9punkt - Die Debattenrundschau

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.

Dezember 2022

Warum sitzt ihr nur rum?

31.12.2022. Silvester 2022: Im Iran gehen die Menschen nach wie vor auf die Straße, auch wenn das Interesse der hiesigen Medien erlahmt. In der taz bekennt die  Aktivistin Sanaz Azimipour ihre Enttäuschung über deutsche Linke, die sich mit den Frauen im Iran nicht solidarisieren. In der New York Times erklärt Anshel Pfeffer, wie die neue israelische Regierung das Judentum weltweit spaltet. FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube ist sehr böse auf Claudia Roth, die die Stiftung Preußischer Kulturbesitz umbenennen will. Die Berliner Linken-Politikerin Saraya Gomis geht im Tagesspiegel noch weiter und will die Nofretete zurückgeben.

Der Krieg, den Russland seit 500 Jahren führt

30.12.2022. Die Russen haben kaum Mitgefühl mit den Ukrainern, fast niemand spricht darüber, dass Menschen in der Ukraine getötet werden, sagt der Meinungsforscher Lew Gudkow im Spiegel. Es gibt keine Pflicht der Ukraine, dem Aggressor Konzessionen zu machen, erwidert Philosoph Peter Strasser in der NZZ heute dem Rechtsprofessor Reinhard Merkel. In der SZ erzählt Michael Brenner, wie die Ultraorthodoxen durch Kinderzeugen die israelische Demokratie umstülpten. Und Pelé spielt zehn wunderschöne Tore heraus.

Das Chaos ist da

29.12.2022. Die ukrainische Friedensnobelpreisträgerin Oleksandra Matwijtschuk sagt den Deutschen und Europäern in der Welt ein paar ungemütliche Wahrheiten: "Die Menschen in Deutschland und im gesamten Westen haben die Demokratie geerbt. Sie sind nur noch Konsumenten demokratischer Werte." Die SZ erinnert  an die herzliche Verbundenheit deutscher Dienste mit den syrischen. Die taz beleuchtet die katastrophale chinesische Coronapolitik. In der FAZ kommentiert David Grossman die Lage in Israel.

Als Uber-Fahrer ein hohes Rating

28.12.2022. In der FAZ pocht Reinhard Merkel auf die moralische Pflicht der Ukraine zu verhandeln. Die Ukrainer werden nicht einknicken, die Deutschen vielleicht schon, glaubt Carlo Masala in der SZ. Corona ist nicht vorbei, warnt die SZ. Das Kopftuch ist ein Symbol der Unterdrückung, aber auch ein Symbol der Freiheit, finden  Saba-Nur Cheema und Meron Mendel in ihrer FAZ-Kolumne.  Im Guardian bekennt George Monbiot seine "brennende Scham" darüber, dass er mit Holz heizt.

Nicht in die Knie gehen

27.12.2022. In der Welt beschwört Karl Schlögel die "Resilienzreserven, an die wir nicht mehr denken". In der NZZ erzählt Sergei Gerasimow , wie man im ukrainischen Winter ohne Strom überlebt. Claudia Roth will die Stiftung Preußischer Kulturbesitz umbennen, und Hermann Parzinger ist auch dafür, melden Spiegel, SZ und FAZ. In der FAZ untersucht der Religionswissenschaftler Reinhard Flogaus religiöse Motive in der Kriegspropaganda Putins und des Patriarchen Kyrill. Die SZ blickt entsetzt auf das Elend der Frauen in Afghanistan.

Ein schwacher Grund zur Freude

24.12.2022. In Atlantic zeigt Anne Applebaum auf, was die Ukrainer geleistet haben und was ihnen und der Welt gedroht hätte, wenn Putins Pläne aufgegangen wären. Der Westen ist kein ideologisches Konstrukt des Kalten Krieges, betont Heinrich August Winker in der SZ, sondern durch Gewaltenteilung und Pluralismus entstanden. Er sollte allerdings die Idee der Menschenrechte entkolonisieren, findet die FAZ. In der taz hält Noshin Shahrokhi den Mullahs vor, den Iranern die Religion verhasst gemacht zu haben. Im Guardian schöpft Jonathan Freedland allerdings für die Welt leichte Hoffnung. Ist ja schließlich Weihnachten!

