9punkt - Die Debattenrundschau

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.

November 2019

Dann war es eben keiner

30.11.2019. In der NZZ blickt Klaus Theweleit auf 12.000 Jahre alte Gewalt- und Kriegsgeschichte, die sich im männlichen Körper eingeschrieben haben. In der FAZ zerpflückt der Historiker Ulrich Herbert die Geschichtsschreibung seines Kollegen Wolfram Pyta im Dienste der Hohenzollern. Wenn Europa Kunst behalten will, erklärt es sie zum Besitz der Weltgemeinschaft, spottet Felwine Sarr im Standard. Streaming ist nur umweltfreundlich, mahnt die SZ, wenn man hinterher nicht zum Schauplatz fliegt. Und in der taz erklärt die Linken-Politikerin Caren Lay Clubs und Diskotheken zum Kulturschutzgebiet.

Ein zeitloses brodelndes Ungetüm

29.11.2019. Die Ermittlungen zum Mord an Daphne Caruana Galizia deuten auf eine Verstrickung von Maltas Regierung. Die Welt fordert von der EU, endlich gegen den Mafiastaat vorzugehen. In der taz setzt Petra Reski mit den Venezianern auf die Unabhängigkeit vom Festland. In der NZZ ergründen Jindřich Mann und Jaroslav Rudiš die dunklen Seelen der Mitteleuropäer. In der Berliner Zeitung gibt Jill Lepore nicht allein den Amerikanern die Schuld an Donald Trump, sondern einem globalen Ideenversagen. Und Uebermedien fragt: Glauben Sie an Krebs?

Die Zeitlichkeit der Freiheit

28.11.2019. Die taz bilanziert, was 20 Jahre Scharia dem Norden Nigerias gebracht haben. Nach einem Besuch bei Julian Assange donnert Slavoj Zizek in der Welt: Nicht mal Hongkong liefert politisch heikle Fälle an China aus. Die SZ staunt über das Personalwunder der Berliner Bauakadmie, das Juristen in Architekten und Politik in wissenschaftliches Renomee verwandelt. Und der Guardian stimmt mit den Sardinen von Bologna ein sanftes Bella Ciao an.

Rimini beißt nicht an

27.11.2019. In London schlagen die Wellen hoch, nachdem der britische Oberrabbiner Ephraim Mirvis dazu aufrief, nicht Labour zu wählen. Im Fall der ermordeten Journalistin Daphne Caruana Galizia weisen die Spuren direkt in Maltas Regierung, berichtet die SZ. In der Welt warnt Wolf Lepenies trotz allem davor, den Osteuropäern Lehren erteilen zu wollen. Die FAZ attackiert die französischen Intellektuellen, die nach den italienischen Terroristen jetzt auch Vergewaltiger vor der Justiz bewahren wollen. Die taz zwängt sich freudig unter die Sardinen von Rimini

Das Gesetz hat viele Feinde

26.11.2019. Nach der Veröffentlichung der China Cables fordert die SZ, deutsche Unternehmen zu sanktionieren, die Chinas Verbrechen gegen die Uiguren tolerieren. Netzpolitik staunt, zu welcher Allianz sich Lobby-Gruppen aus alten und neuen Medien finden, um die ePrivacy-Verordnung der EU zu verhindern. Der Dlf hält fest: 77 Prozent aller Hasskommentare kommen  von rechts, 9 Prozent von links. Und der frisch gekürte Geschwister-Scholl-Preisträger Ahmet Altan apelliert an uns, ein bisschen über unseren Alltag hinauszuwachsen.

Besonders brisante Arroganz

25.11.2019. In Hongkong hat die Demokratiebewegung einen Erdrutschsieg errungen, der von der Parteizeitung Global Times recht sauer kommentiert wird. Die SZ präsentiert die "China Cables" über Umerziehungslager für Uiguren. In der FAZ denkt der Historiker Wolfgang Reinhard über Religionen und Frieden nach - das sei aber nicht ihr größtes Talent. In der FAS erklären die Friedrichs, warum sie nicht früher über Holger Friedrichs Stasi-Vergangenheit geredet haben. Laut hpd.de ist das Jungfernhäutchen gar keins.

