9punkt - Die Debattenrundschau

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.

November 2017

Angst vor blinkenden Werbetafeln

30.11.2017. Die Zeit betrachtet mit Schaudern das neue Sozialkreditsystem in China, das tugendhaftes Verhalten belohnt. Lea Rosh graut's laut Tagesspiegel vor AfD-Politikern im Beirat der Stiftung "Denkmal für die ermordeten Juden". Die meisten Parteien außer CDU wollen laut taz den Paragrafen 219a abschaffen. Der New Yorker basht Frankreich wegen seines Verhältnisses zu Tariq Ramadan und den Muslimen.  Und wenn die Süddeutsche Zeitung eine 16-seitige Propaganda-Beilage für China beilegt, dann tut sie das laut taz aus Respekt für die Meinungsfreiheit.

Unberührtheit ist in geistigen Dingen keine Tugend

29.11.2017. Die FAZ stellt die irische Frage. In der FR sucht der Karl-Marx-Biograf Jürgen Neffe nach einem Plan B. Die SZ verteidigt Glyphosat. Die taz begrüßt Silke Maier-Witts Bitte um Verzeihung bei den Schleyer-Angehörigen.  In der NZZ macht der Ökonom Paul Collier die technokratischen Eliten der Mitte-Links-Parteien für das Abdriften der Bevölkerungen in der Provinz verantwortlich.

Eisige Absage

28.11.2017. In Le Monde prangert Achille Mbembe die europäische Afrikapolitik und den maghrebinischen Rassismus an. In der SZ wendet sich Heinrich August Winkler entschieden gegen eine neue Große Koalition. Slavoj Zizek verzweifelt in der NZZ: Mit den Protagonistinnen der #MeToo-Kampagne lässt sich nicht Revolution machen. Ein Glück, dass man im Westen noch über den Islam reden kann - in islamischen Ländern geht das nicht, konstatiert die FAZ.  Aber über China kann man nicht reden: In der New York Times erzählt der Dissident Wang Dan, wie China in den Westen hineinregiert.

Aus heutiger Sicht erschreckend harmlos

27.11.2017. China verlangt von westlichen IT-Konzernen Hintertürchen für seine Überwachung, warnt David Bandurski vom Hongkonger "China Media Project" in der taz. "Cui Bono" fragt der Impresario Berthold Seliger, nachdem er die "Paradise Papers" gelesen hat - auffällig viele Kataloge mit Musikrechten werden in den Steuerparadiesen veranlagt. Die Schriftstellerin Ute Cohen erklärt in der Welt, kein ewiges Opfer sein zu wollen.

Wie jede andere Hierarchie auch

25.11.2017. Die Ärztin Kristina Hänel wurde zu 6.000 Euro verurteilt, weil sie auf ihrer Website über Abtreibung informierte - taz und emma.de berichten. Die FAZ rät vom Wiederaufbau der Garnisonkirche in Potsdam ab. Bei Zeit online schildert die Philosophin Kate Manne Frauenfeindlichkeit als soziales Phänomen. Der Guardian fürchtet gewalttätige Proteste gegen den Bollywood-Film "Padmavati", der fanatische Hindu-Nationalisten aufbringt.

Die Beißreflexe einer jungen Generation

24.11.2017. In der FR liefern Claus Leggewie und Daniel Cohn-Bendit eine messerscharfe Analyse der politischen Lage: Demnach ist die FDP die neue AfD. Kenan Malik kritisiert in seinem Buch die Idee des Multikulturalismus, Perlentaucher Thierry Chervel stellt es vor. Die Welt fürchtet den wachsenden Einfluss Chinas. Angst vor Algorithmen? Aber vor der "Blackbox" Software wird schon seit gut fünfzig Jahren gewarnt, konstatiert Kathrin Passig im Merkur. Was bleibt, wenn Presse untergeht? Nichts Gutes, meint Julia Jäkel in der FAZ.

Drei wurden verkauft

23.11.2017. Wieviele Karrieren hat der Sexismus in Hollywood und anderswo zerstört, fragen das New York Magazine und die New York Times. Auch die Tabus des weiblichen Bewusstseins müssen thematisiert werden, schreibt Urlula März in der Zeit. Le Monde Afrique berichtet über Sklaverei in Libyen und prangert die Kollaboration der EU an. Was treibt den WDR eigentlich, ein großes Spektakel mit dem Antisemiten Roger Waters zu planen, fragt die Jüdische Allgemeine.  Das Urteil gegen Ratko Mla­dic wird begrüßt - und doch lesen sich die Kommentare bitter.

