9punkt - Die Debattenrundschau

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.

Dezember 2018

Und alle kaufen im Bioladen

31.12.2018. Wem gehört das "kulturelle Erbe"? In der NZZ kritisiert die Ethnologin Brigitta Hauser-Schäublin den Eigentumsbegriff in dem Rückgabe-Manifest Benedicte Savoy und Felwine Sarr. Die New York Times freut sich: Die Rechte einiger Autoren entkommen dem 95-jährigen Schutz des "Mickey Mouse Protection Act". Im Freitag distanziert sich der Philosoph Guillaume Paoli vom "global-kreativen Mittelstandsspektrum".

Diese Dreieinigkeit

29.12.2018. In der NZZ betreibt Peter Sloterdijk auf vier Seiten eine Archäologie des aktuell wütenden Zynismus. Die öffentlich-rechtlichen Sender brauchen mehr Gebühren, hatte gestern der ZDF-Intendant Thomas Bellut gefordert. Notfalls gehen wir vors Bundesverfassungsgericht, sekundiert heute der ARD-Vorsitzende Ulrich Wilhelm. Schlimmer als Farage? Politico.eu porträtiert den rechtsextremen UKIP-Aktivisten Tommy Robinson.

Dieser wirkliche Basiswert

28.12.2018. Im Standard erinnert der britische Kulturhistoriker Peter Frankopan die Österreicher an ihre Geschichte als KolonialmachtSeyran Ates' Vorschlag einer "Moscheesteuer", die sich aber nicht an die Kirchensteuer anlehnen soll, wird nach wir vor sehr kontrovers diskutiert. Bülent Mumay berichtet in der FAZ, dass zumindest Tayyip Erdogan schon mal das Steueraufkommen für seine Religionsbehörde erheblich vergößert. Und der ZDF-Intendant Thomas Bellut hätte auch gern eine Erhöhung, moderat, versteht sich.

Beuteschema der liberalen Öffentlichkeit

27.12.2018. Für die Zeit begab sich ein Autor nach Tansania und beschreibt, wie ratlos man dort die europäischen Debatten über Kolonialkunst und Restitution verfolgt. Die Reportage mit viel Atmo ist am Ende, konstatiert dieselbe Zeit mit Blick auf die Relotius-Affäre. Soll es nun eine Moscheesteuer geben, oder pudert man damit nur einen Zopf? Die Medien sind uneins. Die Jungle World erinnert an die Fatwa gegen Salman Rushdie vor bald dreißig Jahren.

Das Wortwörtliche

24.12.2018. Überall ist es still, nur in den Medien nicht: Sie sind mit sich beschäftigt. Der Fall des journalistischen Fälschers Claas Relotius treibt sie um: Ist er nur ein Einzelfall oder ein Symptom? Aber auch gegen Robert Menasse erheben Heinrich August Winkler und die Welt Vorwürfe. Und dann noch dies: Der Dumont Verlag verliert den Auftrag für das Bundesgesetzblatt. Außerdem trauern die Feuilletons um den Polemiker Wolfgang Pohrt.

Mit Gitarre und Fahrrad

22.12.2018. AP rekonstruiert in einer exquisiten Recherche, wie Tayyip Erdogan in einem Telefonat Donald Trump dazu bracht, in Syrien die Kurden im Stich zu lassen. In der Welt weiß Peter Sloterdijk: Der Weg zu den Wahrheiten des Südens führt durch die Tunnel der Schweiz. Die SZ bereitet dem Westen eine bitte Niederlage: Die Frauen im Sozialismus hatten besseren Sex. Der Fall des Legendenreporters Claas Relotius stellt die Branche jetzt vor die Frage: Ist Journalismus Kunst, Handwerk oder doch nur Kunsthandwerk?

Wie dämlich sind die, dass die das drucken?

