9punkt - Die Debattenrundschau

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.

Juni 2019

Nirgends ist ein Talent in Sicht

29.06.2019. Wer wundert sich, dass Wladimir Putin den Liberalismus für obsolet erklärt? Putin ist ein Warlord, der Hunderttausende Tote auf dem Gewissen hat, bringt Natalie Nougayrède im Guardian in Erinnerung. Aus zwei Städten kommt Hoffnung: Ma Jian schreibt ebenfalls im Guardian eine Hymne auf die Hunderttausende Hongkonger, die für ihre Freiheiten kämpfen. Und Zafer Senocak feiert in der Welt die Wiederauferstehung Istanbuls.

Inhaltliche Schärfung des Profils

28.06.2019. Die Jüdische Allgemeine veranstaltet ein Pro und Contra zur Frage, ob nach dem Rücktritt Peter Schäfers der Pluralismus im Jüdischen Museum Berlin in Gefahr sei. Nicht der Berliner Senat ist Erfinder des Mietendeckels, sondern Adolf Hitler, schreibt Hubertus Knabe in seinem Blog: Und die DDR führte ihn in die Konsequenz. Wladimir Putin attackiert Angela Merkel in der Financial Times als obsolete Liberale und erweist sich mal wieder als zuverlässiges Sprachrohr der Rechtsextremen.

Die Ortsteile Britz, Rudow, Buckow

27.06.2019. Auch Deutschland hat jetzt seinen Karikaturenstreit: Die Emma-Zeichnerin Franziska Becker soll zum Ärger ihrer Gegnerinnen die Hedwig-Dohm-Urkunde erhalten. Alice Schwarzer fragt auf Emma, was an der Kritik reaktionärer Religionen rassistisch sein soll. Nach dem Geständnis des Rechstextremisten Stephan Ernst herrscht Erleichterung, die SZ will jetzt nur noch die Anschlagsserie von Berlin-Neukölln aufgeklärt sehen. FAZ und SZ erkunden, was von Anonymas Tagebüchern bleibt, die einst mit Schilderung des Berliner Kriegsalltag Furore machte. Und die Berliner Zeitungen melden: Das Schloss wird erst mit dem Flughafen eröffnet.

Sie waren jung und sahen eben nicht so aus

26.06.2019. Auf ZeitOnline denkt Georg Seeßlen über den politischen Mord nach, der stets auf die Selbstzerstörung einer Gesellschaft ziele. In der FAZ meint der Historiker Hanno Loewy, jüdische Geschichte sei eine Geschichte der Beziehungen, nicht der Denkverbote. Die NZZ erklärt Diversity-Management als betriebswirtschaftliche Strategie der Profitsicherung. Nicht nur im Sudan, auch in Myanmar wurde den Menschen das Internet gekappt, berichten SZ und taz. Libération blickt auf die seit einem Monat anhaltenden Proteste in Honduras.

Eine Überdosis an Seriosität

25.06.2019. Die taz feiert Istancool. In der FR attestiert Eva Illouz der Linken in Sachen Israelkritik eine fundamentale Verwirrung.  In der SZ verurteilen die Historiker Tobias Rupprecht und Dora Vargha die feindliche Übernahme des ungarischen 1956-Instituts durch das Veritas-Institut. Im Guardian wirft Boris Johnsons früherer Chefredakteur Max Hastings seinem einstigen Brüssel-Korresponten Verachtung der Wahrheit vor. Die NZZ revidiert unser Bild indianischer Amerikaner. Und Netzpolitik weiß: Seit der Europawahl spielt die Musik auf Instagram.

Witz, Selbstvertrauen, Charme

24.06.2019. Großer Jubel in Istanbul: Ekrem Imamoğlu gewinnt haushoch die Bürgermeisterwahlen und verabreicht Präsident Erdogan eine historische Niederlage. ZeitOnline schöpft wieder Hoffnung, dass Demokratien nicht so leicht totzukriegen sind. Wenn Politik keine Rolle mehr spielen soll, zählt der Charakter, reibt der Guardian dem ausgerasteten Boris Johnson unter die Nase. In der FAZ erklärt Mona Sloane, wie KI als Medium der sozialen Organisation Diskriminierung verstärkt.

