9punkt - Die Debattenrundschau

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.

April 2022

Unordnung mit Macht

30.04.2022. Jürgen Habermas' Verteidigung von Bundeskanzler Scholz schlägt Wellen: SZ und Tsp loben den Artikel als Dokument abwägender Vernunft, die FAZ sieht darin Wolodimir Selenski denunziert. Ein Offener Brief auf Emma rät der Ukraine, die Waffen niederzulegen. In der taz fürchtet Fjodor Krascheninnikow einen Sieg Wladimir Putins. In der FAS erklärt Christopher Lauer Elon Musks Twitter-Kauf zum Internet-Gau. Nicht einmal mit Anarchie hat das was zu tun, ergänzt Le Monde.

Im Orkus irgendwelcher Massenspeicher

29.04.2022. Jürgen Habermas himself meldet sich in der SZ zum Ukraine-Krieg. Die Lektüre seines Artikel ist auf 18 Minuten zu veranschlagen. Kurz zusammengefasst: Olaf Scholz hat recht, aber die Ukraine soll natürlich Waffen kriegen. Und dann finden wir sicher einen Kompromiss. Putin hat seine Atombombendrohung seit Jahren vorbereitet, indem er die Protokolle des Kalten Krieges außer Kraft setzte, schreibt Edward Luce in der Financial Times. Im Tagesspiegel erklärt Caroline Fetscher, warum der Postkolonialismus, für den alle Macht im Westen liegt, mit dem Ukraine-Krieg nichts anfangen kann.

Dieser nationalistische Irrsinn

28.04.2022. Wie konnte der Westen "gut zwanzig Jahre lang das geradezu lehrbuchhafte Entstehen, Wachsen und Gedeihen eines erneuerten Totalitarismus 2.0 in Russland" derart ignorieren, fragt Oksana Sabuschko in der NZZ. Zwischen Lieferstopp und Embargo: Wenn es darum geht, die BASF und ihren Gashunger zu verteidigen, argumentiert die FAZ sogar wie die SPD. Gestritten wird in Zeit und FAZ über russische Gewalt: Florence Daub rät, "eine Antwort dafür parat zu haben". In der FR möchte Otfried Höffe die Ukraine zur Vernunft rufen.

Sehr bedeutende Schwesterkirche

27.04.2022. Viel Rätseln um Twitter: Seine libertären Vorstellungen von total freier Rede wird der neue Besitzer Elon Musk in der EU kaum verwirklichen können, meint Netzpolitik. Macht speiste sich in der SPD aus guten Beziehungen zu Russland, sagt Marina Weisband in der FAZ - und darum ist jetzt der Katzenjammer so groß. Frederik Stjernfelt erinnert im Perlentaucher an den Aufklärer Johann Friedrich Struensee, der vor 250 Jahren hingerichtet wurde. In der Welt erklärt Pater Nikodemus Schnabel, warum der Papst so nett zu Kyrill ist. Bayern hat einen Totalschaden vor dem Bundesverfassungsgericht erlitten, zu Recht, findet die SZ.

Die Hoffnung auf Jubel

26.04.2022. Wladimir Putin setzte stets schon Verschwörungstheorien ein, um seine heimische Öffentlichkeit zu manipulieren, aber nun scheint er selbst dran zu glauben, schreibt der Historiker Ilya Yablokov in der New York Times. Nach der Erleichterung, dass Marine Le Pen die Wahl verlor, kommt nun die Bestürzung über ihr gutes Ergebnis - das laut taz auch den Medien zu verdanken ist. Die FAZ staunt über einen Zaubertrick Saskia Eskens, die einen ganzen Altkanzler zum Verschwinden bringt. Die SZ begrüßt den "Digital Services Act" als Magna Charta des Internets. SZ und FAZ sind entsetzt über Entwicklungen in der Türkei.

So wie Autos anzünden und Eisenbahnerstreik

25.04.2022. Erleichterung über den Ausgang der französischen Wahlen, auch wenn Marine Le Pen das stärkste Ergebnis aller Zeiten für die Rechtsextremen erzielte. In der NZZ graut es Karl Schlögel vor dem, was in Mariupol noch kommen kann. Es gehört seit je zu den russischen Kriegstechniken, Terror als Waffe gegen die Bevölkerung einzusetzen, schreibt der Historiker Christian Osthold ebendort. Die deutsche und europäische Rüstungsindustrie hat im Zeichen von "Annäherung durch Verflechtung" bis vor kurzem prächtig mit Russland kooperiert, weist die taz nach. Die Washington Post bringt eine Hommage auf belarussische Saboteure.

