9punkt - Die Debattenrundschau - Archiv

Ideen

1880 Presseschau-Absätze - Seite 1 von 188

9punkt - Die Debattenrundschau vom 16.03.2024 - Ideen

Eva Illouz antwortet in einer zornigen Intervention in Le Monde auf die jüngsten Äußerungen Judith Butlers, und spricht ihr die Attribute "links" und "feministisch" endgültig ab. Im Gegenteil, eine "Schlangenölverkäuferin" sei Butler, nicht einmal mehr zu Halbwahrheiten fähig. Mit Ekel nimmt Illouz die Verklärung der Hamas-Massaker zur Kenntnis, die Butler "mit der romantischen Vokabel des Widerstands" belege und von Antisemitismus freispricht. Zwei Passagen in Illouz' Text sind besonders niederschmetternd. Die eine betrifft Butlers "Feminismus". "Was sagt uns Butler am 3. März im Blick auf die unerhörte sexuelle Gewalt, die die Israelinnen in den Händen der Hamas erlitten haben, im Blick auf die Berichte der Presse, der Juristen, der Ärzte, der NGOs, die diese Ausschreitungen dokumentiert haben, im Blick auf die Bilder einer ermordeten jungen Frau, die in Gaza einer jubelnden Menge vorgeführt wird? Sie sagt, dass sie Beweise sehen will. Und sie sagt das mit dem skeptischen Schnütchen eines Polizisten vor fünfzig Jahren, der von einer Anklage erhebenden Frau Beweise sehen will." Diese Leugnung der sexuellen Gewalt durch Butler führt Illouz dann dazu, ihr "Negationismus" - das ist der ursprüngliche französische Begriff für Holocaustleugnung - vorzuwerfen. "Wie bei den Negationisten von einst liegt ihre Strategie darin, Zweifel zu säen: über die Realität der von den Frauen erlittenen Gewalt, über die genozidalen Absichten der Hamas, über die moralische Bedeutung der Massaker - die Henker werden freigesprochen, und die Opfer unter Verdacht gestellt, ja als imaginär dargestellt. Die Tatsache, dass Butler als Jüdin und als Frau geboren wurde, sollte uns nicht zurückscheuen lassen klarzustellen, dass wir es hier mit einem doppelten Negationismus zu tun haben: das Massaker an den Frauen betreffend und die Tatsache, dass Israelis ermordet wurden, weil sie Juden waren."

Von der deutschen  Presse (und uns) bisher nicht wahrgenommen wurde ein Artikel Butlers vor ein paar Tagen in Médiapart, wo sie nach ihren Äußerungen vom 3. März zwar nicht zurückrudert, aber einen weniger triumphalen Ton anschlägt. Dennoch bleibt sie dabei:"Der Angriff auf die Hamas im Oktober kam von der bewaffneten Fraktion einer politischen Partei, die den Gazastreifen verwaltet, und ich bin weiterhin bereit, diesen Angriff als eine Form des bewaffneten Widerstands gegen die Kolonisierung und die andauernde Belagerung und Enteignung zu beschreiben. Dies läuft jedoch nicht auf eine Verherrlichung ihrer Gräueltaten hinaus." Den Antisemitismus der Taten scheint sie diesmal nicht in Frage zu stellen: "Antisemitismus und antiarabischer Rassismus müssen gleichermaßen bekämpft werden". Abschließend stellt sie "mit Traurigkeit fest, welche Anstrengungen unternommen werden, um meine Aussagen und meine Arbeit zu verzerren und zu karikieren".

Richard Herzinger beobachtet in der NZZ "eine Tradition der Unterschätzung totalitärer Aggressoren, angesichts deren sich die Frage stellt, ob es einen strukturellen Hang von Demokratien zum Appeasement gibt. Nicht nur gegenüber Putin, auch gegenüber dem Iran und seinen Proxies in Israel falle der Westen in in Verhaltensmuster der dreißiger Jahre zurück. In der Geschichte gab es diese Beschwichtigung sowohl gegenüber dem Nationalsozialismus wie auch gegenüber Kommunismus. Einer von mehreren Faktoren dabei ist paradoxer Weise jener Kapitalismus, ohne den Demokratien nicht leben können: "Die Priorisierung des kurzfristigen ökonomischen Vorteils vor vermeintlich 'weltfremder' demokratischer Moral zieht häufig einen Werterelativismus nach sich, der postuliert, man dürfe nichtwestlichen Kulturen nicht "unsere" normativen Maßstäbe 'aufzwingen'. Dieses scheinbar von Respekt vor kultureller Vielfalt zeugende Argument wird gerne von Wirtschaftsführern vorgeschoben, wenn es ihnen in Wahrheit um ungehinderte Geschäftsbeziehungen mit Despotien geht."

Außerdem: In der taz spricht Harald Welzer mit Nisa Eren über die Relevanz der Kategorien "Ost" und "West".

