9punkt - Die Debattenrundschau

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.

Juni 2023

Das am wenigsten plausible Szenario

30.06.2023. Vor dreißig Jahren brachte ein Mob in der zentralanatolischen Stadt Sivas einige der bekanntesten alewitischen Künstler und Autoren um - die taz erklärt, warum die zentrale Demonstration zum Gedenken an das Ereignis am Sonntag in Berlin stattfindet. Ebenfalls die taz legt neue Informationen über den Verfassungsschutz und Alois Brunner, einen der schlimmsten Nazitäter, vor - jahrzehntelang wusste die Behörde, dass er sich in Syrien aufhielt und tat... nichts. Im Tagesspiegel erzählt die Sinologin Mareike Ohlberg, wie es im gleichgeschalteten  Hongkong zugeht. In der NZZ schreibt Abdel-Hakim Ourghi über muslimischen Antisemitismus.

Brauchste Stoff?

29.06.2023. Prigoschins Miniputsch könnte Putins Regime noch weiter brutalisieren, fürchet Michael Thumann in der Zeit. Der Staat kann nicht schützen, was er nicht definieren kann, schreibt die Juristin Judith Froese in der FAZ mit Blick auf das Selbstbestimmungsgesetz, das sich jeder Definition des Geschlechts enthält. Entfesselung der Gewalt im Sudan, aber niemand kümmert's, und Militärinterventionen sind komplett außer Mode geraten, konstatiert Dominic Johnson in der taz. Der Tagesspiegel sucht mit Hilfe einer Studie nach Ursachen für den Rechtsextremismus in den Neuen Ländern. In der NZZ verteidigt Robert Menasse die europäische Idee.

So enden Kriege

28.06.2023. Im New Yorker fragt Masha Gessen, wie Putin Prigoschins Rebellion ungesehen machen will. Osteuropa bemerkt, dass sich in Rostow und Woronesch niemand fand, um dem Kreml zu helfen. In der NZZ schöpft Timothy Snyder aus den internen russischen Rivalitäten Hoffnung. Mit Blick auf Frankreich und Italien möchte ZeitOnline der CDU eher abraten, auf einen Kulturkampf zu setzen: Davon profitieren nur die Populisten. In La Règle du Jeu ist Bernard-Henri Lévy grundsätzlich gegen die Rückkehr.

Wien ist, wie Italien wäre

27.06.2023. Putins Sturz ist keine Sache, die man vom Sofa aus beobachten sollte, mahnt Peter Pomerantsev im Guardian, da müssen wir alle ran. In der FR fragt der Politologe Marc von Boemcken, wer jetzt für Putin in Afrika die Drecksarbeit erledigen wird. Nicht Gendern und Heizungstausch sind schuld am Erfolg der Afd, sondern ihre Wähler, erinnert die FAZ. Die taz berichtet aus dem Norden Afghanistan, der lieber Trinkwasser statt Biomarmeladen hätte. In der Welt schwärmt Joachim Lottmann vom sozialdemokratischen Wohnungsbau in Österreich.

Die Gefahr für Putins System

26.06.2023. Das Erstaunlichste an Jewgeni Prigoschins bizarrem Wochenend-Abenteuer, war die Reaktion der Menschen in Russland, findet Atlantic-Autorin Anne Applebaum: Die Apathie, die Putin seinem Volk eingetrichtert hatte, galt am Ende auch ihm selbst. Samantha de Bendern schlägt im Observer vor, die Ereignisse als "Fehde zwischen kriminellen Banden" zu deuten. Prigoschin selbst sollte zunächst darauf achten, dass er nicht "etwas äußerst Unverträgliches isst", rät die FAZ. In der taz zeigt der Jurist Maximilian Steinbeis, wie leicht sich Verfassungsorgane manipulieren ließen, wenn Rechtspopulisten die Mehrheit hätten. Eine Gruppe von Wissenschaftlern hofft in Zeit online, dass Künstliche Intelligenz schafft, was natürliche nicht zustande brachte: eine Alternative zum Kapitalismus.

Planetare Schönheitsoperation

24.06.2023. In Russland meutern Jewgeni Prigoschins Wagner-Truppen. Ob es sich bei dem Coup um mehr als nur eine Farce handelt, wagt noch niemand zu entscheiden. Die NZZ erinnert an den dunkel-schillernden Eduard Limonow, der als Punk, Bohemien und Nationalbolschewist Putins Russland leibhaftig verkörperte. Die SZ empfiehlt der CDU, mehr Arnold Schwarzenegger und weniger Claudia Pechstein. Die FAS fragt, ob uns nicht der Klimafuturismus aus der Klimanot helfen könnte. Die taz reist ins verarmte New Mexiko, in das sich Tausende von Frauen aus Texas vor drakonischen Abtreibungsgesetzen flüchten.