Eine einzige Bedrohung

23.04.2022. "Europa muss der Ukraine zum Sieg verhelfen", ruft Vladimir Sorokin in einem großartigen Essay für die SZ, für den er wie Viktor Jerofejew neulich in der Zeit weit in die Geschichte zurückgreift. Olaf Scholz tut sein  Bestes, aber auch im jüngsten Spiegel-Interview ist keine Klarheit aus ihm rauszubekommen. Dass sich die russischsprachige Bevölkerung der Ukraine so vehement gegen Putins Soldaten wehrt, zeigt, dass die Ukraine eben nicht nationalistisch oder völkisch denkt, sagt Karl-Markus Gauß in der taz. Libération ruft ihr linkes Publikum mit Zähneknirschen zur Wahl Emmanuel Macrons auf.

Eine geradezu schizophrene Trennung

22.04.2022. Die Medien rätseln über die Lage in Mariupol - haben die russischen Soldaten Massengräber ausgehoben? Unter anderem berichet der Guardian. Die taz schildert die Lage in Charkiw, wo die Zivilbevölkerung unter Bombardement steht. In Deutschland verschärft sich der Streit um Waffenlieferungen. In der NZZ fragt sich Monika Maron, warum Alice Schwarzer bestimmte Männer bewundert und andere toxisch findet. Und in Frankreich wird Emmanuel Macron wohl gewinnen, allerdings gegen eine Mehrheit von Extremisten, notiert die FAZ.

Grausamkeit der Horde

21.04.2022. Viktor Jerofejew ist im deutschen Exil angekommen. Wenn Putin nicht einen Pseudosieg serviert bekommt, fürchtet er in der Zeit, "dann erscheint am Ende des Kriegstunnels eine Atomexplosion". Bei Zeit online fordert die Soziologin Gesa Lindemann eine europäische Armee. Alissa Ganijewa liest in der NZZ mitgeschnittene Gespräche russischer Soldaten mit ihren Müttern und ist entsetzt über die verrohte Sprache - gerade bei den Müttern. "Die Behauptung, dass russische Menschen in Deutschland und Europa jetzt die Opfer einer feindlichen Stimmung sind, ist größtenteils Putin-Propaganda", meint Sasha Marianna Salzmann im Tagesspiegel.

Angesichts der Unbeirrbarkeit

20.04.2022. Bei Twitter schreibt Alexei Nawalny über Ilja Iwanowitsch Nawalny, der in Butscha wegen seines Nachnamens ermordet wurde. FAZ und Perlentaucher denken über das Ausmaß der deutschen und europäischen Mitverantwortung nach. Ein "Ukraine Support Tracker" des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel zeigt, wie viel Deutschland der Ukraine gibt. Die FAZ und DeskRussie warnen vor der Rechtsextremistin Marine Le Pen.

Eine elementare Asymmetrie

19.04.2022. Im Donbass scheint in dieser Nacht die russische Großoffensive begonnen zu haben. Hierzulande geht die Diskussion weiter, besonders auch um den Kollateralschaden Frank-Walter Steinmeier. in der FAZ rät Peter Graf Kielmansegg, Putins Drohung mit der Atombombe ernstzunehmen. Die taz recherchiert, was ein Gas-Boykott für die russische Wirtschaft bedeuten würde - viel. Und will Olaf Scholz der Ukraine Geld geben, aber keine Waffen, fragt die SZ.

Zynismus, Selbstgefälligkeit und Heuchelei

16.04.2022. Auf ZeitOnline kündigt Kirill Martynow die Gründung einer Nowaja Gaseta Europe an, auch wenn er weiß, dass die Menschen in Russland nicht nur Informationen brauchen, sondern ein kritisches Selbstbild. In Georgien sind russische Emigranten nicht nur willkommen, erfährt die FAZ in Tiflis. Deutschlands Russlandpolitik war schon immer ein Fiasko, erinnern FAZ und NZZ hundert Jahre nach dem Vertrag von Rapallo. Die SZ sendet österliche Friedensbotschaften.

