9punkt - Die Debattenrundschau

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.

Januar 2020

In einem Zustand von höchstem Stress

31.01.2020. Heute ist Brexit. Der Germanist Nicholas Boyle fürchtet in der SZ, dass Britannien zum 51. Staat der USA werde. Timothy Garton Ash beißt im Guardian die Zähne zusammen. John Burnside macht im Tagesspiegel mangelnde Bildung für den Brexit verantwortlich. hpd.de fragt, ob Beschneidung bei Jungen nicht auch Verstümmelung ist. Und die taz fragt: 400 Milliarden Euro werden in Deutschland bald jährlich vererbt - ist das gerecht?

Gesucht werden Hybridformen von Grenzen

30.01.2020. "Jetzt wo der Streit vorbei ist, was passiert mit der Galle und Bitternis, die die britische Politik drei Jahre lang getränkt haben", fragt Anne Applebaum im Atlantic, einen Tag vorm Brexit. Die Jyllands-Posten hat einen neuen Karikaturenstreit, diesmal mit China, berichtet die SZ. Die Zeit macht eine neue Strömung im Denken über den Klimawandel aus, die "Kollapsologie". Das Fehlen der Väter macht Männlichkeit toxisch, vermutet Ralf Bönt in Telepolis.

Ganz viele inkrementelle Fortschritte

29.01.2020. In der SZ fordert Jan Philipp Reemtsma von Demokratie in erster Linie einen sicheren Boden. In der NZZ fragt Sarah Pines: Wie steht es eigentlich mit der Unschuldsvermutung bei Harvey Weinstein? Der Tagesspiegel bestreitet, dass der muslimische Antisemitismus so virulent sei, und wenn, dann liegt es an der Islamfeindlichkeit. In der Republik lernt Mely Kiyak von Lukas Bärfuss einiges über die CDU. geschichtedergegenwart.ch führt ein in die Ideologie der "Hindutva".

Impuls zu einem Prozess

28.01.2020. Wolfgang Schäuble denkt in einer Rede, die er im Perlentaucher veröffentlicht, über deutsche Identitäten nach: Warum fühlen sich Westdeutsche als deutsch, Ostdeutsche als ostdeutsch? Im Tagesspiegel konstatiert der Historiker Martin Sabrow eine Krise der Erinnerungskultur, die ebenfalls im Zeichen von Identitätsdiskursen stehe. Die FAZ druckt Ronald S. Lauders Rede zum Gedenktag in Auschwitz, in der Lauder auch das Wegsehen der anderen thematisiert.

England ohne London

27.01.2020. Der neue Antisemitismus ist nicht neu, sagt der Autor Natan Sznaider in der taz. Als er in den Siebzigern zur Schule ging, war's eher noch schlimmer. Im Standard fragt der Autor Yishai Sarid, wie ein künftiges Gedenken an Auschwitz ohne Zeitzeugen aussehen soll. In der NZZ spricht die in Deutschland lebende iranische Künstlerin Parastou Forouhar über die Lage im Iran. Die FAS berichtet über Verwerfungen im Musikmarkt: Die Künstler hätten gern einen größeren Anteil der Streaming-Einnahmen -  und zwar von der Musikindustrie. Und außerdem: Diese Woche ist wirklich Brexit.

Die Liebe zum Grundrecht

25.01.2020. Florian Illies verlässt nach nur einem Jahr den Rowohlt Verlag, die FAZ ruft zum Kehraus nach einer für alle peinlichen Party. Außerdem möchte die FAZ gern die Freiheit der Museen gegen die Ansprüche der Hohenzollern verteidigt wissen. In der Welt ruft Richard Herzinger zu mehr Kampfgeist in den Debatten auf. Auf ZeitOnline berichtet Hasnain Kazim allerdings von Todesdrohungen und Feindeslisten. Und die SZ warnt: Auch bei der Gesichtserkennung ist der größte Feind der Grundrechte mittlerweile die Bequemlichkeit der Bürger.