Einen Eigentümer kann man schließlich nicht entlassen

23.11.2019. "Heute fürchtet man die Zukunft und verklärt die Vergangenheit. Das Problem ist nur, welche Vergangenheit", fragt Ivan Krastev in der Welt. In taz und Standard verteidigt Berliner-Zeitung-Herausgeber Michael Maier den neuen Eigner der Zeitung, Holger Friedrich: Die Stasi war nur eine "Mini-mini-Episode". In der NZZ entwrift Zafer Senocak ein Szenario für eine post-erdoganistische Türkei. Der Guardian druckt eine Rede von Sacha Baron Cohen: Facebook hätte auch Reklame für Hitlers "Lösung der Judenfrage" gebracht.

Sind die Franzosen dann die Sansculotten?

22.11.2019. Im Tagesspiegel rauft sich Timothy Garton Ash die Haare angesichts der Langeweile in der deutschen Politik. Politico.eu bezweifelt, ob die Einschränkung politischer Werbung in sozialen Netzen wirklich etwas bringt. Auf Facebook entschuldigt sich Extinction-Rebellion-Mitgründer Roger Hallam für seine Holocaust-Vergleiche. Aber andererseits: "Der Klimawandel ist nur das Rohr, durch das Gas in die Gaskammer fließt."  

Rhetorischer Zwischenschritt

21.11.2019. Übers Internet wird gern geschimpft. Aber noch gewalttätiger wird's, wenn es abgeschaltet wird, berichtet golem.de aus Anlass der Proteste im Iran. Der Aktivist Roger Hallam von "Extinction Rebellion" fürchtet die Auslöschung durch den Klimawandel. In der Zeit erklärt er, warum der Holocaust, verglichen damit,  nur ein "weiterer Scheiß" ist. Für die Welt spricht Ze'ev Avrahami mit dem Rechtsextremismusexperten Alexander Yendell, der ihm erklärt, warum die verbliebenen Männer in den Neuen Ländern so viel Hass vor sich herschieben.

Verheerende Auswirkungen

20.11.2019. Der Streit um den Berliner-Zeitung-Verleger Holger Friedrich hält die Journalistenschaft noch immer in Atem. Götz Aly attackiert in der Berliner Zeitung die Berichterstattung der Welt über Friedrichs Stasi-Vergangenheit. Hubertus Knabe legt in der NZZ den Finger auf die Wunde. Und das mit berlin.de wird auch nicht klappen, vermutet die FAZ. In der NZZ beleuchtet der Wirtschaftsethiker Peter Seele den Konflikt zwischen Nachhaltigkeit und Freiheit. Der Guardian malt den "Kollaps des Ökosystems der Information" an die Wand. Auf Zeit online fordert die Fernsehautorin Verena Weidenbach die Ächtung der AfD.

Etwa zweieinhalb Meter

19.11.2019. Die aktuellen Proteste im Iran könnten die größte Herausforderung für das Mullah-Regime seit dem Krieg mit dem Irak werden, berichtet politico.eu. Die NZZ erklärt, warum wir alle ein Pokerface aufsetzen müssen, wenn die App Affectiva kommt. Bei Zeit online ist sich der Klimaforscher Anders Levermann sicher: Venedig wird untergehen. hpd.de weiß, warum Rheinland-Pfalz keinen konfessionsübergreifenden Religionsunterricht will. Und die Friedrichs haben jede Menge Ärger.

Hier fängt kritisches Denken an

18.11.2019. Die Stasi-Vergangenheit von Holger Friedrich, des Neuverlegers der Berliner Zeitung, treibt die Medien weiter um: Seine beste Chance hat Friedrich schon verpasst, meint Robert Ide im Tagesspiegel. In der SZ denkt Jill Lepore über Demokratie und Wahrheit nach.  Hört auf, die Geisteswissenschaften zu attackieren, ruft Markus Gabriel in der NZZ. Nur sie schützten die Werte der Aufklärung. In der FAS gibt die Venezianerin Petra Reski der Politik die Schuld am Untergang der Stadt.

Den Talentbegriff erweitert

16.11.2019. Auch das noch: Die WamS hat die Stasi-Akten von Holger Friedrich ausgegraben, was die Berliner Zeitung in eine peinliche Situation bringt. Herausgeber Michael Maier ließ einst alle IMs entlassen, weil sich Spitzelei nicht mit Journalismus in einer Demokratie verträgt. Die SZ fragt mit Blick auf das überflutete Venedig, warum Italiens Politik das Land immer wieder im Stich lässt. Die taz trifft in La Paz die enttäuschten Anhänger von Evo Morales. Und Libération sieht nach 53 Samstagen noch immer Gelb.