Die größte und gefährlichste Fehlkalkulation

14.04.2022. Frank-Walter Steinmeiers Gesprächsfaden ist erstmals in seiner Karriere abgerissen. Schlimm, findet die taz. Der Krieg führt nun zu einer tiefen Identitätskrise in der deutschen Politik. Der Eklat um Steinmeier ist Anlass,  die Russland-Politik nicht nur der SPD genauer zu inspizieren: Markus Wehner erzählt in der FAZ, wie es dank Steinmeier zur "Annäherung durch Verflechtung" kam. Klaus Geiger fordert in der Welt den Rücktritt Steinmeiers und Manuela Schwesigs. In Zeit online fürchtet Philipp Ther ein "zweites Srebrenica".

Der menschliche Preis

13.04.2022. Im Glauben an seine eigenen Lügen wird Putin Offensiven anordnen, die seine eigene Armee vernichten können. Der Westen muss dafür sorgen, dass das passiert, schreibt Eliot A. Cohen in Atlantic. Andrei Soldatov und Irina Borogan begründen in einer Analyse für Foreign Affairs, warum ein Putsch gegen Putin unwahrscheinlich ist. Das deutsche Geschäftsmodell ist in Gefahr, fürchten Zeit und SZ - nun sollen die Unternehmen nicht auch noch nach dem Staat rufen. Der russische Journalist Wladimir Kara-Mursa wurde nach einem CNN-Interview festgenommen, die Washington Post protestiert.

Alles lange bekannt

12.04.2022. Die Stadt Mariupol ist inzwischen Symbol des russischen Vernichtungskriegs. Bürgermeister  Wadym Bojtschenko schätzt die Zahl der Toten im Gespräch mit AP auf 10.000. In der NZZ kommt Timothy Snyder auf Timofej Sergejzews Aufruf zum Völkermord in der russischen Nachrichtenagentur Ria Nowosti zurück. Deutschland hat die falsche Lehre aus dem Zweiten Weltkrieg gezogen, sagt die Historikerin Franziska Davies in der taz. In Frankreich gibt es keine Opposition, nur Gegner des Status quo, sagt Raphaël Enthoven im Philomag nach der ersten Runde der Wahlen. 

Die Kultur der nachträglichen Teilzerknirschung

11.04.2022. Eines der Mittel, um die Russen glauben zu machen, sie seien die eigentlichen Opfer, ist die Instrumentalisierung des Holocaust, schreibt der belarussische Historiker Alexander Friedman in der taz. Die "Entnazifizierung" der Ukraine ist die Floskel, mit der Putin-Berater Sergei Karaganow den Krieg im Corriere erneut rechtfertigt. Unterdessen nimmt Putin laut Welt Abschied am Grab des Rechtsextremisten Wladimir Schirinowski. Nach der ersten Runde der französischen Präsidentschaftswahlen wird es vor allem darauf ankommen, wie sich die Anhänger Jean-Luc Mélenchons verhalten, analysiert France Inter.

Das Recht zu existieren

09.04.2022. In Time denkt Peter Pomerantsev darüber nach, wie Russlands Verbrechen an der Ukraine eigentlich genau zu bezeichnen sind. In der Welt erklärt Peter Sloterdijk die Herrschaft des permanenten Komplotts. Die Deutschen haben die Griechen einst bitter für ihre Fehler zahlen lassen, aber für ihre eigenen möchten sie nicht aufkommen, ärgert sich Paul Krugman in der NYTimes und meint damit, Putin ermöglicht zu haben. Warum konnten eigentlich nur Diktatoren und Autokraten von der Globalisierung profitieren, aber nicht die Demokratiebewegungen, fragt Katja Artsiomenka auf ZeitOnline. Vor den Wahlen in Frankreich blicken SZ und Le Monde auf eine völlig erodierte politische Landschaft.

Präsidentielle Manie

08.04.2022. In mehreren Medien wird reflektiert, wie gefährlich Putins Parole der "Entnazifizierung" ist, die den russischen Soldaten das Gefühl gibt, beliebig morden zu dürfen. Die Religion Dispatches verweisen auf eine Predigt des Patriarchen Kirill, der diesen Begriff in der "Hauptkirche der Streitkräfte Russlands" stützte. In der Berliner Zeitung schreibt Claus Leggewie über die Putinophilie in sämtlichen Fraktionen der französischen Politik. In der NZZ spricht die Historikerin Tanja Penter über den Holodomor als Leerstelle in der russischen Erinnerungskultur.

