9punkt - Die Debattenrundschau

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.

März 2021

Sich in Straßburg bestechen lassen

31.03.2021. Die Postkolonialisten Michael Rothberg und Jürgen Zimmerer erklären den Holocaust in der Zeit wieder einmal für sowohl singulär als auch nicht. Der Rassismus ist nicht der Hauptwiderspruch in der Geschichte, schreibt Joachim Gauck, ebenfalls in der Zeit. Die "Jerusalem Declaration" ist keine Erklärung von Holocaustforschern, legt Matthias Küntzel im Perlentaucher dar. In England gibt es ein neues #MeToo in dessen Zentrum sexuelle Gewalt an Schulen steht, berichtet die FAZ. Der russische Oppositionspolitiker Wladimir Kara-Mursa warnt in der Washington Post, dass Wladimir Putin seinen größten Gegner Alexei Nawalny im Gefängnis langsam zu Tode foltern lassen könnte.

Unverblümt artifizielle Stadt

30.03.2021. Was nicht "per se" antisemitisch ist, ist es eben meistens doch, schreibt Alan Posener in der Welt an die Adresse der "Jerusalem Declaration", die die Israelboykottbewegung als nicht "per se" antisemitisch sieht. In der NZZ fürchtet der Historiker Andrii Portnov, dass sich die Ukraine  nicht aus eigener Kraft aus seiner Krise befreien kann. Die FAZ erklärt, warum in Mexiko die Zahl der Corona-Toten über Nacht um 120.000 auf über 320.000 stieg. hpd.de schildert die Lage der Frauen in den "Witch Camps" in Ghana.

Fortschreibung der bisherigen Ordnungsmuster

29.03.2021. Hanno Loewy verteidigt in der taz die "Jerusalemer Erklärung" zum Antisemitismus, die Israelboykott nicht "per se" als antisemitisch sehen will. Die SZ fragt, wie die postkolonialen Autoren auf die Idee kommen, dass "deutsche Erinnerungspolitik heute einer Auseinandersetzung mit der Kolonialgeschichte im Wege" stehe. In Zeit online plädiert Michael Rothberg für eine Ethik des Vergleichens. Die FAZ berichtet über Folter an Alexei Nawalny im Straflager.  Die taz liest einen offiziellen Bericht zur französischen Mitverantwortung am Genozid in Ruanda.

Und das soll nicht genug sein?

27.03.2021. In einer Jerusalemer Erklärung möchten zweihundert internationale Wissenschaftler den Antisemitismus neu definieren. Die FAZ sieht dabei die Grenzen von wissenschaftlicher Definition und politischer Deklaration verwischt. Ebenfalls in der FAZ kündigt Hermann Parzinger an, dass die Benin-Bronzen erstmal in Berlin bleiben und im Humboldt-Forum ausgestellt werden. In der taz sorgt sich Géraldine Schwarz um die französischen Öffentlichkeit. Und der Guardian lernt eine erste Lektion vom radikalen Reformer Joe Biden.

Die Dimension des Skandals

26.03.2021. Korruption in der CDU: Eine seltsame Woche im Superwahljahr neigt sich dem Ende zu: CDU-Abgeordnete machen sich für Aserbaidschan stark, damit Menschenrechtsverletzungen nicht thematisiert werden. Und es fließt Geld, berichten taz und FAZ. Und wie soll man die SZ-Meldung bewerten, dass der CSU-Politiker Peter Gauweiler in seiner Zeit im Bundestag als Anwalt Honorare in Höhe von mehr als elf Millionen Euro beim Milliardär August von Finck abgerechnet hat? Der neue Stand bei den Benin-Bronzen ist, dass er nicht so neu ist.

Es müsste viel mehr darüber geredet werden

25.03.2021. Necla Kelek analysiert bei emma.de, was es bedeutet, dass die Türkei aus der Istanbul-Konvention ausgetreten ist - ein Land, wo 400 Femizide im Jahr verübt werden. Gewalt gegen Frauen ist ein Schwerpunkt heute: Auch wegen der Vergewaltigungen, die laut Fanita Solomon (Spiegel online) in Tigray als Kriegstaktik eingesetzt werden. Angela Merkels Bitte um Verzeihung erschüttert die Medien: Sie offenbart die unklare Taktik der Politik. Bei anhaltendem Bürokratismus, so die Ruhrbarone. Nur ein harter Lockdown hilft, beharrt die Medizinerin Devi Sridhar im Gespräch mit Le Monde. Sonst hat man die Wirtschaftskrise und die Toten.

