9punkt - Die Debattenrundschau

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.

Februar 2023

Ohne Dialektik geht es nicht

28.02.2023. In der SZ erzählt der Schriftsteller Stephan Thome die nicht sehr freundschaftliche Geschichte der chinesisch-russischen Beziehung. In der FAZ fragt die Ethnologin Brigitta Hauser-Schäublin, wo eigentlich der größte Teil der Benin-Bronzen ist, die laut Datenbank in Nigeria stehen müssten. Im Interview mit der FR fordert Omri Boehm einen radikalen Universalismus, der nicht westlicher Provenienz ist. Auf Zeit online hofft Can Dündar, dass Erdogan bei den anstehenden Wahlen sein Blatt endgültig überreizt hat. Ansonsten streitet man sich über eine neue Friedensbewegung, scheitert aber schon an einer gemeinsamen Wirklichkeitsbetrachtung.

Russland endet nirgendwo

27.02.2023. Wieviele Demonstranten für den Schwarzer-Wagenknecht-Aufruf auf die Straße gingen, ist umstritten. Jedenfalls waren es sehr sehr viele, findet die Berliner ZeitungFAZ und taz sehen es allerdings anders. Putins Krieg ist in Raum und Zeit unbegrenzt, fürchtet Greg Yudin in meduza.io. Nicht nur die Katholische Kirche, auch der Staat hat gegenüber den Fällen sexuellen Missbrauchs durch Priester versagt,  sagt der Kölner Staatsrechtler Stephan Rixen in der FAZ, denn er hat auf die Durchsetzung seiner Kompetenzen verzichtet. Die Fälschung der "Hitler-Tagebücher" suggeriert, dass Hitler vom Holocaust nichts wusste - darin liegt die eigentliche Dimension des Skandals, erinnert Hajo Funke in der SZ.

Das am meisten verminte Gebiet der Welt

25.02.2023. Putin hat den Krieg schon verloren, er weiß es nur noch nicht, schreibt Jonathan Littell in Le Monde. "Russland wird erst dann eine Demokratie werden, wenn es zerfällt", schreibt Oksana Sabuschko in der New York Times. Alice Schwarzer und Sarah Wagenknecht reihen sich heute ein in die Pazifisten-Querfront, notieren taz und Tagesspiegel. Dass es nicht zu Verhandlungen kommt, liegt an den kriegstreiberischen Amerikanern, ist sich Wolfgang Streeck in der FR sicher. Und Patricia Schlesinger will nur, was ihr zusteht, meldet Spiegel online, eine Betriebsrente von 18.384,54 Euro."Pro Monat".

Die Ukraine hat gewonnen

24.02.2023. Heute ist der Jahrestag des Kriegsbeginns. Die Zeitungen sind voll mit Analysen und mit bangen, zaghaften oder zuversichtlichen Kommentaren. Wir - der "Westen" - sind Teil dieses Krieges,  ob wir wollen oder nicht, schreibt Gerd Koenen in der FAZ.  Der Krieg geht weiter. "Man wird erst wieder erfahren, was Angst ist und wie man mit ihr lebt", sagt Richard Sennett in der FRGwendolyn Sasse  fragt in der taz, was eine Niederlage für Russland bedeuten würde. Der Guardian bringt eine Hommage auf die Stadt Mariupol.

Bis hin zu Dosenfleisch

23.02.2023. In Spiegel online attackiert Sascha Lobo die "Querfront der Friedensschwurbler", die sich um Sahra Wagenknecht formiert. Der RBB streicht hundert Stellen, berichten die Zeitungen. So etwas wie ein Schlagerfestival von Sanremo könnte er gar nicht mehr ausrichten: Die RAI hat dafür laut FAZ 1.100 Mitarbeiter in das Städtchen entsandt. Alle Zeitungen kommentieren das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Parteistiftungen.

Sehnsucht nach den alten, komfortablen Zeiten

22.02.2023. Habermas' Forderung, im Ukrainekrieg zu verhandeln, ruft immer mehr Kritiker auf den Plan: Friedensverhandlungen sind nicht die Voraussetzungen für die Lösung des Konflikts, sondern ihr Endpunkt, erinnert Armin Nassehi auf Zeit online. Die Europäer müssen endlich eine Schlacht gegen die eigene Nostalgie führen, fordert der belarusische Politiker Pawel Sljunkin im Tagesspiegel. Auf Zeit online gratuliert George Packer dem russischen Präsidenten: Er habe ganz allein den Niedergang der USA in der Weltpolitik umgekehrt. Im Tagesspiegel erinnert der Historiker Rüdiger Hachtmann an die Märzrevolution 1848.