Nicht mehr bloß Putins Krieg

07.04.2022. Der Schock von Butscha, den James Nachtwey im New Yorker in düstersten Fotografien zeigt, ändert den Blick auf den Krieg. Lawrence Freedman kann sich in seinem Blog keinen Kompromiss mehr für die Ukrainer ausmalen. Entsetzen herrscht allerdings auch über die breite Zustimmung der russischen Bevölkerung zum Krieg, während einige russische Stimmen zaghaft versuchen sich ein demokratisches Russland auszumalen. Außerdem: Warum die Kritikerin der Cancel Culture Caroline Fourest an der Berliner Volksbühne gecancelt wurde.

Etwas zu viel an Beständigkeit

06.04.2022. Gestern dominierte der Kampf um die Wahrheit, heute der Kampf um die richtige Interpretation. Reicht Frank-Walter Steinmeiers Schuldeingeständnis aus? Nein, meinen Thomas Schmid in der Welt und Lenz Jacobsen in Zeit online, denn er war geradezu das Emblem der deutschen Russland-Politik. In der NZZ prangert Szczepan Twardoch die Arroganz westliche Intellektueller gegenüber Osteuropa an. Die Ruhrbarone erzählen die Geschichte des großen Holocaust-Historikers Boris Zabarko, der einst den Deutschen entkam, und nun vor der russischen Aggression nach Deutschland flüchtete.

Eine Vorher-Nachher-Analyse

05.04.2022. Nun beginnt der Kampf für die Wahrheit und gegen die Lügenfabriken der russischen Regierung, die die Bilder von Butscha in Zweifel ziehen. Die New York Times und Bellingcat weisen nach, dass die Leichen von Butscha schon vor dem Abzug der russischen Truppen auf den Straßen der Stadt lagen. Und dass sie tot waren. Es ist auch ein Moment europäischer Selbstreflexion, bsonders nach dem schändlichen Ausgang der ungarischen Wahlen, über den etwa Timothy Garton Ash im Guardian schreibt. In der taz erinnert Erich Rathfelder an ein Grundmuster für die Kriege nach dem Mauerfall - und die Reaktionen der europäischen Öffentlichkeit.

Eine Grenzüberschreitung nach der anderen

04.04.2022. Die Leichen von Butscha schockieren die Weltöffentlichkeit. Der Vorwurf des Völkermords steht im Raum, kommentiert die taz. Ein Sieg Putins in der Ukraine wäre eine Niederlage Europas, schreibt Ralf Fücks in der FAZ. Im New Statesman versichert der Putin-Berater Sergei Karaganow dagegen, dass es nichts anderes als einen Sieg Putins geben kann. Yascha Mounk fragt in einem Twitter-Thread: Könnte Emmanuel Macron die Wahlen verlieren?

Eine Win-win-win-win-Situation

02.04.2022. "Der Russofaschismus hat sein böses Haupt erhoben. Putin ist in die Rolle Hitlers geschlüpft", schreibt Durs Grünbein in der SZ - und er sieht Putin zugleich in der Kontinuität mit den bolschewistischen Kreml-Herrschern. In der taz prangert Daniel Cohn-Bendit die deutsche Blindheit gegenüber Wladimir Putin an: "Billige Energie war den Deutschen mehrheitlich wichtiger als jegliche andere Überlegung." In Russland bekommt man inzwischen 50.000 Rubel Strafe aufgebrummt, wenn man  einmal drei und einmal fünf Sternchen auf ein Schild malt, erzählt Zeit online.

T-Shirts, Trikots, Vitamine

01.04.2022. Der Westen hatte die Devise "Nie wieder" stets auf den Lippen, während er in die Wiederholung rannte, schreibt Anne Applebaum in Atlantic. In der SZ erklärt die Russland-Expertin Heather Conley, warum die Idee "Handel durch Wandel" ein Irrtum war. Der MI6-Russland-Chef Christopher Steele setzt ebenfalls in der SZ auf eine Palastrevolution. Und sonst: Jacques Attali macht sich in seinem Blog Sorgen, dass Marine Le Pen die französischen Präsidentschaftswahlen gewinnen könnte.