Sozusagen die kirchliche Speerspitze

23.12.2022. Es weihnachtet ziemlich, und es dominieren quasi religiöse Debatten. Aleida Assmann versucht in der FR, den antipostkolonialen Historiker Egon Flaig mit dem Höcke-Nolte-Stoß ins definitive Aus zu katapultieren. Der Ökonom Otmar Issing fragt in der FAZ, warum Intellektuelle eigentlich immer schon gegen den Kapitalismus sind und macht als Ursprung das Christentum aus. Die amerikanische Kusnthistorikerin Christiane Gruber erzählt im Newlinesmag, dass eine Kollegin an der Hamline University gefeuert wurde, weil sie islamische Kunst gezeigt hat. Und der Politikwissenschaftler Ali Fathollah-Nejad fragt in der FR, warum ein Teil der Linken die säkulare Freiheitsbewegung im Iran lieber nicht unterstützt .

Wie ein Wetterfrosch im Klimawandel

22.12.2022. Der Raum für Widerstand in Afghanistan hat sich stark verkleinert, sagt die afghanische Menschenrechtlerin Shaharzad Akbar in der taz nach dem Ausschluss von Frauen aus Hochschulen - was bleibt sind Stipendien westlicher Länder. Es gibt kein "blühendes jüdisches Leben" in Deutschland, nur ein potemkinsches Stetl, das die Deutschen feiern, während nicht weit entfernt davon ein Genozid stattfindet, schreibt Henryk M. Broder in der Welt. Bertelsmann geht's zwar prächtig, aber Schöner wohnen, Brigitte und Geo werden noch gründlicher entsorgt als bisher bekannt, berichtet die SZ.

Sichtbarkeitsfilterung

21.12.2022. Die schlimmste Niederlage für Putin wäre eine Ukraine, in der die Rechte aller Menschen geschützt sind, sagt die Regisseurin Hanna Kopylova in Zeit online, und das gilt besonders für die Rechte der Frauen. Die Ukraine selbst wurde vom Westen lange Zeit wie eine Frau behandelt, deren Kampf um Souveränität nicht ernstgenommen wurde, schreibt die Historikerin Olesya Khromeychuk im New Statesman. Trump mag geschwächt sein, der Trumpismus ist es nicht, warnt  der Historiker Thomas Zimmer in der NZZ. Die Zeitungen freuen sich, dass erste Benin-Bronzen an Nigeria zurückgegeben wurden, auch wenn ihr weiteres Schicksal unklar ist.

Das Wort "Frau"

20.12.2022. Sollte Deutschland anerkennen, dass Polen recht hatte und sich von der deutsch-französischen Achse abwenden, fragen AutorInnen in der Welt und New Eastern Europe.  In der FR erklärt Meron Mendel, warum es quasi unmöglich ist, Postkolonialisten und BDS-Kritiker an einen Tisch zu holen. Der niederländische Premier Mark Rutte hat für sein Land wegen der jahrhundertelangen Praxis der Sklaverei um Entschuldigung gebeten, die FAZ berichtet. Das Volk hat gegen Elon Musk gestimmt, aber bisher ist er noch nicht als Twitter-Chef abgetreten, notiert die New York Times.

Etwas weniger auf den eigenen Nabel gucken

19.12.2022. Wladimir Putin hat Russland und der russischen Kultur mehr Schaden zugefügt, als Amerika es je könnte, schreibt Timothy Garton Ash im Guardian.  Die Journalistin und Friedensnobelpreisträgerin Maria Ressa erklärt in Zeit online, warum sie nicht mehr an die sozialen Medien glaubt. Unterdessen bangt die taz um Twitter, das von Elon Musk mutwillig zerstört wird - Business Insider erklärt, wie. Die Feuilletons trauern um die große Reporterin Marie-Luise Scherer.

Die Grenze bezüglich der Eingriffstiefe

17.12.2022. Mehrere Artikel beleuchten heute die Vernetzungen im Rechtsextremismus: Stephan Malinowski weist in der FAS auf die Kontinuität von Adelskult und rechtsextremen Ideologien hin. Die taz begibt sich nach Thüringen, wo sich die Verbindung zwischen "Reichsbürgern" und AfD am deutlichsten zeigt. Die NZZ wirft einen Blick auf die "Organische Christus-Generation", eine Sekte in der Schweiz, die ebenfalls Beziehungen zur AfD unterhält. Ist die Kritik an Katar eurozentrisch, fragt die SZ. Auch Wolfgang Ullrich wundert sich in der NZZ über die Politisierung von Veranstaltungen wie Documenta und Fußball-WM.

Mit einem Shadow-Ban belegt

16.12.2022. In der SZ erklärt der Historiker Orlando Figes, warum die Russen "genetische Angst" haben. Die FAZ schildert die immer grausamere Schikanierung Alexei Nawalnys in der Strafkolonie von Melechowo. In der SZ prangert Avraham Burg nicht nur die rechtsextremen Kräfte in der neuen israelischen Regierung an, sondern gleich das "Prinzip des auserwählten Volks", das Israel zur Demokratie unfähig mache. In Berlin wurde ein Papier mit Handlungsempfehlungen zu "antimuslimischen Rassismus" vorgelegt, das die religiöse Rechte stärkt, fürchtet hpd.de. Elon Musk setzt laut Guardian seine Twitter-Zerstörung fort, indem er die Konten von Journalisten sperrt.