Klar, dass die Überschrift lizenzfrei bleibt

24.01.2020. Der 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz - gestern offiziell in Yad Vashem gefeiert - steht im Zeichen unguter geschichtspolitischer Territorialkämpfe, beobachtet die taz, besonders mit Blick auf Wladimir Putins Äußerungen zum Zweiten Weltkrieg. In der Welt spricht Adam Krzeminski über die polnische Position. Die taz stellt das geplante neue Leistungsschutzrecht vor: Journalisten dürfen immerhin noch eigene Artikel zitieren. In der Welt geißelt Thomas Schmid die Unterwürfigkeit deutsche Bosse gegenüber China.

Der Reiz dieses Verfallsdenkens

23.01.2020. In der Welt zeigen zwei polnische Journalisten, wie Wladimir Putin die Geschichte fälscht. In der Zeit beschreibt der Politologe Jérôme Fourquet Frankreich nach vierzig Tagen Streik als vollends fragmentierte Gesellschaft. Der Guardian erzählt, wie der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman den Amazon-Grüner Jeff Bezos erpressen wollte.

Umgebaute Begriffe von Staatlichkeit

22.01.2020. In der Zeit online plädiert der Schweizer Forscher Urs Niggli  für Bio-Landwirtschaft - mit Gentechnik. Ilija Trojanow rät in der taz, in Fragen des Klimawandels nicht auf Optimisten zu hören. Die Ruhrbarone fragen, warum die europäischen Grünen die Erdogan-nahe SETA-Stiftung und ihren Begriff von "Islamophobie" so mögen. In der SZ warnt Katajun Amirpur vor Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Irans. Und Netzpolitik warnt: Clearview verstößt nicht unbedingt gegen den europäischen Datenschutz.

Narzisstische Raubtiere

21.01.2020. In politico.eu attackiert Mateusz Morawiecki, Polens Premierminister, die geschichtsrevisionistischen Äußerungen Wladimir Putins zum Hitler-Stalin-Pakt und wirft Stalin vor, dass er Auschwitz wesentlich früher hätte befreien können. Meedia zitiert aus einem offenen Brief der Belegschaft der Hamburger Morgenpost, die um den Bestand der Zeitung fürchtet. Im Guardian erinnert Frederick Forsyth an die missliche Rolle der BBC und der britischen Diplomatie im Biafra-Krieg vor fünfzig Jahren.

Gleichsam gereinigte Wesen

20.01.2020. Die New York Times erzählt, wie sich mit "Clearview" eine an China erinnernde Gesichtserkennung auch in Demokratien durchsetzen könnte. Alan Rusbridger bittet im Guardian darum, die Geschichte um Prince Harry und Meghan Markle im Kontext zu sehen: Und dieser Kontext ist die massive Abhöraffäre der britischen Boulevardmedien. Der SZ graut's vor der schwedischen Mode der "Normkritik": in Frage stellen, was normal ist, um es dann "integrierend" aufzulösen.

Nur privat mit ihrer Gefolgschaft

18.01.2020. Zeit online wirft einen Blick auf die deutsche Umsetzung des Leitungsschutzrechts: Verlinken dürfte demnächst schwierig werden. Emma spricht mit Naïla Chikhi über die "Studis gegen rechte Hetze". In der NZZ kritisiert der Historiker Wlodzimierz Borodziej die EU, die auf Wladimir Putins geschichtsrelativistische Äußerungen zum Hitler-Stalin-Pakt nicht reagiert. Die taz recherchiert zu den Vorwürfen gegen die Deutsche Welle. Und im Guardian mokiert sich Fintan O'Toole über die Brexiteers, die zum Brexit gern die Glocken des Big Ben schlagen würden - oder doch lieber nicht?

Dauerhaft beeinflussen und objektiver gestalten

17.01.2020. SZ und Zeit online interviewen den SPD-Abgeordneten Karamba Diaby, auf dessen Büro in Halle geschossen wurde. Migranten seien im Bundestag viel zu wenig repräsentiert, kritisiert er. Die Krise der SPD begann im Grunde schon mit der Gründung der Bundesrepublik meint Welt-Autor Thomas Schmid. In der FAZ erzählt der Physiker Marco Wehr, wie der Hirnforscher Nikos Logothetis nach Protesten von Tierversuchsgegnern das Max-Planck-Institut in Tübingen und Deutschland verließ. 