Der lange Frieden war die Besonderheit

21.02.2023. Alexej Nawalny twittert 15 Thesen, in denen er unter anderem eine Entschädigung der Ukraine für sämtliche von den Russen verübten Schäden fordert. Die SZ veröffentlicht Pläne des Kremls aus dem Jahr 2021 für einen Unionsstaat, der neben der Ukraine auch die Einverleibung von Belarus vorsieht. "Habermas ist erkennbar ratlos", was zu tun sei, wenn Putin nicht verhandeln will, konstatiert Habermas-Biograf Stefan Müller-Dohm in der FR. Die NZZ berichtet, wie die Iraner die Internetzensur - noch - umgehen. Die taz fragt, wer die schönen neuen Aufträge für den Aufbau der erdbebenzerstörten Städte in der Türkei bekommt.

Das ist unser Krieg

20.02.2023. Wenn ein Mann an einer Straßenecke ein Kind verprügelt, kommt für den Passanten Neutralität nicht in Frage, sagt Slavoj Zizek bei Project Syndicate. Auch Herfried Münkler kritisiert in der Welt "Unterwerfungspazifisten", die nur in Passivkonstruktionen über die Kriegsverbrechen des Aggressors sprechen. Wie schwierig russisch-ukrainische Identitäten sein können, erzählt Irina Rastorgujewa in der FAZ. Putins Krieg ist dennoch ein Angriff auf eine Identität und Kultur, unterstreicht der Historiker Jurko Prochasko in der SZ. Eine Gruppe von Autoren fordert in der Berliner Zeitung einen "Black History Month" in Deutschland.

Diesbezüglich nicht im Bilde

18.02.2023. Verhandlungen? "Der russische Diktator allein ist die Figur, die über den Anfang entschieden hat und die das Ende bestimmen wird", schreibt Stefan Kornelius in der SZ - und die Zeit wird zu Putins neuer Waffe. In der taz analysiert Anastasia Tikhomirova das zutiefst irrationale Verhältnis der deutschen Linken zu Russland und erkennt auf einen "Antiimperialismus der Idioten". In der Financial Times korrigiert die Historikerin Mary Elise Sarotte einige von Putins Geschichtslügen. Die FR bringt ein großes Webspecial zum dritten Jahrestag des Anschlags von Hanau.

Solche Herablassung

17.02.2023. Heute startet die Münchner Sicherheitskonferenz. Ihr Chef Christoph Heusgen fordert in der FAZ ein Sondertribunal für Putin. Mit Abscheu liest Richard Herzinger für den Perlentaucher den Wagenknecht-Schwarzer-Aufruf. Im Spiegel laden die beiden auch Rechtsextreme zu ihrer Demo ein, sofern sie "ehrlichen Herzens für Frieden" sind. Der Habermas-Text provoziert noch einige tiefschürfende Analysen. Die New York Times hat gerade eine Menge Ärger wegen angeblicher Transfeindlichkeit. Die Debatte sollte schon aus gesundheitlichen Gründen in ihrem Sinne beendet werden, warnen Aktivisten.

Ein aufreizend apolitisches Moment

16.02.2023. Habermas' Plädoyer für Verhandlungen löst eine Flut von Reaktionen aus. Die Kritik überwiegt: Nach wie vor, so einer der Vorwürfe, gestehe Habermas den Ländern Osteuropas in seiner Block-Logik "keine Agency eigenen Rechts" zu. Auch sonst gibt es kurz vor dem Jahrestag des Kriegsbeginns eine Menge Texte, unter anderem von Marci Shore und Alexander Kluge. Can Dündar und Asli Erdogan benennen unterdessen in Zeit und FAZ Tayyip Erdogans Mitschuld an den vielen Erdbebentoten. Und der Traum von der schottischen Unabhängigkeit ist vorerst passé.

Biete Dialog und Austausch an

15.02.2023. In der SZ fordert Jürgen Habermas erneut Verhandlungen mit Russland. Vielleicht könnten globale Abrüstungsverhandlungen Putin locken, greift er einen Vorschlag des Osteuropaexperten Hans-Henning Schröder aus der FAZ auf. Der hatte allerdings erstmal Waffen für die Ukraine gefordert, anders werde Russland nicht an den Verhandlungstisch zu zwingen sein - womit wir wieder am Anfang wären! In der FR hofft die Philosophin Olivia Mitscherlich-Schönherr, "kluger Pazifismus" aus dem globalen Süden könne einen Waffenstillstand vorantreiben. In der taz fordert Ilija Trojanow mehr Aussichten auf Utopie. Zeit online fragt, seit wann Seymour Hersh unter die Verschwörungstheoretiker geraten ist.