Weltdominanz ist noch keinem geglückt

15.11.2019. In der SZ erinnert Karl-Markus Gauß daran, dass das heute so ethnisch-homogene Osteuropa einst ein Inbild der Vielfalt war.  In der FR, der Welt und im Bundestag wird über China gestritten: Ist seine Expansion so harmlos, wie Politikwissenschaftler Parag Khanna in der FR versichert? Die FAZ porträtiert den französischen Philosophen Gaspard Koenig, der Künstliche Intelligenz mit Leibeigenschaft vergleicht. In der New York Times erklärt ein Student, warum er als Rassist angesehen wird, obwohl er ein Linker ist: Er ist Jude und verteidigt Israel.

Kleine Allergien und Intoleranzen

14.11.2019. Die Grenze verläuft nicht unbedingt zwischen Links und Rechts, erkennt der Soziologe Andreas Reckwitz in der Zeit, sondern zwischen Regulierung und Dynamisierung. Die Vernunft verkörpert sich in Institutionen der Freiheit und Gerechtigkeit, erklärt in der NZZ Jürgen Habermas. In der Welt fordert Alan Posener an den Schulen "philosemitische Erziehung". In der taz prangert Erk Acarer die erneute Verhaftung von Ahmet Altan an. Nicht der Klimawandel ist schuld am Hochwasser in Venedig, donnert die SZ, sondern die Vertiefung der Fahrrinnen für die Kreuzfahrtschiffe.

Unerfüllbare Motorisierungswünsche

13.11.2019. Zeit online und Tagesspiegel bringen einige Texte von Ossis, die nicht mit den Ossis heulen wollen, zum Beispiel von Birgit Walter, die schon vor der Wende Journalistin in der DDR war  und es nicht fassen kann, dass 41 Prozent der Ostdeutschen das Recht auf  Meinungsfreiheit heute und in der DDR "locker auf eine Stufe stellen". Die Welt geißelt ein Urteil des EuGH, das Produkte aus den von Israel besetzten Gebieten gekennzeichnet sehen will, als antisemitisch. In Atlantic schildert Zeynep Tufekci Angst und Entschlossenheit der Demonstranten in Hongkong. Und Netzpolitik stellt neue chinesische Überwachungskameras vor: Sie erkennen jetzt Uiguren.

Ohne Kennzeichen unterwegs

12.11.2019. In Atlantic feiert Yascha Mounk den Abgang Evo Morales' als einen Sieg der Demokratie. In der SZ spricht der Soziologe Andreas Reckwitz über den Konflikt zwischen der urbanen und der traditionellen Mittelklasse. Die Übermedien versuchen herauszukriegen, was der Burda-Verlag und Juli Zeh mit "Printjournalismus" meinen. Und die New Yorker Anthropologin Wednesday Martin erklärt in der Welt, warum FRauen nicht für die Monogamie gemacht sind.

Straffrei lesen

11.11.2019. Pünktlich zu dreißig Jahren Mauerfall fragen Shermin Langhoff und Durs Grünbein in der Berliner Zeitung: Sollten wir Identitäten zertrümmern oder doch besser nur verflüssigen? Heinrich August Winkler glaubt in der FAZ, dass "altdeutsche Vorbehalte" gegen Demokratie in der DDR wesentlich besser überleben konnten. In der SZ erklärt der dänisch-deutsche Schriftsteller und Schauspieler Knud Romer, wie deutsch  die Dänen sind. In La Règle du Jeu erklärt Noémie Madar, die Vorsitzende der jüdischen Studentengemeinde Frankreichs, warum sie nicht an der Pariser Demo gegen Islamophobie teilnahm.

Wir wollten wissen, was sie wussten

09.11.2019. Die Mauer war nicht eine Mauer, sagt Timothy Garton Ash in der Welt, sie war die Alpen. France Inter bringt aus dem Anlass ihres Zusammenbruchs eine Techno-Playlist.  Die SZ berichtet über eine Denkwerkstatt afrikanischer Intellektueller, in der Achille Mbembe schwarze 'négrophobie' kritisierte und ein vereintes Afrika ohne Grenzen vorschlug. Hat Cornelia Koppetsch plagiiert? Bei der Verleihung des Bayerischen Buchpreises kam es zum Eklat - FAZ und SZ werfen einen sehr unterschiedlichen Blick auf die Affäre.