Tumult und Scheitern

22.06.2019. In der NZZ dekonstruiert Hans Ulrich Gumbrecht mit Hélène Cixous, Donna Haraway oder Judith Butler das Stereotyp vom wütenden weißen Mann. Im Guardian beobachtet Evgeny Morozov, wie Facebook Schrödingers Katze auf das globale Finanzsystem loslässt. In der Financial Times beschreibt Simon Kuper, wie Oxford seit Jahrzehnten Politiker hervorbringt, die sich nicht für Politik interessieren. Die taz fragt, warum die CDU so verhalten auf die Ermordung Walter Lübckes reagiert. Und die SZ tippt ihre Zehenspitzen in die Melancholie.

Die kleinen Vorfälle

21.06.2019. Peter Sloterdijk meint, man solle es mit Warnungen vor Antisemitismus nicht übertreiben, sonst drohe eine "selbsterfüllende Prophezeiung". Die Jüdische Allgemeine staunt. Time geht in einer Reportage dem Antisemitismus in Europa nach. Neunetz fragt, was es mit "Libra", der Kryptowährung von Facebook auf sich hat. In der SZ möchte der Soziologe Jan-Hendrik Passoth die Infrastruktur fürs Internet nicht mehr den Amerikanern überlasse. Der neue Kommissionspräsident der EU soll eine Frau sein, fordern Autorinnen in der FR.

Vollverschleierung anprobieren

20.06.2019. Heute trifft sich der Europäische Rat, um den EU-Kommissionspräsidenten zu küren: Wählen Sie nicht Manfred Weber, denn der hat den Abbau der Demokratie durch Viktor Orban gerechtfertigt, ruft Timothy Garton Ash im Guardian. Die grauenhaften Zustände in Flüchtlingslagern werden von der EU absichtlich herbeigeführt, sagt Jean Ziegler in der FR. Cicero und Spiegel online fragen, wie sich Rechtsextreme radikalisieren. Emma.de findet es nicht so gut, dass eine Kölner Ausstellung über den Niqab im Namen "Interkultureller Impulse" subventioniert wird.

Terror von rechts

19.06.2019. Der Mord an Walter Lübcke dominiert die Medien nach wie vor: Der CDU-Politiker Peter Tauber attackiert in der Welt die einstige Parteigenossin Erika Steinbach - und er verlangt eine Aberkennung der Grundrechte für jene, die gegen die Grundrechte agitieren. Zeit online hofft, dass der Mord an Lübcke zumindest eine Wende in der Wahrnehmung des Rechtsextremismus bewirkt. Unterdessen steuert Britannien auf den Brexit zu: Und die meisten Konservativen wären bereit, auf Nordirland oder Schottland zu verzichten, um ihn zu verwirklichen, hat eine Umfrage bei yougov.co.uk herausgefunden.

Hier geht gar nichts mehr

18.06.2019. Der Mord an dem Kasseler Politiker Walter Lübcke wirft neues Licht auf den Rechtsterrorismus in Deutschland. Immer noch gibt es hier eine Asymmetrie der Wahrnehmung, konstatiert die taz. Die SZ thematisiert die Unterwanderung einiger Polizeibehörden durch Rechtsextreme. Dlf Kultur erzählt eine Geschichte des Rechtsterrorismus in Deutschland. Und t-online.de fragt, warum der hessische Verfassungsschutz eine Akte für 120 Jahre sperrt. Außerdem: Alle Feuilletons gratulieren Jürgen Habermas zum Neunzigsten.

In abenteuerlicher Weise politisch blind

17.06.2019. Nach der Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke hat die Polizei einen Rechtsextremisten verhaftet. Die FAZ würde gern auch den ganzen sympathisierenden Schwarmextremismus hinter Gitter sehen. In der SZ attackiert der Soziologe Jessé de Souza die koloniale Elite, die Brasilien ausbeute wie einst die Belgier den Kongo. Im Tagesspiegel sieht Michael Wolffsohn in der Universalisierung der deutschjüdischen Geschichte vor allem eine Entjudaisierung. Auch zehn Jahre nach dem Tod von Ralf Dahrendorf wehren sich die Deutschen noch immer gegen die westliche Moderne, seufzt die NZZ.