Weitgehend abgedichtet

22.11.2017. Vorgezogene Neuwahlen mögen opportun erscheinen, aber wären sie legitim? Philipp Gassert bei Zeit online und Gustav Seibt in der SZ liefern historische Argumente dagegen.  Eine Minderheitsregierung wäre in Deutschland übrigens nicht so neu, wie man denkt, merkt Ulrike Hermann in der taz an. Der Streit um Verschwörungstheoretiker Ken Jebsen ist in der Linkspartei angekommen, wo die extremere Fraktion den Kultursenator Klaus Lederer attackiert, berichtet der Tagesspiegel.  Und Google degradiert laut Guardian russische Medien.

Die impliziten Loyalitäten

21.11.2017. Nicht tragisch, ja demokratietheoretisch sogar zu begrüßen, findet der Parteienforscher Niko Switek in der SZ  das Scheitern der Jamaika-Verhandlungen. Schade, dass aus Jamaika nichts wird, meint Thomas Schmid in der Welt. Gut, dass nichts draus wird, rufen die Salonkolumnisten. Eine Minderheitenregierung wäre reine Romantik, meint das Verfassungsblog.  Einen Tag vor dem Urteil gegen Ratko Mladic erinnert AFP an das Massaker von Srebrenica.  Und nach Lektüre von NZZ und Zeit online fragt sich: Wie schlimm wird AI?

Zahlreiche Pyramidenzellen in der III. Schicht

20.11.2017. Klimakatastrophe in der Politik - Jamaika ist untergegangen. Die Welt zitiert aus Christian Lindners Begründung  für den Verhandlungsausstieg. Die NZZ sucht in Lenins Hirn nach einer materialistischen Erklärung des Psychischen überhaupt. Die Ken-Jebsen-Fraktion hält in ihren  Medien an einer Preisverleihung für den Journalisten im Babylon-Mitte-Kino fest. Die FAZ staunt: Sibylle Le­witscharoff, El­ke Schmit­ter und "ein Mit­glied die­ser Re­dak­ti­on" sollten bei einer proputinistischen Veranstaltung auftreten.

Ideale gegen Komfort

18.11.2017. In der taz verteidigen FrauenärztInnen ihre Kollegin Kristina Hänel gegen radikale AbtreibungsgegnerInnen. Der Historiker Ulrich Herbert wünscht sich ebenfalls in der taz mehr Utopie. In der NZZ betont Petros Markaris, auch mit Blick auf Osteuropa: Griechenland und Portugal haben nie Demokratie oder Rechtsstaat infrage gestellt. Die Welt besucht Noam Chomsky. In der FR zweifelt Wolfgang Kraushaar am politischen Antrieb der RAF. Die Talking Points Memo fürchten den Crash amerikanischer Online-Medien.

Eine sehr sensible Gestaltungsaufgabe

17.11.2017. Internet und Silicon Valley können nicht die Sündenböcke für alle politischen Probleme der Welt sein, meint die SZ. Ähnlich sieht es Timothy Garton Ash im Guardian: Jeder müsse reagieren, wenn ein Nachbar Fake News verbreite. In der FR liefert der baskische Autor Ibon Zubiaur endlich den wahren Grund für die katalanische Revolte: It's the money, stupid. Nach der Veranstaltung mit Herzog & de Meuron wissen wir nicht, ob und wann das Museum des 20. Jahrunderts kommt. Aber die Straßenbahn kommt ganz bestimmt.

Jetzt emanzipiert sich die Puppe

16.11.2017. In der NZZ blickt Pascal Bruckner mit Schrecken auf ein Amerika im Niedergang. In der FAZ prangert der linke Soziologe Wolfgang Streeck nochmal Angela Merkels "Entgrenzungspolitik" an und sieht AfD-Politiker als die letzten Recken der Globalisierungskritik. In der Zeit verteidigt Gerhard Schröder Putin. In der Welt erzählt die katholische Autorin Birigit Kelle, dass sie von Facebook gesperrt wurde, weil sie die brandneue Barbie mit Hidschab kritisierte - die von der taz und Zeit online als ein Fortschritt für alle "Women of Color und Musliminnen" gefeiert wird.