Identität als Gegenleistung

16.01.2020. In der Zeit verwahrt sich Hans Leyendecker gegen den Vorwurf, er sein  ein Relotius. Für den Historiker Eckart Conze in der SZ ist die Hohenzollern-Debatte Symptom eines neuen geschichtspolitischen Klimas. In der Welt überlegt der Politologe Daniel Dettling, wie die Demokratie wieder erlebbar gemacht werden kann. Die Zeit attackiert die Berichterstattung der FAZ über Yasemin Shooman.

Fossil fixiert

15.01.2020. In Taiwan hat die Demokratie einen Sieg errungen. Deutschland gratuliert der wiedergewählten Präsidentin Tsai Ing-wen aber nicht, notiert die FAZ. Die SZ rät Papst Franziskus, im Streit um den Zölibat einfach eine Entscheidung zu treffen: Schließlich ist er unfehlbar. Der Brexit, so wie ihn Boris Johnson gerade vorantreibt, wird den Status von EU-Bürgern in Britannien deutlich verschlechtern, warnt politics.co.uk. In Zukunft wird alles besser, beharrt Steven Pinker in der NZZ. Und laut Guardian ist die Deutsche Welle ein Sumpf.

Deswegen benutzen sie Kugeln

14.01.2020. Die taz veranstaltet ein Streitgespräch über die Frage, ob die urbanen Eliten die ärmeren Schichten in die Arme der AfD treiben. Ja, meint Wolfgang Merkel. Nein, meint Naika Foroutan. Nicht die sozialen Medien sind schuld an der Verrohung des öffentlichen Meinungsaustauschs, sondern ihre Nutzer, schreibt der Kunsthistoriker Jörg Scheller in der NZZ. Die FR erinnert an die Rechten unter den frühen Grünen. "Die meisten Iraker sind es leid, ihr Land und ihr tägliches Leben als Schlachtfeld von regionalen und globalen Konflikten zu sehen", sagt der Schriftsteller Sinan Antoon im Gespräch mit der FAZ.

10.000 Euro pro Lurch

13.01.2020. Die SZ fordert: Steuern senken für alle. Foreign Policy warnt: Wer "posh" sein will, sagt "Loo", nicht "Toilet"; "Scent", nicht "Perfume", und "Napkin", nicht "Serviette". Gabor Steingart entwickelt im Gespräch mit der NZZ neue Messmethoden: "Wenn jemand sagt, er lese gern auf Papier, ist das keine Meinungsäußerung, sondern eine Altersangabe." Und Zeit online verzehrt heute schon mal die veganen Ersatzprodukte des Jahrs 2030: Denn wo Kühe waren, wird Wald sein.

Fiebrige Aufwallungen

11.01.2020. Gesichtserkennung ist Gift für die Freiheit, ruft die SZ, egal ob sie funktioniert oder nicht. In der New York Times versucht David Brooks einen Vorstoß in die Echokammer der Trumphasser: Die Tötung von General Qassem Soleimani war gut und richtig. Jürgen Trabant erkennt in der FAZ: Europas Sprache ist die Übersetzung. Der Guardian begräbt mit dem Brexit auch jeden Hoffnung auf eine Republik. Und die vor 240 Jahren gegründete NZZ möchte ihr Jubiläum lieber nicht im angesagten Emma's Torch feiern.

Unser Kontinent ist gigantisch

10.01.2020. Im SZ-Gespräch erklärt Achille Mbembe, wie er sich ein postkoloniales Afrika ohne Grenzen vorstellt. Knapp eine Million deutsche Frauen wurden nach dem Zweiten Weltkrieg von alliierten Soldaten vergewaltigt, erinnert die NZZ unter Bezug auf die Historikerin Miriam Gebhard. Golem.de wirft einen Blick auf netzpolitische Projekte der neuen EU-Kommission. Der Guardian kann sehr gut verstehen, warum sich Meghan Markle und Prince Harry zurückziehen.

Die Inspiration hatten wir aus Lea Roshs Zahn

09.01.2020. Im Tagesspiegel entschuldigt sich Philipp Ruch zwar für sein Agieren mit der Asche ermordeter Juden, aber er hält an einem Mahnmal an der Stelle der Kroll-Oper fest, um vor den Konservativen zu warnen. Der französische Streik könnte zu einer Radikalisierung führen, weil Emmanuel Macron das Gespräch verweigert, warnt der Historiker Stéphane Sirot in huffpo.fr. In der SZ will A.L. Kennedy künftig den Brexit mit einer Kolumne begleiten und trinkt schon mal aus einem Fläschchen mit Pinochets Speichel. In der NZZ spricht die Autorin Sadia Dehlvi  über die antimuslimische Politik der indischen Regierung.