Das ist alles weder Kapitalismus noch Sozialismus

24.03.2021. Völlig erschöpft rettet sich das Regierungskomitee aus Ministerpräsidenten und Kanzlerin in eine verordnete Ostern-Totenstille. Wir brauchen einen linksradikalen Ansatz, um uns aus der Krise zu retten, verlangt Chrian Bangel in Zeit online. Deutschland ist seine eigene Karikatur, ächzt Ulf Poschardt in der Welt. Die SZ beleuchtet die neue Kapitalismuskritik in Corona-Zeiten. Unterdessen ist eins klar: Die Benin-Bronzen, äh also, werden meines Wissen ausgestellt, eventuell aber auch zurückgegeben.

Nur noch Gaia

23.03.2021. Wer will, dass Identitätspolitik endet, muss sie betreiben, schreibt Alice Hasters in der SZ. Ahmad Mansour startet in der Welt eine Serie über den "politischen Islam". Ohne Trump ist das Leben der amerikanischen Medien weniger amüsant, konstatiert die Washington Post mit einem traurigen Blick auf die Quoten. Vice bringt eine lange Recherche die über Einflussnahme Aserbaidschans auf deutsche Abgeordnete, besonders von der CDU. Und die Benin-Bronzen gehen zurück an Nigeria, meldet die SZ.

Gebildet, eher weiblich, Mittelschicht

22.03.2021. Ein Buch über den Fall des Lyrikers Wasyl Stus, der als Mitglied einer Helsinki-Gruppe in einem Gulag starb, erschüttert die Ukraine, erzählt Gerhard Gnauck in der FAZ. Wie halten es die Grünen mit den Grundrechten, fragen der Politologe Max Schulze und der ehemalige Bundesinnenminister Gerhart Baum in Zeit online. In der FAZ prangert Michael Bröning von der Grundwertekommission der SPD die Marktkonformität der neumodischen Linken an. In Amerika gründet der Autor Ibram Kendi zusammen mit dem Boston Globe eine neue Online-Zeitung unter dem Titel The Emancipator, die sich allein dem Thema Rassismus widmen soll, berichtet die New York Times.

Der Stundenlohn ist Nebensache

20.03.2021. Das Thema Identitätspolitik regiert die Feuilletons. Heute folgt nach der Polemik die Differenzierung: Identitätspolitik macht den Mainstream auf legitime Anliegen aufmerksam, meinen Martin Saar in der FAZ und Kaveh Yazdani in der taz. Sie untergräbt die soziale Frage, fürchtet dagegen Bernd Stegemann in der Welt. In Soziopolis spricht Joseph Vogl über Plattformökonomie. Ganz frisch ist noch die Meldung, dass die Türkei aus der Istanbul-Konvention austritt.

In Belarus ist es nun mal so

19.03.2021. Die taz erklärt, warum der belarussische Punkmusiker Igor Bancer in den Hungerstreik tritt und warum sein Anwalt vor Gericht nichts sagen wird. In der New York Times kann Paul Krugman verstehen, warum europäische Funktionäre in der Coronakrise Risiken scheuen. Aber warum scheuen sie die falschen? Bei Dlf Kultur wirft Bénédicte Savoy Museumsdirektoren vor, sich abzusprechen, um keine Restitutionen leisten zu müssen. Es könnte die Stunde des Liberalismus sein, hofft Gustav Seibt in der SZ angesichts der Coronakrise und den identitätspolitischen Verwerfungen der Debatte.

Ein sehr großes Tier mit Rüssel

18.03.2021. Es gibt gar keine "Cancel Culture", behaupten ihre Verfechter gern. Es gibt sie doch, fürchtet Vojin Saša Vukadinović in der FAZ und nennt Beispiele. Die identitäre Linke liegt jetzt überhaupt überall unter dem Mikroskop und schneidet dabei nicht so gut ab.  Der Politologe Armin Pfahl-Traughber nimmt die neumodischen Diskurse in der Zeit und bei hpd.de auseinander, Stefan Laurin bei den Ruhrbaronen. Von Norbert Bolz in der Welt und und Bari Weiss in der SZ ganz zu schweigen. Die Zeit hat außerdem herausgefunden, dass es in Deutschland in der ersten Welle wesentlich mehr Corona-Erkrankungen gab, als statistisch erfasst.

Risiken sind die Kehrseite von Handlungsfreiheit

17.03.2021. Horst Bredekamp bleibt im Tagesspiegel bei seinen Vorwürfen gegen den Postkolonialismus, der den jüdischen Anteil an einer "antikolonialen" Ethnologie unterschlage. Die FAZ fragt, warum die Historikerin Hedwig Richter in den akademischen Rezensionsdiensten Sehepunkte und H-Soz-Kult so scharf angegriffen wird. Die australische Linksteuer kommt vor allem Rupert Murdoch zugute, berichtet die taz.