21.12.2018. Reprografien gemeinfreier Werke könnten im Netz bald kaum mehr zu sehen sein: Der BGH hat entschieden, dass Fotografen solcher Bilder ein fünfzigjähriges Schutzrecht zusteht. Netzpolitik und Wikimedia sind entsetzt. Die Debatte um den Fall Relotius geht weiter: Das Probem ist nicht Relotius, sondern der Kult der Schönschreiberei, meint Bernd Ziesemer in Meedia. Ob das Kreuz auf die Kuppel des Humboldt-Forums kommt, ist noch unklar, meint Horst Bredekamp laut Tagesspiegel. Die zu restituierende Kolonialkunst unter diesem Zeichen - das macht die Politk neuerdings nervös.

Unruhiges Gefühl in der Magengrube

20.12.2018. Alle deutschen Medien berichten über den Fall Claas Relotius: Über Jahre hat der junge Spiegel-Redakteur seine Geschichten gefälscht. Eine der interessantesten Reaktionen kommt aus Fergus Falls, einem Städtchen, das Relotius als Redneck-Hochburg porträtiert hatte und das die Bewohner aus seinem Porträt kaum mehr wiedererkannten. Nicht der Kapitalismus, sondern die "kapitalistische Vetternwirtschaft" von Staat und Wirtschaft ist schuld an den Problemen der Demokratie, meint Mario Vargas Llosa in der NZZ.

Staatsfern und bedarfsgerecht

19.12.2018. Der Glaube an die Unausweichlichkeit von Geschichte ist "das große intellektuelle Missverständnis unserer Zeit", sagt Timothy Snyder im Gespräch mit der FR. Die taz zieht eine Parallele zwischen den "Gelben Westen" in Frankreich und den Protesten gegen neue Arbeitsgesetze in Ungarn. Die New York Times erzählt, mit wem Facebook seine Daten am liebsten teilt - zum Beispiel mit Amazon. In der NZZ fordert Robert Menasse mehr Demokratie in der EU.

Wir müssen es regulieren. Hart. Irgendwie

18.12.2018. Sibylle Berg unterhält sich in republik.ch mit der amerikanischen Politologin Valerie M. Hudson über die Urgeschichte der Unterdrückung der Frauen. Emmanuel Macrons heutige Probleme mit den "Gelben Westen" kann man auch als Rache der beiden von Macron besiegten Extremismen auffassen, schreibt Hanser-Lektor Wolfgang Matz in der FAZ. Tablet kann es kaum fassen: Die prominente Autorin Alice Walker empfiehlt in der New York Times einen krass antisemitischen Autor. Cicero beschreibt nach dem Urteil gegen Lamya Kaddor die "Islamophobie-Szene".

Nicht mal ein billiges Häuschen

17.12.2018. FAZ und SZ sind sich einig: Die Krise der Gilets jaunes hat eine Menge mit Städtebau, bezahlbarem Wohnraum und Marginalisierung bestimmter Bevölkerungsschichten zu tun. Die Washington Post stellt einen neuen Untersuchungsbericht des amerikanischen Senats über russische Einflussnahme vor. Jeremy Corbyn verfolgt im Brexit die Strategie des "revolutionären Defätismus", schreibt Nick Cohen im Observer.

Und übrigens, welche Demokratie?

15.12.2018. Michel Houellebecq veröffentlicht in Harper's eine wirre und böse Hommage auf Donald TrumpChristopher Clarke fordert in der Literarischen Welt eine Politik der Langsamkeit. Die Fotografin Romy Alizée, deren Konto bei Instagram gesperrt wurde, fragt in Libération: Was sollen Künstler tun, die auf diese Plattformen angewiesen sind? Die Ärztin Kristina Hänel erklärt in der taz, warum sie mit dem Kompromiss zum Paragrafen 219a nicht zufrieden ist. Und Monika Grütters und Forscher wetteifern um die Spitzenposition in der Aufarbeitung von Kolonialgeschichte.