Und alles einer zweifellos guten Sache wegen

23.06.2023. Tausende von Büchern und Filmen über Nazis und Holocaust haben Europa nicht geholfen, das Anschwellen eines neuen faschistischen Reiches vor seiner Haustür zu erkennen, schreibt Oksana Sabuschko im Tagesspiegel in einem verzweifelten "Brief über Demokratie". Zwei Ansätze, über den Klimaschutz zu diskutieren: Wir sollten aufhören zu wachsen, meint der Politologe und Grüne Reinhard Loske in der FR. Wir sollten von sinnlosen Vorschriften Abschied nehmen, und nicht nur klimafreundlich, sondern auch schöner bauen, meint Niklas Maak in der FAZ. Sieben Jahren nach dem Brexit-Votum driftet Britannien away, fürchtet Timothy Garton Ash im Tagesspiegel.

Seine Majestät das Baby

22.06.2023. In der NZZ skizziert Pascal Bruckner das neue Verständnis von Bürgerlichkeit: "Jede Einschränkung oder Behinderung macht mich zum Opfer und legitimiert meine Wut." Ebenfalls in der NZZ bekundet Bora Cosic seine Liebe zum Kosovo. Die FAZ fragt: Was bedeutet Putins Verlegung von Atomwaffen nach Belarus? Zwei Artikel in der SZ befassen sich mit dem Thema Restitution von Kunstwerken. Bei hpd.de erklärt der Ethikprofessor Hartmut Kreß, warum Ethikunterricht besser ist als Religion.

Riesige Entladungswellen

21.06.2023. Im Guardian hofft der ukrainische Autor Oleksandr Mykhed, dass die Welt nach der Sprengung des Kachowka-Staudamms endlich erkennt, dass in der Ukraine ein Genozid stattfindet. In der FAZ wünscht sich die Historikerin Hedwig Richter eine positive Zukunftserzählung als Reaktion auf die AfD. Auf ZeitOnline macht der russische Soziologe Grigori Judin Deutschland dafür mitverantwortlich, dass es keine russische Zivilgesellschaft mehr gibt. In der FR kämpft Stephanie Schlitt von ProFamilia für das Menschenrecht auf Abtreibung. Spon schildert derweil, wie junge Mädchen in Paraguay gezwungen werden, ungewollte Kinder auszutragen.

Mitten in der Wüste, ohne alles

20.06.2023. Im Tagesspiegel hält der algerische Schriftsteller Kamel Daoud die liberale europäische Demokratie hoch - als einzigen Ort, zu dem Menschen aus Diktaturen schwimmen können. Vorausgesetzt, man lässt sie nicht tatenlos ertrinken, erinnert die SZ, die Strafverfahren nicht nur gegen die Schlepper des gesunkenen Flüchtlingsschiffs vor Pylos fordert, sondern auch gegen die griechischen Behörden. In der Welt fordert Slavoj Zizek Atombomben für die Ukraine. Die taz kritisiert den Ausstieg aus der Kernkraft.

Insgesamt neutral

19.06.2023. Der schöne Kamerun-Saal im Humboldt-Forum könnte demnächst leerstehen, fürchtet die FAZ: denn eigentlich müssten laut einem "Atlas der Abwesenheit" sämtliche 40.000 kamerunischen Objekte aus deutschen Museen restituiert werden. "Das Deutsche ist womöglich viel gerechter, als wir es annehmen", meint der Übersetzer Jayrôme C. Robinet in der SZ, denn es gibt auch jede Menge generisches Femininum. Die Welt schildert die sadistische Hinrichtungspraxis der iranischen Geistlichen. Im Tagesspiegel kritisiert der Migrationsexperte Gerald Knaus die geplante Reform des EU-Asylsystems.

Nur noch 65 Cent wert

17.06.2023. In der FAS macht der ukrainische Autor Artem Tschech klar: Der Weg von New York nach Bachmut ist kürzer als der Weg von Bachmut in die Etappe. Die Historiker Stefan Wolle (taz), Hubertus Knabe (Blog) und Ilko-Sascha Kowalczuk (taz) erinnern aus unterschiedlichen Perspektiven an den 17. Juni. Die FAZ berichtet über die neuesten mörderischen Geschichtsversionen Wladimir Putins. Und Boris Johnson hat einen neuen Job: Er ist jetzt Diätberater bei der Daily Mail.