Kultur der Menschenopfer

16.03.2021. Der Neoliberalismus ist schuld am europäischen Impfdesaster, meint Herfried Münkler in der NZZ. Charlie Hebdo vergrätzt in einem Aufwasch Royalisten, Antirassisten, die Queen und Meghan Markle. Die Ethnologin Brigitta Hauser-Schäublin erzählt in der FAZ die finstere Geschichte der Benin-Bronzen. In der taz kritisiert der Künstler Leon Kahane den angeblichen "Antifaschismus" zweier Videokünstler, die Deutsche künftig als "Deutsche mit Nazihintergrund" tituliert sehen möchten.

Vorherrschaft des Meinungshaften

15.03.2021. Geradezu verzweifelt lesen die Salonkolumnisten nach, wie tendenziös die deutschen Medien - besonders die öffentlich-rechtlichen - über den zehnten Jahrestag des Tsunamis in Japan berichtet haben. In der taz fürchten Claus Leggewie und Daniel Cohn-Bendit, dass die modische Linke mit ihrem Kult der allerkleinsten Differenz ins Sektenwesen abrutscht. In der FAS versucht Joseph Vogl  zu erklären, wie Populismus im Netz und vor allem den sozialen Medien funktioniert. In der NZZ erklärt Christian Gerhaher, warum die Initiative "Aufstehen für die Kunst" Einschränkungen  der Kulturfreiheit im Zeichen der Coronakrise juristisch prüfen lassen will.

Sigmund Freud und schwarze Galle

13.03.2021. In der taz attackiert Caroline Fourest das Sektierertum von Islamo-Linken und Generation Beleidigt. In der SZ debattieren Gesine Schwan und Ulrich Matthes über Identitätspolitik, Gefühl und Argument. Die FR sieht eine neue Kultur der Anmaßung aufziehen. In der taz erzählt Can Candan zudem vom Kampf der Istanbuler Boğaziçi-Universität gegen den Autoritarismus. In der FAZ antwortet der Leopoldina-Präsident Gerald Haug auf die Vorwürfe des Historikers Caspar Hirschi.

Wir respektieren euer Elend

12.03.2021. In der SZ erzählt der ungarische Journalist Andras Arato, wie die Regierung die Presse mit Staatsanzeigen und andere Werbetreibende mit Staatsaufträgen bis zur kompletten Gleichschaltung gefügig machte. Apropos Gleichschaltung: In Hongkong ist sie laut FAZ jetzt verwirklicht. "Normalität ist die Cancel Culture des alten weißen Mannes", belehrt der Tagesspiegel  Wolfgang Thierse. Die taz versucht, Baden-Württemberg zu verstehen.

Auch als Endung verwendbar

11.03.2021. In der SZ erklärt Lann Hornscheidt, wie Sprache endgültig gerecht zu gestalten ist. Der Verlag  w_orten & meer versucht, die Regeln in Büchern umzusetzen - wir zitieren aus dem Style Sheet. Horst Bredekamps Polemik zu Post- und Antikolonialismus wird bei Twitter vor allem mit feministischer Empörung bedacht, notiert die FAZ. Die taz liest einen Bericht über soziale Unterschiede in der Coronakrise.

Die Sozialstruktur der Infektionen

10.03.2021. Im Interview mit der SZ beklagt Soziologe Oliver Nachtwey, dass es in Deutschland keine Statistiken zu sozialen Aspekten der Coronakrise gibt. Und er hat eine Vermutung, warum das so ist. In der NZZ kritisiert die Kunstsoziologin Nathalie Heinich die "Vermischung zwischen Aktivismus und Forschung" in den Geisteswissenschaften, ebenso der Altphilologe Jonas Grethlein in der FAZ. In Grenoble solidarisieren sich Professoren mit zwei als "Islamophobe" attackierten Kollegen... äh, nicht so wirklich.

Wenn die beiden Sphären vermischt werden

09.03.2021. Kapert die Figur des Experten die demokratische Willensbildung? Ja, fürchtet der Historiker Caspar Hirschi in einem langen Essay in der FAZ. Frankreich wird von einer "Cancel-Culture"-Affäre aufgeschreckt: Zwei Professoren aus Grenoble wurden von einer Studentenvertretung in sozialen Medien und Graffiti als "islamophob" und Faschisten denunziert - genauso startete die Kampagne gegen Samuel Paty, fürchten FAZ und Le Parisien. Auf Zeit online erklärt die myanmarische Schriftstellerin Wendy Law-Yone, warum mit Aung San Suu Kyi keine Demokratie zu machen ist.