Ozean aus Zorn und Verzweiflung

14.12.2018. Das Landgericht Berlin verbietet Lamya Kaddor, ihrer Diskursgegnerin Necla Kelek falsche Zitate in den Mund zu legen, berichten die Ruhrbarone und der Perlentaucher.  Wären die Briten wie die Schotten, gäbe es heute keinen Brexit, versichert A. L. Kennedy in der NZZ. Der Paragraf 219a wird nicht gestrichen. Die SPD hat sich mit der CDU auf einen Kompromiss verständigt, der alles lässt, wie es war - Alice Schwarzer und die betroffenen Ärztinnen sind entsetzt. Netzpolitik zeigt, wie Facebook auf Handys Daten von Nutzern ausspäht, die womöglich nicht mal Facebook nutzen.

Komplett unvermittelt nebeneinander

13.12.2018. In Libération erklärt Thomas Piketty, wie er mit Steuern für Reiche Gerechtigkeit in Europa schaffen will. Die "Gilets jaunes" sind ein lupenreines Facebook-Phänomen, schreibt Sascha Lobo in Spiegel online. Thomas Schmid deutet sie in der Welt eher als Ausdruck des uralten Konflikts zwischen Provinz und Paris. Die Zeit veröffentlicht einen Appell von Historikern für einen neuen Umgang Europas mit Kolonialgeschichte.

Blinde Flecken und taube Stellen

12.12.2018. In der taz erklärt der Politologe Philip Manow, warum in Nordeuropa der Rechts- und in Südeuropa der Linkspopulismus triumphiert. Emmanuel Macron bekommt jetzt die Quittung für sein selbstherrliches Gehabe, meint Sylvain Cypel im Blog der New York Review of Books. Höhere Steuern auf Benzin wären die Antwort auf den Klimawandel, meint Klimawissenschaftler Benedict Probst in der SZ. Der Konservatismus musste nicht gestupst werden, er starb aus eigener Schwäche, meint der Politologe Thomas Biebricher in Zeit online.

Zuletzt nur noch eine Option

11.12.2018. Emmanuel Macron hat seine Rede ans Volk gehalten und eine Erhöhung des Mindestlohns und weitere Erleichterungen versprochen. Libération ist dennoch nicht zufrieden. Theresa Mays Entscheidung, die Parlamentsabstimmung über den Brexit zu verschieben, ist für Jonathan Freedland im Guardian fatal, weil sie den notwendigen politischen Klärungsprozess aufhält. Der Humanistische Pressedienst fragt: Wo und warum trägt Annegret Kramp-Karrenbauer Kopftuch? Die FR erinnert daran, dass die universalen Menschenrechte, wie sie von der UN vor siebzig Jahren forumliert wurden, keine spezifisch westliche Idee waren.

Fatale Resonanz

10.12.2018. Thomas Piketty und Mitstreiter wollen eine neue europäische Institution schaffen, die neue Steuern beschließen kann, um Ungleichheit abzubauen: Um eine "Transferunion" soll es aber nicht gehen, beteuern sie in ihrer Petition. Immerhin: Die Brexit-Diskussion hat dem Nachdenken über Europa genützt, meint Gustav Seibt in der SZ. Vor der morgigen Abstimmung im britischen Unterhaus zeigt sich die britische Unternehmerin Gina Miller, die die Konsultation des Parlaments gerichtlich erstritten hatte, in Zeit online entsetzt über die Ignoranz vieler Abgeordneter. Die NZZ fragt, warum Alexander Solschenizyns hundertster Geburtstag so wenig gefeiert wird.

Heute hoffnungsmatt und bedrückt

08.12.2018. Alarmstufe Gelb! Für heute haben die Gilets Jaunes zum Klassengroßkampftag aufgerufen, und Libération fragt, ob Paris heute brennen wird. Wenn, dann brennt das Frankreich der Provinz, präzisiert die taz, wenn auch auf den Champs Elysees. Im DLF Kultur ist Thomas Ostermeier voll dabei. Die NZZ liest bei Hannah Arendt nach, wie die Philosophie das Interesse an der Politk verlor. Nicht die Werte machen Europa aus, erklärt zudem Jürgen Wertheimer in der NZZ, sondern das kritische Denken. Die FR gratuliert Noam Chomsky zum Neunzigsten.