Der Markt der Anmut

15.06.2019. Peter Schäfer, der Direktor des Jüdischen Museums, tritt zurück: taz und FAZ sind irgendwie einig, dass BDS-freundliche Tweets politisch nicht auf Linie sind. In der NZZ denkt Pascal Bruckner über die zunehmende Grausamkeit der Liebe nach. Als karlsruhisch provinziell entlarvt die Welt den Hochmut der Intellektuellen gegen Jürgen Habermas. Im Guardian fragt Fintan O'Toole, warum die Briten eigentlich so auf dem Gefühl der Demütigung herumreiten.

Pirouetten auf sehr dünnem Eis

14.06.2019. "Non merci!", ruft die Chefredaktion von Le Monde in ihrem Editorial zur Perspektive eines britischen Premiers namens Boris Johnson. Und die Financial Times klingt fast noch zorniger. In der NZZ sinniert die ungarische Schriftstellerin Ágnes Czingulszki über ein Jugendbild von Viktor Orban. Man kann nicht Kinderrechte fordern und das Kopftuch für kleine Mädchen befürworten, schreibt Ahmad Mansour in der Welt. Heise.de fordert öffentlich-rechtliche soziale Medien. Und Karikaturisten protestieren gegen die Selbstzensur der New York Times, die sich keine Karikaturen mehr traut.

Als Habermasianer argumentiert

13.06.2019. Das Humboldt Forum wird nicht dieses Jahr eröffnen: die Klimaanlage. An Berlin liegt's nicht, ruft die SZ und zeigt auf Seehofer. Warum lässt sich die Sinologie von China einschüchtern, fragt der Sinologe Andreas Fulda bei libmod.de. John Lanchaster erklärte es schon vor Jahren, jetzt belegt es auch der Digital News Report 2019: Der Mensch will nicht acht verschiedene Zeitungsabos, sondern eins, in dem er alle Zeitungen lesen kann. Und: Jürgen Habermas wird nächsten Dienstag 90 Jahre alt. Die Zeit hat ihm schon mal einen Strauß internationaler Gratulationen gebunden.

Objektfeld der Bekämpfung

12.06.2019. Italien ist ein Laboratorium der politischen Krise, schreibt der Politologe Francesco Grillo im Guardian, und es hat herausgefunden, dass Politik nicht ohne Bürger funktioniert. Auch die SZ fragt, was aus einer Demokratie wird, wenn der Common Sense dahin ist. Die Hongkonger dagegen sind laut Guardian heute vor allem auf eines stolz: "Hong Kong Core Values". Le Monde macht sich Sorgen um das von vielen Medien verfochtene Online-Abomodell, das zu stagnieren scheint. Und in der Welt verzweifelt Cis an Trans.

Schauen Sie mal bei CNN

11.06.2019. Schon wieder stehen heute Ärztinnen vor Gericht, weil sie auf ihrer Website über Schwangerschaftsabbrüche informieren. Schuld ist die SPD, ruft die Emma. Der in den USA vorbereitete Prozess gegen Julian Assange ist ein Anschlag auf die Pressefreiheit, warnt heise.de. Der Journalismusprofessor Jeff Jarvis ist sauer auf die New York Times, die in der Lobbyschlacht zwischen Verlegern und Plattformen einfach den Verleger-Standpunkt nachbete. Hätte es in Deutschland ein #MeToo gegeben, sähe es heute anders aus, meint Jagoda Marinic im Tagesspiegel.

Wellenbrecher der Demokratie

08.06.2019. Der Guardian schreibt wieder schwarze Zahlen, und die SZ gibt daran Chefredakteurin Katharine Viner die Schuld, die nicht nur mutig, sondern auch sympathisch sei. Im Guardian selbst bemerkt Jonathan Freedland, dass Britannien keine konservative Partei mehr hat. Heinz Bude empfiehlt in der Welt den deutschen Sozialdemokraten, auch in Gerechtigkeitsfragen weniger Ich und mehr Wir. Die NZZ stutzt: Kann es sein, dass der Kapitalismus keinen Begriff von Profit hat? 25 Jahre nach dem Völkermord kennt Ruanda keine Tutsi und Hutu mehr, weiß die taz, sondern nur noch Sopecya, Dubai und Tingi Tingi.