Wegen vermeintlicher Irrelevanz

08.03.2021. Scharf attackiert Horst Bredekamp in der FAZ den Postkolonialismus, der den Antikolonialismus vielfach jüdischer Pioniere der Anthropologie heute als "rechts" denunziert. Mit Interesse, aber auch Skepsis liest Valentin Groebner bei geschichtedergegenwart.ch Mithu Sanyals Roman "Identitti". Frauenverachtung findet man auch in Deutschland noch überall, warnt Claudia Becker in der Welt. In der SZ fordert Monika Grütters ein richtiges Bundesministerium für Kultur. Der belarussische Aufstand ist ein Aufstand der Frauen, schreibt Jewgenija Pasternak in der SZ. Und die Frankfurter Buchmesse findet statt!

Insgesamt zu weiß

06.03.2021. Tania Martini setzt sich in der taz sehr kritisch mit Michael Rothbergs "multidirektionaler Erinnerung" auseinander. In der Welt feiert Hedwig Richter das Kaiserreich als Wiege der Modernisierung in Deutschland. In der FR glaubt der Wirtschaftshistoriker Harold James, dass der Brexit der EU langfristig nützen wird. Bei cicero.de bekennt sich Wolfgang Thierse nach den identitätspolitischen SPD-Scharmützeln zu Olaf Scholz' Begriff des "Respekts".

Die reine, unbefleckte Seele der Revolution

05.03.2021. Das Kulturleben soll nach und nach wieder normalisiert werden. Aber "wie bitte können Selbsttests vor dem Theater- oder Kinobesuch nachgewiesen werden", fragt der Tagesspiegel. In der NZZ wirft die Feministin Holly Lawford-Smith den GenderistInnen um Judith Butler, die das biologische Geschlecht leugnen wollen, Frauenverachtung vor. FAZ und New Statesman erzählen die Geschichte des bekannten britischen Journalisten Roy Greenslade, der jahrzehntelang engste Kontakte zur IRA unterhielt und es jetzt erst offenlegt.

Die Lehre vom besseren Menschen

04.03.2021. Es ist richtig, die AfD als rechtsextrem einzustufen, schreibt Ronen Steinke in der SZ: Das eigentliche Problem ist aber, dass sie trotzdem gewählt wird. Die SPD hat jetzt auch eine identitätspolitische Debatte - ihre Chancen erhöht das nicht, fürchten die Medien. Die Presse wird von allen Seiten - Staat und Plattformen - mit Geld überhäuft. Netzpolitik zeigt, wie intransparent die Deals zwischen Zeitungen und Facebook sind. Und Perlentaucher Thierry Chervel antwortet auf Aleida Assmanns Merkur-Artikel zur Mbembe-Debatte: Gibt es einen richtigen und einen falschen Antisemitismusbegriff?

Nur im anderen ich selbst

03.03.2021. Auf Zeit online sehnt sich Christian Bangel nach Zuversicht und würde gern endlich auch mal hören, wie sich die Corona-Lage zum Guten wendet. Der Soziologe Felix Römer fragt auf geschichtedergegenwart.ch, warum es in Deutschland so gut wie keine Daten zur Frage gibt, wie unterschiedlich die Pandemie Arm und Reich trifft. Die Sichtbarkeit des Gesichts ist eine Grundvoraussetzung für unsere Zivilisation, meint in der NZZ Thomas Ribi. Die Washington Post erzählt, wie PBS seinen Dokumentarfilm "A Thousand Cuts" trotz der Zensur auf die Philippinen bringt.

Keine sensiblen Themen

02.03.2021. Rupert Murdoch wird demnächst neunzig. Die Financial Times bringt ein großes Portät des Moguls, der Trump möglich machte und dessen Quoten ohne Trump jetzt sinken. Der Historiker Benjamin Zachariah erzählt bei geschichtedergegenwart.ch, wie die indische Regierung die Coronakrise nutzt, um die akademische Freiheit einzuschränken. In der SZ erzählt die ungarische Autorin Krisztina Tóth, wie sie angegriffen wurde, weil sie das Frauenbild eines ungarischen Klassikers kritisierte. Die Rede von einer "interessengeleiteten" Außenpolitik, die sich selbst als illusionslos ansieht, ist selber nur magisches Denken, schreibt Richard Herzinger in seinem Blog.

Kühle Schönheit und zwingende Sinnhaftigkeit

01.03.2021. In der NZZ singt Eva Menasse dem NDR-Podcast von Christian Drosten ein Ständchen. So funktioniert Argumentation, lobt sie, nicht mit Rechthaberei, sondern mit ständiger Überprüfung des eigenen Standpunkts. Die SZ hat herausgefunden, dass es kaum eine Aktivität im Netz gibt, von der die Plattformen nicht profitieren. In der FAZ zeichnet Viktor Jerofejew ein liebevolles Porträt der Krim, die sich nie ukrainisch fühlte, aber russisch eigentlich auch nicht. Die FAS bleibt bei postkolonialen Theorien über den Holocaust skeptisch.