9punkt - Die Debattenrundschau

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.

März 2020

Dann gute Nacht

31.03.2020. In einer ganzseitigen FAZ-Anzeige bitten italienische Politiker um deutsche Solidarität. "Ihr gehört als Deutsche zu den großen europäischen Nationen. Euer Platz ist an der Seite der europäischen Institutionen." In Netzpolitik warnt der Politologe Wolf J. Schünemann vehement vor der Versuchung, "Desinformation" unter Strafe zu stellen.  In Atlantic meint Francis Fukuyama, dass es jetzt nicht auf die Form der Regimes, sondern  auf das Vertrauen der Bevölkerung ankommt.  Unterdessen hat Viktor Orban Ungarn zur Diktatur gemacht, notieren SZ und Welt.

Erfahrungen der Disruption

30.03.2020. Eine Handy-App zum Corona-Tracking muss dem Datenschutz nicht widersprechen und kann dezentral organisiert werden, schreiben Experten bei Netzpolitik. In El Pais mahnt der italienische Premierminister Giuseppe Conte  europäische Solidarität an. Radio Free Asia bezweifelt die chinesischen Statistiken. Außerdem: Die angeblich so "antifaschistische" DDR gehörte zu den Miterfindern des linken Antisemitismus, notiert Marko Martin in libmod.de.

Wie der Dieb in der Nacht

28.03.2020. Im historischen Kontext von Pest-Epidemien und anderen Seuchen geht es uns mit dem Corona-Virus noch gut, meint der Kulturwissenschaftler Thomas Macho im Gespräch mit den Van Magazin. Er erlebt zum ersten Mal Geschichte, schreibt Szczepan Twardoch in der Welt, alles vorher waren nur Ereignisse. Die Bundesregierung sollte ihr Handeln von Forschung begleiten lassen, mahnt die taz. Und wenigstens eine verdient bei alle dem kostenlosen Streaming, notiert die Berliner Zeitung: die Gema.

Üblicherweise per Fax

27.03.2020. Netzpolitik staunt über die Datenübermittlungstechnik der Gesundheitsämter. In der SZ hat das Wort "Überkapazität" für den Soziologen Steffen Mau einen ganz anderen Geschmack als noch vor zwei Wochen. Friedrich Christian Delius ist ebenfalls in der SZ ganz froh über die Errungenschaften der Moderne. Im Guardian konstatiert der Politologe David Runciman die Rückkehr der Nation. Nutzt Amazon die Krise, um das E-Book durchzusetzen? Die Branche soll sich gegen Amazon wehren fordert der Agent Thomas Montasser  in einem offenen Brief.

Vielfache Todesfolge

26.03.2020. Altantic malt ein sehr düsteres Corona-Szenario für Amerika an die Wand - und es beruht auf einem politischen Fehler, der selbst für einen wie Donald Trump fatal werden könnte. Die Zeit und der Tagesspiegel weigern sich, China als Modell zu sehen. In der SZ erklärt Gustav Seibt, warum es falsch gewesen wäre, massiv auf "Herdenimmunität" zu setzen. In der FAZ protestieren die Rechtsprofessoren Klaus Ferdinand Gärditz und Florian Meinel  heftig gegen das neue Infektionsschutzgesetz, das zentrale Normen der Verfassung außer Kraft setze.

Drakonisch durchgesetzt

25.03.2020. Auch heute steht alles im Zeichen der Corona-Krise. Netzpolitik prüft, wie die sozialen Netze gegen Desinformation vorgehen. In der NZZ denkt Hans Ulrich Gumbrecht über die Solidarität der Jungen mit den Alten nach - und ihren Preis. Der Medizin-Infodienst Statnews berichtet über eine Initiative Costa Ricas für einen Rechte-Pool, der überteuerte Patente bei der Corona-Forschung verhindern soll. Zu melden gibt es auch etwas Positives: Beim Hackathon am vergangenen Wochenende stellten 27.000 Freiwillige fast 1.500 Projekte auf die Beine, um die Folgen der Corona-Krise abzufedern.

Das ruft nach Shakespeare'schen Adjektiven

24.03.2020. In HVG appelliert ein fast verzweifelter Gáspár Miklós Tamás an die Vernunft der ungarischen Politiker - in dem Moment, in dem Viktor Orban mit dem Vorwand der Corona-Krise das Parlament abschalten will. Die Demokratien müssen jetzt entscheiden zwischen  "totalitärer Überwachung und republikanischer Ermächtigung der Bürger", schreibt Yuval Noah Harari in der NZZ. Anne Applebaum fürchtet, dass die Regierungen sich jetzt Kompetenzen aneignen, die sie nachher nicht aufgeben wollen. Und schuld daran ist der Kapitalismus, der jetzt gezähmt gehört, ruft Eva Illouz in der SZ.