Estland ist nicht der Wilde Westen

07.06.2019. Was ist daran so schlimm, das Humboldt-Forum leer zu eröffnen, fragt Boris Pofalla in der Welt: "Das wiedererrichtete Berliner Stadtschloss ist zuallererst als Hülle konzipiert worden." Auch andere Zeitungen antworten mit Spott auf die Meldung. Theresa May ist ab heute nur noch kommissarisch Premierministerin: Die Probleme mit dem Brexit könnten nun auch die EU spalten, fürchtet politico.eu. Die "Apokalyptik der Klimabewegung" verstellt den Blick auf andere Krisen, fürchten die Salonkolumnisten. In der SZ wirbt Estlands Präsidentin Kersti Kaljulaid für eine Digitalisierung der Politik.

Baubomben

06.06.2019. Anders als der Berliner Flughafen wird das Humboldt-Forum möglicherweise eröffnet - allerdings im Zustand absoluter Leere, denn die noch nicht funktionierende Klimaanlage gestattet keine Ausstellungen, so die SZ. Die Niederlage der dänischen Rechtspopulisten ist ihr Triumph, so ebenfalls die SZ, denn die Mainstream-Parteien haben jetzt ihre Agenda übernommen. In der Zeit fordert Eva Menasse Zugangsbeschränkungen für die Öffentlichkeit. Den Rest können die dann mundtoten Bürger ja dann gleich über Alexa den Geheimdiensten mitteilen, so die taz.

Halbwegs reibungslos

05.06.2019. Tausende gedachten gestern Abend in Hongkong der Opfer des Massakers am Tienanmen-Platz. Wie lange das noch möglich sein wird, ist fraglich, berichtet der Guardian. Daniel Barenboim wird auf unabsehbare Zeit Chef der Berliner Staatsoper bleiben. Na, Hauptsache, es läuft, kommentiert Dlf Kultur. Vice News und FAZ recherchieren zum Tod des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, der ein Hassobjekt der rechtsextremen Szene war. Wird der Rubrikenanzeigenkonzern Springer den Angriff von Google Jobs verkraften, fragt Meedia.

Das Wort heißt "unter dem Volk"

04.06.2019. Die New York Times bringt all jenen, die in China das Erbe der Dissidenz hochhalten, eine Hommage dar. In Le Monde erzählt der Sinologe Sebastien Veg, wie die Minjian-Intellektuellen auch dreißig Jahre nach dem Tienanmen-Massaker eine Geschichte von unten schreiben. Hubertus Knabe zeigt in seinem Blog am Beispiel Taiwans, wie Vergangenheitsbewältigung in China aussehen könnte. Im Guardian schreibt Ai Weiwei über die Angst vor Fakten. Wir bringen einen Schwerpunkt. Außerdem: Frauen in der deutschen Politik und Krise der Sozialdemokratie.

Im Interregnum der digitalen Gegenwart

03.06.2019. Michel Serres ist gestorben. Libération bringt einen Text, in dem er erklärt, wie man Identität und Zugehörigkeit unterscheidet. Die Briten müssen endlich aufhören, der Glorie ihres Empires hinterherzuträumen, schreibt David Olusoga im Guardian. Im Perlentaucher betrachtet Rüdiger Wischenbart besorgt die schrumpfende Mitte. Frauen wurden in der SPD noch nie gut behandelt, schreibt Alice Schwarzer auf emma.de. Auch in Afrika wird überwacht, warnt die taz, meist mit chinesischer Technik. In der SZ zieht  Bernhard Pörksen Lehren aus Rezo.

Es gibt nur noch beschädigte Ideen

01.06.2019. Im Guardian kritisiert Arundhati Roy das schematische Denken der Linken in Indien, die das Phänomen der Kasten nie habe verstehen können. Asli Erdogan spricht in Spiegel online über die Erfahrung der Isolationshaft. Die taz erklärt, warum Proteste wie die am Platz des Himmlischen Friedens in China nie mehr möglich sein werden. Die SZ erzählt, wie der Springer Verlag sich verkaufen will.