Wirksame Filter

15.11.2017. Sind westliche Werte westlich oder sind sie universal? Die Afrikaner haben nie von westlichen Ideen wie Demokratie und Aufklärung profitiert, meint der nigerianische Schriftsteller Chigozie Obioma im Guardian. In der NZZ widerspricht der Physiker Hans Widmer. In der Berliner Zeitung fragt sich die Kulturwissenschaftlerin Asal Dardan, wozu es gut sein soll, "mit Rechten zu reden". In Frankreich fliegen die Fetzen zwischen Edwy Plenel, der sich als Kollateralschaden in einem Krieg gegen den Islam sieht, und der Satire-Zeitschrift Charlie Hebdo, die ihn karikierte.

Hallo, Mao-Uniform

14.11.2017. Die Lage ist zwar hoffnungslos, aber nicht ernst. Der Atlantic legt die Kontakte zwischen Julian Assange und Donald Trump jr. offen - und die Ambition Assanges, australischer Botschafter in den USA zu werden. In Berlin beklagt sich Kultursenator Klaus Lederer auf Facebook über eine Veranstaltung im Berliner Kino Babylon: Der linksrechte Verschwörungstheoretiker Ken Jebsen sollte dort einen Preis bekommen - und das Kino wird von Lederer mit 400.000 Euro jährlich unterstützt. Der Guardian rechercheirt zum Fact Checking bei Facebook - keine Sorge, es funktioniert nicht.

Die Einübung des öffentlichen Sprechens

13.11.2017. Es gibt Fortschritt, insistiert der Psychologe Steven Pinker in der NZZ. Spanien braucht eine neue Verfassung, ruft der katalanische Autor Ignasi Ribó in politico.eu. Wenn jeder ein Medium ist, dann muss auch jeder Journalismus lernen, meint der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen in der FR. Die #MeToo-Debatte geht weiter. Wir zitieren einige Artikel aus der Flut der Äußerungen.

Der Ehemann der Krankenschwester des Bruders

11.11.2017. Nach den Affären um Harvey Weinstein und Kevin Spacey streiten sich die Feuilletons, ob sich Kunst und Künstler trennen lassen. Thea Dorn warnt in Dlf Kultur, dass ein ziemlicher Kahlschlag entstehen könnte, wenn man anfängt, überall die Arschlöcher herauszuschneiden. Libération greift die irre Geschichte des Erbes von Maurice Ravel auf. Wie soll man mit "Rechten reden", die selbst nicht fähig sind, Gegner nicht als Feinde zu sehen, fragt Matthias Warkus im Blog 54books. In der taz spricht Deniz Yücel über das Regime der Angst im Gefängnis und in der Türkei.

Er ist schuld, nicht wir, ist die Ansage

10.11.2017. Wie umgehen mit Kevin Spacey - das ist nach wie vor Thema Nummer 1 in den Feuilletons: Dass Ridley Scott aus seinem neuen Film alle Szenen mit Spacey herausschneidet, ist ihnen zu stalinistisch. In Frankreich wird laut Le Temps erbittert über Tariq Ramadan gestritten. In der FAZ begrüßt Gender-Forscher Stefan Hirschauer die Ankunft des dritten Geschlechts auch in der juristischen Realität. Die SZ fragt nach Enthüllung der "Paradise Papers", warum Deutschland bei der Idee, Unternehmen Europa-einheitlich zu besteuern, bremst.

Nachtschattenseite eines Digitalmondes

09.11.2017. Das Bundesverfassungsgericht erlaubt in offiziellen Papieren eine dritte Geschlechtsbezeichnung "inter" oder "divers". taz und Zeit online begrüßen das Urteil, die NZZ ist kritisch. Es wird weiter über die Vorwürfe gegenüber Kevin Spacey und Dustin Hoffman diskutiert. Die taz veranstaltet ein pro und kontra zur Frage Volksabstimmungen auf Bundesebene. Die SZ kritisiert den Kulturpessimismus in fast allen Äußerungen zur Digitalisierung.

Diese Null-Besteuerung

08.11.2017. Warum gibt es in den USA so viele Amokläufe, fragt die New York Times, und findet eine einfache Antwort: Es liegt einzig und allein an der Zahl der Waffen. Nach der Enthüllung der "Paradise Papers" attackiert SZ-Chefredakteur Wolfgang Krach in einem offenen Brief Tim Cook und die politische Einflussnahme von Apple. Jake Bernstein vom Internationalen Konsortium investigativer Journalisten verteidigt in der New York Times auch die Veröffentlichung von Daten, die auf offiziell nicht illegale Praktiken hinweisen.