Terminologische Kapitulation

15.12.2022. Navid Kermani hat für Zeit mit Menschen gesprochen, die dem ersten hingerichteten Demonstranten, Mohsen Schekari, nahestanden oder seine letzten Tage miterlebten. Wolfgang Kraushaar erklärt in der Berliner Zeitung, wie sich Extremismen zugleich immer weiter entgrenzen und in der Mitte der Gesellschaft ansiedeln. Auch Polen fragt sich laut taz mit Blick auf Rechtsextremismus im Land, ob es sich aus der Spirale von Hass und Gewalt selbst befreien kann. Anne Applebaum erkundet in Transatlantic, was Demokratien von Taiwan lernen können.

Protagonisten einer trüben Affäre

14.12.2022. Russland schießt die Ukraine mit iranischen Raketen in Dunkelheit und Kälte. Die USA und Britannien wollen jetzt helfen. Derweil erklärt Putin: Glauben kann man nur mir. Die FAZ stellt die wichtigsten "Reichsbürger" vor, darunter ein Prinz, eine Richterin, ein Rechtsanwalt, ein Tenor und eine Ärztin. Der Korruptionsskandal im EU-Parlament ist ein schwerer Schlag für Italiens Linke, berichtet die NZZ. Die taz blickt in den Osten Deutschlands mit seiner Russophilie und begreift es nicht.

Hohe Gesinnung und purer Egoismus

13.12.2022. Das Entsetzen über die "Reichsbürger" hält an: Liberale und Konservative müssen sich scharf von der AfD abgrenzen, wenn sie nicht in ein Schlammassel geraten wollen, wie die Republikaner in den USA, warnt Hannes Stein in der Welt. Katar hat vor allem linke Politiker und Gewerkschafter geschmiert, damit sie sein "Arbeitsrecht" in sanfteres Licht setzen, notiert die taz. Die Mullahs betrachten den Protest gegen sie als "Krieg gegen Gott" und hängen Demonstranten an Baukränen auf - Natalie Amiri will in der NZZ die Hoffnung dennoch nicht aufgeben.

Nähe zu Interessengruppen

12.12.2022. Olexandra Matwijtschuk prangerte in ihrer Friedensnobelpreisrede nochmal die Fahrlässigkeit des Westens an, die Putin möglich machte. Die Politologen Wilfried Jilge und Stefan Meister  kommen in der FAZ zum selben Ergebnis und fordern eine "Ukraine zuerst"-Politik. Das Emirat Katar scheint Europapolitiker bestochen zu haben, hoffentlich ist das nicht nur die Spitze des Eisbergs, bangt die taz. In der NZZ beschreibt der Sinologe Junhua Zhang das Ausmaß der Gehirnwäsche unter Xi Jinping.

Wir nicht, die anderen auch

10.12.2022. ZeitOnline bringt eine Dankesrede der Memorial-Historikerin Irina Scherbakowa, in der sie zu Widerstand gegen Diktatur und Hoffnungslosigkeit aufruft. Die taz wirft einen Blick auf den iranischen Unterdrückungsapparat. Die SZ erklärt den neuen Salatbar-Extremismus. In der FAZ stellt der Historiker Robert Heinze klar, dass Sklaverei und Kolonialismus nicht erst in der Rückschau verwerflich wurden. Die FAS hat noch einige Fragen an das Institut für Zeitgeschichte, das dem Schloss-Spender Ehrhardt Bödecker trotz seiner antisemitischen Schriften ein verquast-wohlmeinendes Gutachten ausstellte.

Nur in Deutschland segeln die halt nicht

09.12.2022. Einige Medien waren über die Razzia gegen die "Reichsbürger" überraschend gut informiert - ein PR-Coup? Der Tagesspiegel wirkt verärgert. Die FAZ hört ein Krachen im scheinbar soliden Gebälk des iranischen Regimes. Aber noch wehrt es sich mit größter Brutalität gegen die Demokratiebewegung. Der Guardian berichtet, dass Polizeikräfte bei Demonstrantinnen oft mit Vogelschrot auf die Brüste und den Unterleib schießen. Der Historiker Norbert Frei will den Holodomor in der SZ nicht als Genozid sehen.