5000 blaue Luftballons

16.06.2023. In Polen protestieren die Frauen wieder gegen das restriktive Abtreibungsgesetz - während andere Frauen sich in Kinderhospizen von nicht lebensfähigen Säuglingen verabschieden müssen, die sie nicht abtreiben durften, berichtet die taz. Deutschland muss verstehen, dass die Nato die Ukraine als Mitglied braucht, sagt der ehemalige Jelzin-Berater Anders Aslund in der Welt. Die SZ gibt Entwarnung: Man sollte bei der Betrachtung der AfD-Umfragewerte die "Medienschwelle" beachten. In der FAZ kritisiert Cem Özdemir deutsche Politiker, die partout mit der Erdogan-Lobby hierzulande zusammenarbeiten wollen.

Ein Sexist, aber nie misogyn

15.06.2023. In seiner FAZ-Kolumne kommt Bülent Mümay auf die heuchlerischen Erdogan-Huldigungen westlicher Staatschefs nach den türkischen Wahlen zurück. Die Medien machen sich Sorgen um Sahra Wagenknecht, die droht, in einer neuen Partei die Ähnlichkeit "linker" und "rechter" Diskurselemente zur Kenntlichkeit zu entstellen. Eine Frau ist eine Frau, insistiert Kathleen Stock in der Welt. In der Zeit erinnern Francesca Melandri und Ezio Mauro an die Kontexte, die Berlusconi möglich machten.

Ein bleiernes Gefühl des Krieges

14.06.2023. Es gibt in der amerikanischen Gesellschaft keinen Minimalkonsens mehr, nicht mal mehr über den Wert der Demokratie, beklagt im Interview mit ZeitOnline die amerikanische Philosophin Sally Haslanger. Im Tagesspiegel konstatiert der Historiker Jonas Kreienbaum eine koloniale Amnesie in der bundesrepublikanischen Gesellschaft, weil Deutschland nie eine Phase der Dekolonisierung erlebt habe. In FAZ und FR folgen jetzt etwas grundsätzlichere Nachgedanken zum Phänomen Berlusconi.

Es ist wie bei Napoleon

13.06.2023. "Und jetzt?", fragt Linkiesta: Eins sei klar: der Berlusconismo kann Berlusconi nicht überleben. In der Welt ist der Filmhistoriker Armin Schäfer bestürzt über den laschen Umgang der ARD mit der Vergangenheit ihrer frühen Intendanten. Die FAZ fragt: Was ist eigentlich mit dem "Russischen Haus" in Berlin, und warum wird es nicht stärker sanktioniert? Im Tagesspiegel sucht  Wilhelm Heitmeyer nach den Ursachen für die Umfrageerfolge der AfD.

Die Kriegsverbrechen sind der Punkt

12.06.2023. Im Observer fragt Peter Pomerantsev nach den Gründen für russische Grausamkeit - und kommt zu dem Ergebnis, dass jenseits davon nichts ist. Ebenfalls im Observer fragt Kenan Malik: Wem nützen die apokalyptischen Ängste vor Künstlicher Intelligenz? Bei hpd.de erklärt die Religionswissenschaftlerin Petra Klug, warum in den USA der "Anti-Atheismus" sogar der Trennung von Staat und Religion eingeschrieben ist. In der NZZ macht die Osteuropahistorikerin Nada Boškovska wenig Hoffnung auf eine Lösung des Konflikts zwischen Serben und Albanern im Kosovo.

Von den Spätis im Schillerkiez

10.06.2023. In der SZ möchte Anne Rabe darüber diskutieren, wie der Osten zum Aufmarschgebiet für Rechtsextreme aus dem Westen werden konnte. Vielleicht weil dort die Moderne keine Zukunft mehr bereithält, sondern vor allem Verlusterfahrungen, meint Andreas Reckwitz in der NZZ. Die Welt hätte auf dem Tempelhofer Feld lieber ein bisschen moderne Stadt als ambitionsloses Rumgehänge. Und die FAZ bringt einen Text von Lars Gustafsson, der schon 1982 staatlich subventionierte Medien für alternative Wirklichkeiten verantwortlich machte.

Charterflug nach Astana

09.06.2023. Trotz der Verwüstungen nach den Angriffen auf den Staudamm von Kachowka fürchtet die SZ ein Nachlassen der Solidarität mit der Ukraine. In der NZZ zieht Sonja Margolina eine Bilanz des Exodus aus Russland: 1,3 Millionen Menschen sind gegangen - und hoffen, sie seien "Relokanten". Berlins neuer Kultursenator Joe Chialo möchte in der Postkolonialismus-Debatte den Blick nach vorne wenden, sagt er dem Tagesspiegel. Golem.de und heise.de melden: Google Street View macht erstmals seit 13 Jahren neue Bilder in Deutschland.