Die Beharrungskräfte sind zu hoch

08.11.2019. So freiheitlich, wie sie heute noch gern gesehen wird, war die Wende 1989 nicht, schreibt Thomas Schmid in der Welt: Das eigentlich prägende Datum des Jahres sei darum nicht der 9. November, sondern der 4. Juni. Und laut Leander Haußmann in der Nachtkritik hat der Wessi heute ein Spiegelbild: den Ossi. Bei den Salonkolumnisten sucht Stefan Laurin Gründe für den Niedergang des Ruhrgebiets. In Libération zweifelt Lionel Jospin am Laizismus der "linken Linken".

Typische Umbruchserfahrung

07.11.2019. Also unseres Wissens.... ist die Mauer seit gut dreißig Jahren auf. Die Zeitungen fragen Schriftsteller: In der DDR waren die Verhältnisse repressiv, aber einfach. Heute aber leben wir in Zeiten, "in denen die Begriffe links und rechts endgültig bedeutungslos wurden", schreibt Monika Maron in der NZZ. In der FAZ kritisiert auch Lukas Rietzschel, nach der Wende im Osten geboren, die Narrative der Wessis über die Ossis. Auch die Debatte über Meinungsfreiheit geht weiter: Diese sei von zwei Seiten eingekreist, diagnostiziert der Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel in der Zeitschrift IPG.

Die Dimension des Zuhörens

06.11.2019. Wir meinen so frei. Zu frei, meint Navid Kermani, der im Deutschlandfunk die "Enthemmung von Meinung" beklagte. Hamed Abdel-Samad widerspricht ihm auf Facebook. In der NZZ fürchtet der Philosoph Peter Boghossian, dass sich unter der Forderung nach Diversität ideologische Homogenität versteckt. Und in Spiegel online plädiert der Sprachforscher Eric Wallis dafür, Rechte nicht aus den Unis auszuschließen, sondern mit ihnen zu reden. SZ und taz freuen sich über Entlassung von Ahmed Altan und Nazli Ilicak aus dem Gefängnis.

Und Folgendes sehe ich voraus

05.11.2019. Wenn in Flensburg zwei Krankenhäuser fusionieren, werden Schwangerschaftsabbrüche gleich mal eingestellt. Das liegt aber nicht an der Religion, so die taz. Der Atlantic fasst schon mal das Gezicke zwischen Britannien und der EU nach dem Brexit ins Auge. Und Fintan O'Toole warnt im  Guardian vor englischen Tories, die sich als irische Revolutionäre verkleiden. Die NSU-Morde bleiben eine Schande, auch weil ihrer kaum gedacht wird, so die taz. Und in der NZZ sagt Niall Ferguson den Zusammenbruch Chinas an.

Reprussifizierungstendenzen

04.11.2019. Überall wird über Meinungsfreiheit gestritten. Während FAS-Redakteur Harald Staun die Kritik an "Political Correctness" abwehrt, geißelt Historiker Andreas Rödder in der NZZ die an Universitäten um sich greifende  "Hypermoral des Regenbogens". Auch über die Wahl in Thüringen wird weiter diskutiert. In der taz beleuchtet der Politologe Wolfgang Schroeder die Rolle der nicht akademischen Mittelschicht. Und Hubertus Knabe blickt in seinem Blog auf weit zurückreichende Kontinuitäten in der thüringischen Linkspartei.

Der AK.Unbehagen hat Christa Wolf gelesen

02.11.2019. In einem Dossier zu 30 Jahren Mauerfall erinnert die taz an das geistige Kleingärtnertum der westdeutschen Linken, die den 9. November vor allem als ästhetische Zumutung empfand. In der Welt stellt Richard Herzinger klar, dass der Westen die weltweiten Demokratiebewegungen nicht zu viel unterstützt, sondern zu wenig. FR und ZeitOnline blicken über den Eisernen Vorhang, den Präsident Putin vor seinem russischen Internet hochzieht. Die SZ lächelt freundlich in die Kameras von Alicem. Und die FAZ fragt: Machen Smartphone nur kurzsichtig oder auch dick und doof?

Angesichts möglicher Mimikry

01.11.2019. Das Attentat von Halle löste bei der deutschen Politik einige Betriebsamkeit aus - von Erschrecken über den Antisemitismus ist nichts zu spüren, und das hat einen Grund, schreibt Matthias Küntzel im Perlentaucher. Timothy Garton Ash sieht im Guardian noch eine Chance für den Geist von 1989.  In der FAZ erzählt Bülent Mumay, wie die türkischen Medien über den Einmarsch türkischer Truppen in Nordsyrien nicht berichten. In der New York Times polemisiert Aaron Sorkin, der Drehbuchautor von "The Social Network", gegen Mark Zuckerberg.