Enormes Ausmaß an Verwirrung

08.01.2020. In der SZ schreibt Najem Wali über die Angst der Iraker, dass Iraner und Amerikaner ihren Streit weiter auf irakischem Boden austragen, die zu überraschenden Frontverschiebungen führt. Die FAZ beschreibt den französischen Clinch zwischen korporatistischen Gewerkschaften und einem dirigistischen Staat. Spiegel online gibt es ab heute nicht mehr. Es gibt nur noch Der Spiegel und die Hoffnung auf Digital-Abos, berichtet unter anderem Meedia.

Toujours Charlie

07.01.2020. Während sich politische Kommentatoren streiten, ob die Tötung des iranischen Kriegsherren Qassem Soleimani Sinn hatte (SZ) oder eher nicht (Niall Ferguson in der NZZ), warnt Masih Alinejad in der Washington Post davor, die iranischen Bilder trauernder Massen für bare Münze zu nehmen. Die FAZ ist empört über Trumps Drohung, Kulturstätten zu beschießen. Libération und andere Zeitungen gedenken des Attentats auf Charlie Hebdo vor fünf Jahren. Die SZ versucht sich den Hass auf Emmanuel Macron in Frankreich zu erklären.

Erklärung von allerlei Missliebigem

06.01.2020. Was treibt Wladimir Putin, ausgerechnet jetzt den Hitler-Stalin-Pakt zu rechtfertigen, fragt Anne Applebaum im Atlantic. In der NZZ erklärt der Religionspsychologe Harald Strohm, warum es viele Gläubige bei der Wahl zwischen Jesus und Maria klar zu Marias offener Bluse zieht. In der Jungle World spricht der Historiker Michael Brenner über den jüdischen Anteil an der Münchner Räterevolution und über den jüdischen Anteil an der Kritik daran. Die taz berichtet über den beginnenden Prozess gegen Harvey Weinstein.

Selbstbefragung mit unklarem Ausgang

04.01.2020. Die Bundesregierung hat ein modernes Frauenbild, nur bei Einwandererfamilien kümmert sie sich nicht um die Familie, schreibt Necla Kelek im Gießener Anzeiger. Gegen das Freiheitsversprechen des Autos hilft nur eins, findet die taz: Verbote. In der FAZ erklärt Bernd Scherer vom Haus der Kulturen der Welt, was das Anthropzän mit Natur und Kultur macht. Der New Stateman wirft einen Blick auf den per Drohne abgeschossenen Kriegsherren Qassem Soleimani. Die Welt deckt mit Mark Sedgwick die unterirdischen Verbindungen zwischen rechten Ideologien und dem Islam auf.

Man nennt das deep lobbying

03.01.2020. Interessiert sich Google nicht für Menschenrechte? Bei Medium erzählt der ehemalige Leiter der Abteilung für internationale Beziehungen bei Google, wie er weggemobbt wurde, weil er in der Firma für eine klare Politik eintrat. Es wird weiter über das Jüdische Museum Berlin gestritten: Null Toleranz für BDS, fordern Clemens Heni und Michael Kreutz im Tagesspiegel. Die SZ erzählt, wie Bolivien nach dem Abgang von Evo Morales vom katholischen Fundamentalismus zurückerobert wird.

Das alte Schicksal aller Minderheiten

02.01.2020. Bei  den Salonkolumnisten resümiert der Historiker Jan C. Behrends zwanzig Jahre Putin: von der autoritären Modernisierung  zur Barbarisierung. Ein Streit zwischen dem Journalisten Richard Gutjahr und dem Bayerischen Rundfunk wirft nochmal Licht auf die missliche Situation der freien Journalisten bei den Sendern. Die Welt beschreibt das heikle Lavieren der christlichen Minderheit im Libanon. Spiegel online wirft einen ungemütlichen Blick auf die in den Zwanzigern kommende Alterung Deutschlands.