Wenn Lenin länger gelebt hätte

07.12.2018. Was an den "Gilets jaunes" so irritiert, ist, dass sie keinen angenehm manichäischen Diskurs zulassen, sagt der Philosoph Frédéric Gros In Libération. Nicht alle "Gilets jaunes" leben im Elend, wie ein Blick auf zwei Protagonisten der Bewegung zeigt. Im Guardian setzt Timothy Garton Ash seine Hoffnung auf ein zweites Referendum, das den Brexit wieder einkassiert. Sonst drohe der EU Ärger. Edward Kanterian wirft in der NZZ einen Blick auf einige der vielen linken Brexit-Gegner.

Theoretisch sehr brillant

06.12.2018. "Wer die 'Gelben Westen' beleidigt, beleidigt meinen Vater", sagt Edouard Louis in den Inrocks (und deutsch in Zeit online). Auch Annie Ernaux erklärt in der Zeit ihre Sympathie für die Bewegung. Die Kräfte, die von der Straßengewalt profitieren, können nicht nur Frankreich in den Abgrund stoßen, warnt dagegen Natalie Nougayrède im Guardian. Das "Zentrum für politische Schönheit" hat seinen soko-chemnitz-Pranger vom Netz genommen. Die Nachtkritik findet die Aktion gut.

Im Namen historischer Gerechtigkeit

05.12.2018. Die französische Regierung hat die Erhöhung der Dieselsteuer kassiert. Nun ist es an den "Gelben Westen", Verantwortung zu zeigen, schreibt Bernard-Henri Lévy in Le Point. Pascal Bruckner verzweifelt in der NZZ am linken Konservatismus. Le Monde analysiert die Forderungen der Bewegung: zwei Drittel seien links. Und die restliche Hälfte rechts... Die Islamkonferenz repräsentiert nur eine Minderheit der Muslime, meint die Alewitin und Rapperin Reyhan Şahin alias Lady Bitch Ray in der SZ. Der Medientheoretiker Erhard Schüttpelz veröffentlicht in einem Blog der Uni Köln eine scharfe Attacke auf den Bericht von Bénédicte Savoy und Felwine Sarr.

Schubweise ins Irre

04.12.2018. Die französischen Medien streiten über die "Gilets jaunes": Wird die Bewegung in sich zusammenbrechen? Offenbart sie die Schwäche von Emmanuel Macrons Aktionismus? In Deutschland streitet man dagegen mal wieder über das Zentrum für politische Schönheit, das Rechtsextreme an den Pranger stellt. Denunziation, meint die SZ. Im Gegenteil, die FR. In der New York Times erzählt die Dalit-Aktivisten Thenmozhi Soundararajan, wie Twitter zu einem Mittel der Kastengewalt wird. Dlf Kultur fragt, ob chinesische Handys spionieren.

Übrig bleibt eine destruktive Kraft

03.12.2018. Was wir in Paris sehen, ist der Aufstand der Peripherie gegen das Zentrum, schreibt Christophe Guilluy im Guardian. Und Emmanuel Macron ist ein allzu naiver Repräsentant des Zentrums und der Hochqualifizierten, ergänzt der Historiker Gérard Noiriel in Libération. Aber ein Ziel haben haben die "Gilets jaunes" nicht, konstatiert die SZ ratlos. Im Deutschlandfunk spricht sich Ahmad Mansour für einen gemeinsamen Religionsunterricht der Kinder aus. Netzpolitik staunt über einen Staat, der seinen Bürgern Datenschutz verspricht und alle Daten selber will.

Weniger Mensch

01.12.2018. Die Diskriminierung in hundert Jahren kann man sich ja jetzt schon vorstellen - die der genetisch Modifizierten, "Überlegenen", gegenüber den "Normalen", annonciert T. C. Boyle nach der Genmanipulation zweier chinesischer Babys durch Crispr in der taz.  Im Gespräch mit emma.de kritisiert Ertan Toprak von der Initiative Säkularer Islam auch die Kirchen, denen es in erster Linie um den Erhalt der eigenen Privilegien gehe. Die New York Times stellt den mörderischen Handschlag von MBS und Wladimir Putin in eine historische Reihe.