Dann aber kam der 24. Februar 2022

08.06.2023. Nach der Explosion des Staudamms von Kachowka mahnt Timothy Snyder westliche Medien, russische und ukrainische Behauptungen nicht auf eine Stufe zu stellen. Es ist Kirchentag in Nürnberg. Frank-Walter Steinmeier dachte bei der Gelegenheit über seine Rolle in der Geschichte nach, notiert die FAZ. Schön, dass Amazon sich für Diversity engagiert, findet die Welt, bei Gewerkschaften ist der Konzern allerdings schüchterner. Im Tagesspiegel bittet Katja Hoyer, Stalins Ängste zu verstehen.

Radikale Geschichtsklitterung

07.06.2023. In der SZ warnt François Hollande: China und Russland wollen die Länder des Globalen Südens verführen, dagegen brauche es eine gemeinsame Strategie. In der FR erzählt die somalische Aktivistin Hibo Wardere, wie sie mit sechs Jahren beschnitten wurde, um "heiratsfähig" zu sein. Mit den starken Männern in der Politik kommen die starken Religionsinterpretationen, warnt der Tagesspiegel. In der SZ bittet Dirk Oschmann, die Ossis nicht mehr zur AfD zu befragen, sonst werden sie bockig. Auch der Postkolonialismus ist ein kleines Erbstück der Aufklärung, erinnert Axel Honneth in der Zeit.

In den ethischen Abgrund

06.06.2023. In der Strafkolonie 6 in Melechowo wird Alexei Nawalny gerade erneut der Prozess gemacht. Diesmal drohen ihm 30 Jahre Haft, berichtet hpd. Für alle anderen Kritiker gibt es in Russland demnächst eine neue Gefängnisstadt, erzählt die Schriftstellerin Irina Rastorgujewa in der NZZ. Warum wählen die Lateinamerikaner linke Populisten und wandern dann in die kapitalistischen USA aus, fragt ebenfalls in der NZZ Mario Vargas Llosa. Die SZ lernt bei einer Veranstaltung der Berliner FU, wieviel Raubkunst aus Kamerun deutsche Museen in ihren Kellern bunkern.

Ein Ort fast unbegrenzter Möglichkeiten

05.06.2023. In Zeit online fragt die Verfassungsrechtlerin Sophie Schönberger, was aus Demokratie werden soll, wenn jeder nur um seine individuelle Differenz besorgt ist. Im Tagesspiegel denkt auch die italienische Philosophin Donatella Di Cesare über Demokratie nach: Verschwörungstheorien entstehen, wenn Macht gesichtslos wird, fürchtet sie. Die NZZ sieht sich in der heimlichen Kulturhauptstadt Europas um: Chisinau. Was soll man davon halten, wenn ausgerechnet Silicon-Valley-Größen vor Künstlicher Intelligenz warnen, fragen FAZ und Welt.

Am 35. Mai

03.06.2023. In einem FAZ-Essay zum 75. Jubiläum Israels erklärt David Grossman die "Lage", und warum sie ihn so deprimiert. Am 17. Juni 1953 wurde nicht nur gegen Normerhöhungen protestiert, sondern auch gegen stalinistischen Terror, schreibt Anne Rabe in der Welt. Angesichts einer AfD, die in Umfragen auf 18 Prozent kommt, rät der Politologe Marcel Lewandowsky der bürgerlichen Opposition im Tagesspiegel zum Stillhalten. Und in der FR hat Peter Frankopan den Schlüssel zur Weltgeschichte gefunden.

Dieses systematische Element

02.06.2023. Ein Regime, das Demokratie nach innen zerstört, wird auch nach außen gefährlich: Oleksandra Matwijtschuk benennt in der SZ das Versagen einer "realistischen" Außenpolitik, die Menschenrechte als nebensächlich ansieht. In der FR spricht die Strafrechtlerin Julia Geneuss über die Frage, wie sexuelle Gewalt als Kriegsverbrechen dingfest gemacht werden kann. Ferda Atamans Forderung nach Diversität in Unternehmen verstößt auf krasse Weise gegen Datenschutz- und Persönlichkeitsrechtsgesetze, schreibt der Anwalt Emrah Erken auf Twitter.

Wenn der Verdacht ontologisiert wird

01.06.2023. Einhundert Jahre nach ihrer Gründung ist die türkische Republik an ihr Ende gekommen, schreibt Yavuz Baydar in der SZ. Das Urteil gegen die Linksextremistin Lina E. löst in der taz Unbehagen aus - der Rechtsextremismus sei gefährlicher. Martin Doerry feiert in der Zeit das monumentale Editionsprojekt "Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945. Im Tagesspiegel erklärt die italienische Philosophin Donatella di Cesare, wie Verschwörungstheorien in Demokratien entstehen.