Zwischen Panik und Leichtsinn

23.03.2020. Hochkonjunktur für Apokalyptiker! in der Welt sieht  Byung-Chul Han Europa nur noch straucheln. Droht bald Überwachung wie in China? Aber die Pandemie ist auch von China ausgegangen, und, Ironie der Geschichte, verdankt sich dem Aberglauben der Chinesen an die Heilkraft der Pangolin-Schuppen. Die taz  zitiert eine Studie von Nature, die die Pangolin-These erhärtet. In der SZ fordern der Evolutionsbiologe Jared Diamond und der Virologe Nathan Wolfe ein Ende des Handels mit Wildtieren. Wer die Ausnahmesituation mit einer Diktatur vergleicht, ist verhältnisblöd, antwortet Philosoph Georg Kohler in der NZZ seinem Kollegen Giorgio Agamben.

Exzellent erkannt

21.03.2020. Kann sein, dass Giorgio Agamben ein Hysteriker ist, meint Nora Bossong auf ZeitOnline, aber wir müssen über Freiheit reden. Vor allem weil der Unterschied zwischen Ausnahmezustand und Normalität rein rechtlich erschreckend klein ist, wie Uwe Volkmann auf dem Verfassungsblog bemerkt. In der taz berichtet Francesca Borri von den Verheerungen in der Kleinstadt Alzano Lombardo und Mike Davis geißelt die auf Profit getrimmten Gesundheitssysteme, Und die erste Patientin in den USA bekam ihre Rechnung über 34.927,43 Dollar.

Schnell noch eine neue Pistole

20.03.2020. Das Coronavirus wird den Nationalismus verstärken, meint Ivan Krastev in Zeit online, und auch den Autoritarismus chinesischer Prägung. "Europa ist zu einem Raum des Misstrauens und gegenseitiger Schuldzuweisungen geworden", schreibt Daniel Brössler in der SZ. Gianna Nannini beschreibt in der Welt die verzweifelte Lage in den italienischen Krankenhäusern. Zeit online fragt, wie sich die sozialen Netze gegen Desinformation wehren. Die Welt erzählt die Geschichte der "Reichsbürger", die viele ihrer Ideen Horst Mahler verdanken.

Neue Normalität

19.03.2020. Notmaßnahmen sind in der Corona-Krise notwendig. Aber sie sollten provisorisch bleiben, warnt Soziologe Richard Sennett im Tagesspiegel - die Krise darf nicht zum Ausbau von Machtpositionen genutzt werden. In vielen Branchen, auch in der Kultur wird deutlich, wie existenziell die Corona-Krise auch wirtschaftlich ist - die Zeitungen berichten ausführlich. Zugleich ist die Corona-Krise auch ein Krieg der Propaganda gegen die Information. Während China investigative Journalisten ausweist, wehren sich chinesische Internetnutzer mit subversiven Tricks.

Diskurs und Realität

18.03.2020. China weist die Reporter der New York Times, der Washington Post und des Wall Street Journal aus - die Zeitungen protestieren. Auch wenn die Bundesregierung es gerne wollte: Auch in Zeiten des Cornoavirus können die Medien nicht ihr Sprachrohr sein, warnt Übermedien. Einen hat das Virus wenigstens schon hingerafft, freut sich Heinz Bude in der Berliner Zeitung, und das ist der Neoliberalismus. Epidemien machen nicht unbedingt frommer, bemerkt der Historiker Volker Reinhardt in der NZZ. In geschichtedergegenwart.ch untersucht die Slawistin Sylvia Sasse die Metapher der "Ansteckung" bei Tolstoi, Agamben und Zizek. Und wenigstens ein Politiker fordert im Tagesspiegel Solidarität mit Italien.

Bedürfnis nach Panik

17.03.2020. Die Corona-Krise offenbart Anne Applebaum in Atlantic einige unheimliche Wahrheiten über die amerikanische Demokratie. In der Welt warnt Ralf Fücks davor, die jetzigen Notstandsmaßnahmen auf eine künftige Klimapolitik übertragen zu wollen. In der SZ fühlt sich René Schlott durch die Verordnungen an das Drehbuch einer rechtspopulistischen Machtübernahme erinnert. Die FR prangert das Versagen der UNO im Syrienkrieg an.