Keine Auflösungserscheinungen an der Spitze

08.12.2022. In Time erzählt Dascha Nawalnaja, wie ihr Vater seit zwei Monaten in seinem Gefängnis gequält wird. In der SZ blickt Irina Scherbakowa von Memorial auf die jahrelange geduldige Zerstörung der russischen Zivilgesellschaft zurück. Die neuen rechtsextemen Minister in Israel sind schlimmer als europäische Rechtspopulisten, warnt Omri Boehm in der Zeit. Ebendort bleibt Angela Merkel unflexibel: Ihre Politik war alternativlos, für etwas anderes hätte es auch überhaupt keine Akzeptanz gegeben.

Rund um das Sternchen

07.12.2022. Die taz beschreibt die Rolle der russischen Soldatenmütter, die zugleich besorgt und ergeben sind. In Deutschland wurde in einer riesigen Polizeiaktion das Netzwerk der "Reichsbürger" ausgehoben, melden alle Medien.  Die SZ philosophiert mit Hilfe künstlicher Intelligenz über dieselbe. Eine Gruppe von Autoren und Forscherinnen wendet sich in der FAZ gegen die heute wieder beginnende Islamkonferenz, die alles, nur den Islamismus nicht thematisiere. Zeit online begleitet das Erzbistum Köln ins jüngste, nämlich weltliche Gericht und der Guardian  Mark Zuckerberg auf dem Weg bergab. 

Alternativlose Faktizität

06.12.2022. Ein Grund für den Krieg Russlands gegen die Ukraine sind dessen Bodenschätze, meint die Politikwissenschaftlerin Olivia Lazard im Interview mit der Zeit, denn die Ukraine könnte helfen, die Welt von fossilen Energien zu entwöhnen. Die SZ resümiert etwas ratlos das erste Jahr von Claudia Roth als Bundeskulturministerin. Ist die Klimakatastrophe ein Realistätsschock, der der Naturverleugnung der Postmoderne ein Ende bereitet, fragt Daniele Dell'Agli im Perlentaucher.  In seinem Substack-Blog schildert Matt Taibi einen Sündenfall amerikanischer Medien: die "Publikumsoptimierung".

Motive des Aufklärerischen im Dienst der Verblendung

05.12.2022. Die Meldung, dass der Iran möglicherweise die Sittenpolizei auflöst, ist eher mit Skepsis zu betrachten, schreibt Gilda Sahebi in der taz. Die Medien fragen, ob China jetzt ein "Leben mit Covid" in Betracht zieht - allerdings sind gerade ältere Chinesen zu wenig geimpft. China weitet unterdessen seinen Einfluss in Europa, besonders in Italien, weiter aus, berichtet der Guardian. Was ist eigentlich ein "Stellvertreterkrieg", fragt ntv.de und holt sich Auskunft von Politologen. Die putinophile ehemalige ARD-Korrespondentin Gabriele Krone-Schmalz sprach lange Zeit nur aus, was Millionen Deutsche dachten, und sie ist immer noch beliebt, konstatiert die NZZ.

Die nötige systemgefährdende Kraft

03.12.2022. Die Ukrainer müssten unter anderem deshalb vom Westen noch viel stärker unterstützt werden, weil ihre Erfolge die Welt besser gemacht haben, sagt Timothy Snyder bei t-online.de. Auch Thomas Piketty ist im FR-Interview optimistisch: das europäische Modell sei stärker als das chinesische. Zwei Beiträge in der FAZ und bei bpb.de befassen sich mit Vorteilen und Tücken der Identitätspolitik. Die New York Times beklagt einen rasanten Anstieg von Hate Speech bei Twitter.

Keine einzige Zeile mehr

02.12.2022. In der SZ spricht Tatjana Chomitsch über die folterähnlichen Haftbedingungen ihrer Schwester Maria Kolesnikowa. Im Deutschlandfunk kritisiert Jörg Baberowski die Anerkennung des Holodomor als Völkermord durch den Bundestag: "Das ist eine Angelegenheit der Ukrainer, die das als ihren nationalen Mythos brauchen; wir brauchen das nicht." Bei geschichtedergegenwart.ch liefert Benjamin Kaufmann eine scharfe Polemik gegen die Wiener Honoratiorenschaft, der an Karl Lueger als "Stachel im Fleische" gelegen ist.

Eigentümliche Verdinglichung des Bösen

01.12.2022. In der FR schlägt Mykola Gnatovskyy, Richter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, für Putin ein Tribunal nach dem "Modell Nürnberg" vor. In der NZZ fordert Alice Schwarzer "um Gottes willen nicht noch mehr Waffen" für die Ukraine. Die FAZ sucht nach Informationen zum Gesundheitszustand der belarussischen Oppositionellen Maria Kolesnikowa. Die taz begrüßt die neuen Einwanderungsgesetze der Bundesregierung. SZ und FR bejahen die Entscheidung des Bundestags, den Holodomor als Völkermord anzuerkennen.