Wie in Kopenhagen der Bürgerkrieg ausblieb

14.02.2023. Russland kann sich nur erneuern, wenn die Ukraine diesen Krieg gewinnt, erklärt in der SZ der russische Schriftsteller Michail Schischkin. Anne Applebaum würde zustimmen: Das russische Regime muss begreifen, dass die Invasion ein Fehler war, meint sie in der FR. Die Franzosen entdecken gerade ihre erste Theoretikerin der Transidentität: die 2013 verstorbene Philosophin Monique Wittig, berichtet die FAZ. Die Berliner Wahlen haben den großen Interessengegensatz zwischen Innen- und Randbezirken deutlich gemacht, stellt die SZ fest. Und der hat überraschende Züge: Links ist jetzt die bevorzugte Wahl der Wohlhabenden, notiert die FAZ.

Projizierter Selbsthass

13.02.2023. Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht rufen auf, die Ukraine aus "Solidarität" nicht mehr mit Waffen zu unterstützen, es gelte Schaden vom deutschen Volk abzuwenden - der Tagesspiegel erkennt auf ein "koloniales Mindset ". Thomas Knüwer kommt in seinem Blog auf die Schleifung von Gruner und Jahr zurück: Die Katastrophe hat er seit bald zwanzig Jahren angesagt. Der Medienforscher Wolfgang Schulz sieht in der Künstlichen Intelligenz und in ChatGPT durchaus Chancen. Nochmals im Tagesspiegel fragt Tanja Dückers nach den Ursachen des deutschen Antiamerikanismus.

Macht euren Dreck doch selber weg

11.02.2023. Morgen wird in Berlin gewählt. Die FAZ verzweifelt an der Verwahrlosung der Stadt, die Mieten wie München kassiert, aber Müll wie Neapel anhäuft. Nur Spießer regen sich über die Wartezeiten im Bürgeramt auf, meint dagegen die Historikerin Ute Frevert im Spiegel. In der taz wünscht sich Jens Bisky mehr radikale Gesten. Außerdem: In der NZZ verzweifelt Irina Rastorgujewa an der Zerstrittenheit der russischen Diaspora. Die SZ beobachtet die zunehmende Enthemmung der russischen Propaganda.

Wir machen mal 'ne Nullnummer

10.02.2023. In der SZ plädiert Slavoj Zizek für Verhandlungen mit Russland, aber nicht für Kompromisse. Ebenfalls in der SZ fordert der Politologe James W. Davis mehr Waffenlieferungen und Sanktionen. Die taz schildert die türkische Politik der "Bauamnestien", die mit zu den Tausenden Erbebentoten beitrug. Die taz preist zwei Tage vor den Berliner Wahlen das schöne Neukölln.

Schluss mit Scholzing

09.02.2023. Dass ein solches Erdbeben kommen würde, war allen in der Türkei bewusst. Die Tausenden von Toten fallen direkt in Erdogans Verantwortung, schreibt Bülent Mumay in seiner FAZ-Kolumne.  Timothy Garton Ash warnt im Tagesspiegel vor einer chronischen Pattsituation im Ukraine-Krieg. Die Zögerlichkeit der westlichen Länder gefährdet diese selbst, so auch Richard Herzinger in seinem Blog. Die NZZ schildert unterdessen die propagandistische Gehirnwäsche der Russen anlässlich des Stalingrad-Jubiläums.  Die SZ hat recherchiert, wie das russische Internet gleichgeschaltet wird.

Kinder des Liberalismus

08.02.2023. In der Welt wünscht sich die Politikwissenschaftlerin Barbara Zehnpfennig mehr Debatte über die geistigen Grundlagen der liberalen Demokratie, bevor man sie angreift. In der NZZ glaubt der Politikwissenschaftler Michael Bröning, dass ein von der "Letzten Generation" geforderter "Gesellschaftsrat" nur für gewünschte Ergebnisse gut ist. Die SZ fragt sich, ob das Erdbeben Erdogans Regierung retten wird. Wenig Verständnis haben die Zeitungen für den großen Ausverkauf bei Gruner und Jahr: Wie kann heute marginalprofitabel sein, was letztes Jahr noch als höchst rentabel galt, fragen Zeit online, SZ und Welt.