Es ist ein Probelauf

16.03.2020. Was wird in der Corona-Krise aus Europa, fragt die taz: "Die Pandemie zeigt, wie fragil die Europäische Union ist." In Zeit online erklärt der Mailänder Virologe Roberto Burioni, was "Superspreader" sind: Leute, die gut vernetzt sind. Für Noël Mamère in Le Monde ist das Virus die Rache der bedrängten Wildnis. Im Standard fragt die Kulturvirologin Susanne Ristow: Wie weit kann man gehen, wenn es um die Reglementierung der Zivilgesellschaft geht?  Es gibt noch andere Themen: Die FAZ guckt zu, wie Labour in der "Woke Culture" untergeht. Und die FAZ bringt László F. Földényis Leipziger Rede: ein Lob der Melancholie.

Mit hohem Fieber

14.03.2020. Die Corona-Krise ist überall. Wir bieten ohne Anspruch auf Vollständigkeit eine Presseschau aus Schlaglichtern: Und darin das Erfreuliche zuerst. In China und Korea sinkt die Zahl der Neuinfizierten. Der Tagesspiegel erklärt außerdem, warum es eine Sensation ist, dass es in Taiwan so gut wie keine Infizierten gibt - und warum praktisch niemand darüber spricht. Irgendwie auch wichtig: Der Perlentaucher wird 20. In der Welt singen Anja Seeliger und Thierry ein Lob des deutschen Feuilletons.

Wahn und Wirklichkeit

13.03.2020. Donald Trump bekämpft ein "ausländisches Virus".  Der Guardian ist nicht überrascht. Slavoj Zizek hofft in der Welt, dass sich der Kommunismus dank Corona  doch noch durchsetzt. Der Rowohlt Verlag veröffentlicht Woody Allens Memoiren - begeistert klingt das Statement des Nochverlegers Florian Illies dazu nicht gerade. hpd.de hat herausgefunden: Der Rundfunkrat des Bayerischen Rundfunks ist zu hundert Prozent christlich. Und die FAZ skizziert die Reaktion der russischen Intelligenz auf Putin Lebenslang.

Hass hält warm

12.03.2020. Die Debatte um die Frage, ob Rowohlt Woody Allen publizieren soll, geht weiter. Die Zeit bringt ein Pro und Contra mit Texten von Kathrin Passig und Daniel Kehlmann. Pascal Bruckner findet in Le Point, dass die Kritik an Roman Polanski die Grenze zum Antisemitismus überschritten hat. Die Corona-Krise hat Italien auf paradoxe Weise vereint, beobachtet Thomas Schmid in der Welt. Die NZZ berichtet über Gewalt gegen Frauen in der Türkei.

Universal, unteilbar und unverhandelbar

11.03.2020. "China hat die Herausforderung des Virus gewonnen. Und ist der neue Herr der Welt", schreibt Roberto Arditti bei huffpo.it. Und der Sieg Chinas werde ein kultureller sein. FAZ und SZ werfen neue Schlaglichter auf das geplante Deutsche Institut für Fotografie in NRW, das möglicher Weise kein reines Gursky-Reparatur-Institut wird. Die taz erzählt, wie der in Berlin lebende oppositionelle Blogger Bui Thanh Hieu von Vietnam mundtot gemacht wird. Es ist Zeit, das Internet als ein "Common" zu verteidigen, fordert Thierry Chervel in einem Essay zu 20 Jahren Perlentaucher.

Auf stumm geschaltet

10.03.2020. Die FAZ rät den Frankfurter Bühnen, klug zu improvisieren, statt gleich alles abzureißen. Der Aufruf von Rowohlt-AutorInnen, Woody Allens Memoiren nicht zu veröffentlichen, stößt weithin auf Ablehnung. Die Financial Times erklärt anhand von Laschet, Röttgen & Merz, wie Elitenbildung in Deutschland funktioniert - auch Burschenschaften können da heute noch helfen. Die Coronakrise wird den chinesischen Staatsführer Xi Jinping nicht zu Fall bringen, meint in der NZZ die Sinologin Simona Grano. Die taz fragt: Und was ist mit Tibet?