Der schwerste Peitschenschlag

07.11.2017. Auch die kollektive Verblendung der katalanischen Separatisten verdankt sich einem Lügengespinst à la Trump und Brexit, schreibt Javier Cercas in Libération. Die SZ erklärt, warum Männer solche Schwierigkeiten haben, über ihre Missbrauchserfahrungen zu reden. Charlie Hebdo erhebt Klage wegen neuer Morddrohungen, die nach dem Tariq-Ramadan-Cover der letzten Woche laut wurden, berichtet Le Monde. In den neuen Ländern ist die AfD besonders stark, weil es keine Auseinandersetzung  mit der Geschichte gab, sagt der Historiker Volkhard Knigge in Zeit online.

Die berühmte Trias

06.11.2017. Viel Geschichte heute: Es gibt keinen Grund, die Oktoberrevolution zu feiern, meint Arno Widmann in der FR. In der FAZ kritisiert der polnische Historiker Pawel Ukielski das neue Haus der Europäischen Geschichte in Brüssel. Dass westliche Verlage wie Springer Science ihre Inhalte in China zensieren, kann auch als Propagandasieg Chinas verstanden werden, meint wiwo.de. Und wir setzen erste Links zu den explosiven "Paradise Papers".

Die Unbarmherzigkeit des Verfahrens

04.11.2017. Mit Unbehagen beobachtet die SZ, wie die #MeToo-Kampagne in Willkür und Denunziation abdriftet. Außerdem fragt sie mit Blick auf Moskau und Peking, ob der Westen wirklich den Kalten Krieg gewonnen hat. In der NZZ fürchtet Herfried Münkler, dass nach jedem kleinteiligen Nationalismus eine Zeit großer Reiche kommt. Donald Trump ist auch eine Folge kurzatmiger Aufmerksamkeit, glaubt der Tagesspiegel. Und der Guardian empfiehlt, sich die Anhörungen von Facebook, Twitter und Google im amerikanischen Kongress anzusehen.

Hingabe an die Wirklichkeit

03.11.2017. Fünfzig Autoren und Autorinnen, darunter Philip Roth und Elif Shafak rufen den chinesischen Präsidenten Xi Jinping auf, endlich Liu Xia freizulassen. Wer uns als "Staatsfunk" bezeichnet, ist ein Rechtspopulist, sagen Journalisten der öffentlich-rechtlichen Sender. Mathias Döpfner präzisiert in einer Antwort, dass er nur weniger Texte der Sender im Netz will, damit die Zeitungen ihr kostenloses Online-Angebot ebenfalls einschränken können. Der Guardian staunt über britische Schulen, die den Mädchen Hosen, wenn auch nicht das Kopftuch verbieten. Und überall Debatten über sexuelle Belästigung und die Folgen.

Man ist nicht zuständig

02.11.2017. Seit 2014 liegt das Internet im Sterben, schreibt der Blogger André Staltz, schuld sind die Techgiganten, die aufgehört haben, sich Konkurrenz zu machen. Und zugleich zu Großmächten der Manipulation werden, schreibt Sascha Lobo in Spiegel online. Das Zeit-Magazin skizziert die Verachtung der Berliner Behörden für ihre Bürger. Die taz benennt die Verantwortung der Madrider Zentralregierung für die Katalonien-Krise und schildert das peinliche Verhältnis Britanniens zu Israel.

Ein weitgehend nicht vorhandener Common Sense

01.11.2017. Sex, Macht, Gewalt - ein Abgrund! In der taz will Jan Feddersen die Aufregung um Kevin Spacey nicht nachvollziehen. Auch über Tariq Ramadan wird weiter debattiert: Dass er sich nach Vorträgen Frauen in Hotelzimmer bringen ließ, war laut Nouvel Obs offenbar längst bekannt. Wer Toleranz für das Kopftuch fordert, muss muss auch akzeptieren, dass Katholiken gegen die Homo-Ehe sind, fordert der katholische Autor Giuseppe Gracia in der NZZ. Aber das geht nicht, findet Harry Nutt in der FR, denn gegen das Kopftuch sein ist rechts.