa nicht ganz begreift, welche große Gefahr von Belarus ausgeht." Die Krautreporter erklären, warum sie rechtliche Schritte gegen die geplanten Subventionen für Zeitungen ergreifen. Die Zeitungen diskutieren über die Frage, ob Geimpfte größere Rechte genießen sollten. Unterdessen ist die Verzweiflung in den Städten wie mit Händen zu greifen, beobachtet die SZ. Und dann ist da noch die Frage, warum Ursula von der Leyen auf dem Sofa sitzt.

Klare Lagebilder

07.04.2021. Gustav Seibt in der SZ und Götz Aly in der Berliner Zeitung freuen sich, wie im Flughafen Berlin-Tempfelhof die Weiß- und die Schwarzköpfe der Stadt bei dem Projekt "Wir sind Berlin" auf Harmonischste kooperieren. Stuttgart dagegen: Querdenker demonstrieren, und die Polizei greift nicht mal ein, konstatieren konsterniert kontext und FR. In der taz fordert Ilija Trojanow eine Abschaffung der Patente auf Pharmaprodukte. Die Zeitungen trauern um Hans Küng.

Ikonoklastische Bewegungen

06.04.2021. Seit dem Medienwandel hat Journalismus ein Problem mit seinem Geschäftsmodell: nur die Leser können es lösen, meint Johannes Franzen in 54books. Die Ethnologin Heike Behrend lotet in der Welt den überraschenden Einfluss des Evangelikalismus auf Debatten um koloniale Raubkunst aus. Für die NZZ liest Kacem El Ghazzali das Buch "Der alltägliche Islamismus" der Politikwissenschafterin Elham Manea, das vorm "politischen Islam" warnt. Der New Yorker erklärt, wann bei der Firma Huawei "Uiguren-Alarm" ausgelöst wird.

Bereitschaft für eine alternative Wahrheit

03.04.2021. In der taz erklärt Anne Applebaum, warum sie über Populismus schreibt: "Ich versuche zu zeigen, wie lächerlich und falsch die Idee ist, dass autoritärer Populismus das sogenannte wahre Volk repräsentiert." Wie multidirektional ist die "multidirektionale Erinnerung" bei Michael Rothberg wirklich, fragen die Ruhrbarone. Alexei Nawalny ist in den Hungerstreik getreten um gegen die Bedingungen seiner Haft zu protestieren, berichtet die taz. Der Guardian ist empört über den "Race Report" der britischen Regierung, der den Nachfahren ehemaliger Sklaven zu ihrer britischen Identität gratuliert.

Im Körpergedächtnis zu verankern

01.04.2021. Was benennt das "hölzerne Wortgeschöpf" namens "multidirektionale Erinnerung" eigentlich anderes als eine Selbstverständlichkeit, fragt die taz. Die asiatische Demokratie ist die beste der Welt, ist sich Parag Khanna in der FR sicher. In der SZ fürchtet Karl-Markus Gauß, dass aus Slowenien ein zweites Ungarn wird. Und für prominente Journalisten kann Substack zur Gelddruckmaschine werden, versichert die Financial Times.