Am Ende erhalte ich Machtpolitik

09.03.2020. 54books bringt den Protestbrief von Rowohlt-AutorInnen gegen den Plan des Verlags, Woody Allens Memoiren zu veröffentlichen. Es gebe keinen Grund an den Aussagen von Woody Allens Tochter Dylan Farrow zu zweifeln. Das sieht Jo Glanville von Index on Censorship im Guardian völlig anders. Bei Cicero kritisiert Necla Kelek die Thesen der Autorin Kübra Gümüsay über Diskriminierung in Deutschland. In der NZZ bedauert der Philosoph Peter Strasser die Uniformierung der akademischen Sprache.

Eine Überdosis Weltgeschehen

07.03.2020. Zum 8. März gibt es natürlich eine Frauentaz, diesmal zur ökonomischen Situation. In der Welt fragt Jagoda Marinic nach den Erfolgen des derzeitigen Glamour-Feminismus. Außerdem erklärt László Földényi in der taz, dass die Ungarn Schmerz und Verlust kennen, aber keine melancholische Nation sind. Die SZ fürchtet, dass mit der wirtschaftlichen Globalisierung auch die politischen Institutionen des Multilateralismus an Rückhalt verlieren. In der FR fürchtet Bernhard Pörksen, dass Intoleranz und Agitation die gesellschaftliche Mitte in die Diskursresignation treibt.

Realitätstest

06.03.2020. Die taz lässt Trauernde von Hanau zu Wort kommen, die kritisieren, dass sie nicht als Deutsche wahrgenommen werden. Welt-Autor Thomas Schmid graut's vor dem "ranzigen Avantgarde-Anspruch" einiger Linkspartei-Politiker, will aber ihre demokratische Gesinnung nicht in Frage stellen. Die Gewaltexzesse des "Hindu-Mobs" in Delhi gegen Muslime sind eine direkte Frucht des Hindu-Nationalismus, konstatiert die SZ. Die neue amerikanische Linke ist paradox: Religiöse Zugehörigkeit sehe sie als unveränderliches Merkmal einer Person, während sie Gender als fluid sehe, beobachtet die Ex-Muslimin Sarah Haider in hpd.de.

Volles Beobachtungsobjekt

05.03.2020. Eine historische Wende? Die CDU Thüringen wird nun faktisch einen Ministerpräsidenten der Linkspartei tolerieren. Gut so, findet die taz. Aber die Linkspartei ist trotzdem nicht in der Demokratie angekommen, fürchtet Henryk Broder in der Welt. In der Financial Times benennt George Soros den Verantwortlichen für die Flüchtlingskrise: Wladimir Putin, und fordert, dass Europa sich in diesem Punkt mit Erdogan solidarisiert.

Faktisch gibt es also einen Notausschalter

04.03.2020. In der NZZ hält der Historiker und Extremismusforscher Eckhard Jesse überhaupt nichts davon, die Hufeisentheorie zu beerdigen. Für die Ostdeutschen wäre eine Verfassung für ganz Deutschland nach 1989 mental und kulturell das Zeichen für einen gemeinsamen Neubeginn gewesen, meint Ilko-Sascha Kowalczuk in der SZ.  hpd.de hat gute Nachrichten für die Katholische Kirche: Sie hat dicke genug Geld, um Entschädigungen an Opfer sexuellen Missbrauchs zu zahlen. Und das Berliner Kulturleben geht weiter wie gewohnt, auch wenn Spucke fliegt!

Groteske Versuche einer Rehabilitierung

03.03.2020. In der SZ fordert Stefan Kornelius ein europäisches Eingreifen im Syrien-Konflikt. Im Spiegel wundert sich Christoph Reuter über unterschiedliche Grade der Aufregung über Flüchtlinge einerseits und Idlib andererseits. hpd.de fasst die entsetzten Reaktionen von Kirchenoberen zum Sterbehilfe-Urteil des BVG zusammen. Wer leide gehe schließlich den Weg Jesu. In der FAZ erklärt Michael Hanfeld, warum sich die Zeitungen künftig einzelne Wörter lizenzieren lassen sollten.

Selbst Gigant sein

02.03.2020. Im Guardian erklärt Timothy Garton Ash, warum Europa zu einer Supermacht werden sollte (und zwar am besten inklusive Britannien).  Ben Smith, der neue Medienkolumnist der New York Times, macht sich Sorgen über den ungeheuren Appetit seines neuen Arbeitgebers. Der neue Chefredakteur der Berliner Zeitung, Matthias Thieme, ist nach ein paar Wochen schon wieder zurückgetreten, meldet Horizont. Islamverbände wie die Ahmadiyya-Sekte versuchen Kritiker auch mit juristischen Mitteln zum Schweigen zu bringen, schreibt Necla Kelek Im Gießener Anzeiger.