Moment der Irritation

07.02.2023. Das Erdbeben in der Türkei und Syrien hat bislang mehr als 2.000 Menschenleben gefordert. Da legen selbst die Türkei und Griechenland ihre Streitigkeiten beiseite, berichtet die taz. In Russland zieht Putin gerade seine ganz eigene Perestroika durch, erklärt Viktor Jerofejew in der FAZ. Frankreich ist dann das letzte kommunistische Land, spottet der Historiker Stephane Courtois in der FAZ. Im Iran jagen 15-jährige Mädchen die alten Männer aus ihrer Madrassa, freut sich Srdja Popovic in der taz. Die Welt wüsste gern von Claudia Roth, wessen Kultur denn als Staatsziel ins Grundgesetz geschrieben werden soll: Die der 10 Prozent oder die der 90 Prozent?

Ich als weißer Generaldirektor

06.02.2023. In der SZ analysiert der Historiker Volker Weiß nationalreligiöse Strömungen, die in Israel, aber auch etwa in Indien oder der Türkei die Politik kapern. In der FAZ denkt Omer Bartov über den Kontext von Populismus und Korruption nicht nur in Israel nach. Populismus findet der Religionssoziologe Alexander-Kenneth Nagel auch in der neuen Klimabewegung, wie er in der taz darlegt. Im Spiegel beschreibt die Journalistin Anuschka Roshani einen Abgrund sexistischen Machtmissbrauchs im Zürcher Tages-Anzeiger.

Zerstörung jedes sozialen Sinns

04.02.2023. Wladimir Sorokin sieht in der SZ den untoten Körper der Sowjetunion aus seinem Grab steigen. In der Welt diagnostiziert Viktor Jerofejew bei den Russen einen antieuropäischen Scheißegalismus. Vielleicht würden mehr Menschen protestieren, wenn Europa sie nicht hängenließe, gibt Sasha Filipenko in der NZZ zu bedenken. In der taz ruft Bahman Nirumand die iranische Opposition auf, die Massen für sich zu gewinnen und konkrete Forderungen zu stellen. Ebenfalls in der taz erklärt Hedwig Richter den "verlorenen Seelen in der FDP", dass Demokratie ihren BürgerInnen durchaus etwas zumuten kann.

Mit dem Gesicht zur Wand

03.02.2023. Die Umweltaktivistin Sepideh Kashani-Doust schildert im Tagesspiegel Folter und Erniedrigung im Evin-Gefängnis. Die Historikerin Botakoz Kassymbekova versucht im Blog des Atlantic Council der Kälte der russischen Bevölkerung gegenüber der Ukraine auf die Spur zu kommen. Die Jüdische Allgemeine wendet sich gegen die "Gewaltspirale", die in deutschen Medien jedes Mal Pirouetten dreht, wenn es Konflikte in Israel gibt. Luisa und Yannick von der "Letzten Generation" erklären in der taz, warum sie bei ihrem Flug nach Bali auf die Business Class verzichtet haben.

Der kollektive Putin

02.02.2023. Stalin hat mit Hilfe Maxim Gorkis den Hass auf Schwule nach Russland gebracht, schreibt  Viktor Jerofejew in der Zeit. Auch Slavoj Zizek schreibt in der Welt über dieses Thema und die Rolle der Religion darin. Der ukrainische Holocaust-Überlebende Roman Schwarzmann hat im Tagesspiegel keine Angst, Putin mit Hitler zu vergleichen. Katarzyna Wielga-Skolimowska, die neue Leiterin der Kulturstiftung des Bundes, spricht in der SZ über ihre Pläne mit dem globalen Süden und dem europäischen Osten. Zu BDS äußert sie sich unklar.

Bürgerpflicht des Hinschauens

01.02.2023. Der Guardian fragt, warum wir uns Videos von Polizeigewalt gegen Schwarze anschauen sollen, wenn sich doch nichts ändert. Heute werden in der Ukraine Kunstschätze geplündert und verkauft, wie vor einigen Jahren in Syrien, warnt Hermann Parzinger in der Berliner Zeitung. Die taz wirft einen Blick auf die sorgfältig geführten Todeslisten der Organisation Assistance Association for Political Prisoners in Myanmar. Gleichzeitig scheffeln amerikanische, britische und irische Öl- und Gasunternehmen dort immer noch Millionengewinne, berichtet der Guardian. In der Welt hofft Juri Andruchowytsch auf eine vernichtende Niederlage Russlands.