9punkt - Die Debattenrundschau vom 15.03.2024 - Ideen

Buch in der Debatte

Bestellen Sie bei eichendorff21!
In ihrem gerade erschienenen Buch "Die vulnerable Gesellschaft" diagnostizert die Kölner Rechtsprofessorin Frauke Rostalski eine Ethik der Verletzlichkeit, die dazu führe, dass sich Bürger zunehmend hinter dem Staat verstecken. (Unser Resümee) Die zunehmende Vulnerabilität habe auch mit Diskursverrohung zu tun, sagt sie im Welt-Gespräch: "Zum Thema Diskursverrohung habe ich in meinem Buch etwa den Ukraine-Krieg herangezogen. Relativ früh zu Beginn des Kriegs hatten einige Intellektuelle und Prominente vorgetragen, dass man vielleicht darüber nachdenken sollte, keine schweren Waffen zu liefern. Die Reaktion darauf war kein Einstieg in eine sachliche Debatte, vielmehr folgten direkte Angriffe ad personam. Und das mitunter vonseiten der Politik und der Leitmedien." Aber: "Es gibt keine demokratiegefährdenden Diskurse, solange wir uns im Rahmen des Gesetzes bewegen. Ich empfinde es als sehr problematisch, Diskurse, Personen oder Argumente abzuschneiden, weil wir damit in die Herzkammer unserer Demokratie eingreifen. Und das ist der offene Diskurs."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 14.03.2024 - Ideen

Buch in der Debatte

Bestellen Sie bei eichendorff21!
Frauke Rostalski, 39, ist Rechtsprofessorin in Köln und Mitglied im Deutschen Ethikrat. Im Verlag C. H. Beck erscheint dieser Tage ihr Buch "Die vulnerable Gesellschaft". In einem Zeit-Essay wendet sie sich gegen eine Machtübernahme des Snowflakes - sie spricht vornehmer von Ethik der Verletzlichkeit. Menschen, die sich in erster Linie als "vulnerabel" definieren, neigten "dazu, die Lösung darin zu suchen, dass nicht sie selbst, sondern andere für sie die Risikoabwehr übernehmen. Damit die besonders effektiv ausfällt, spricht vieles dafür, direkt den Staat in die Bresche springen zu lassen, ihm die Aufgabe zuzuordnen, sich schützend vor seine Bürger zu stellen, sie vor Risiken weitestgehend zu bewahren. Die vulnerable Gesellschaft erweist sich vor diesem Hintergrund als besonders risikoavers und dabei zugleich als besonders offen gegenüber staatlicher Regulierung zum Schutz der einzelnen Bürger."

Was Judith Butler betreibt, ist eine Auslöschung der Differenzen im Namen der Fluidität, kritisiert Jan Feddersen in der taz. Ohne mit der Wimper zu zucken stellt sie darum Fakten, etwa die Geschlechterdifferenz oder auch schlicht die Vergewaltigung israelischer Frauen in Frage, aber es geht auch um andere Differenzen, etwa den Klassengegensatz, so Feddersen: "Es ist insofern kein Wunder, dass Judith Butlers (und mit ihr die vieler anderer Theoretikerinnen*) wachsende Popularität in Academia mit dem Niedergang des Sozialismus, besser: mit der Abwicklung marxistischer Denkweisen an den westlichen Universitäten zu tun hat. In linken Denkschulen ging es um Interessen, um Kämpfe - nicht um Identitäten, es ging schlicht um Klassenkämpfe, nicht jedoch ums Ringen günstigerer Performanzchancen für Mittelschichtskinder."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 13.03.2024 - Ideen

Man kann selbstverständlich über den Gazakrieg diskutieren, aber das setzt voraus, dass der 7. Oktober als Verbrechen anerkannt wird, fordert Laura Cazés, die sich in der Jüdischen Allgemeinen mit Judith Butlers jüngstem Vortrag zum Thema auseinandersetzt. Butler hatte behauptet, der Hamas-Überfall am 7. Oktober sein kein Terrorakt, sondern legitimer Widerstand gegen die israelische Besatzung gewesen. Butler postuliere "eine Perspektive, die Gewalt zu einem theoretischen Konstrukt reduziert und das Erleben der Opfer ausklammert. Genau an dieser Schnittstelle findet das entmenschlichende Motiv der antisemitischen Vernichtungssehnsucht seine Anknüpfung. Wo Juden zur abstrakten Hülle werden, werden die Auswirkungen antisemitischer Gewalt - sogar dann, wenn sie eine genozidale Dimension annehmen - zu einer vernachlässigbaren Variable in einer Gleichung, die (so pervers das auch klingt) am anderen Ende nicht ohne die Juden als Verursacher auskommt." Dass Butler in Paris ausdrücklich "as a Jew" sprach - was sie sonst nie tut - macht die Sache auch nicht überzeugender für Cazés: Man kann auch als Jude antisemitische Positionen vertreten, meint sie. Übrigens könne man durchaus für das Existenzrecht Israels sein und gegen die Hamas und sich trotzdem mit der palästinensischen Zivilbevölkerung solidarisieren, dies setzt nur "die Fähigkeit [voraus], Gleichzeitigkeiten zu verstehen und auszuhalten". Die Butler-Interventionen kann man hier inzwischen wieder in Gänze hören.

9punkt - Die Debattenrundschau vom 12.03.2024 - Ideen

In der Welt kritisiert die Autorin Christine Brinck den erblichen Flüchtlingsstatus vieler Palästinenser. Ihre Zahl ist seit 1949 von 750.000 auf 5,7 Millionen heute angewachsen, obwohl die meisten von ihnen nie geflohen sind. Ihr Flüchtlingsstatus verhindert jede Entwicklung, meint Brinck und vergleicht die Situation mit Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg: "Ich war mal Flüchtling, wie meine Vorfahren, aber für mich war, wie für die meisten, dieser Status eine Durchgangsstation. Millionen wollen vorwärts- und weiterkommen, dazugehören. Ohne die Erinnerung an die verlorene Heimat zu verweigern, wird ihnen mit jedem neuen Tag klarer, dass sie nicht zum Sehnsuchtsort taugt. Die Millionen wollten so schnell wie möglich die Selbstbestimmtheit erlangen. Lager schaffen Pathologien, es fehlen das Private, die Verantwortung und das Eigene. 75 Jahre Flüchtlings-Kultur wie bei den Palästinensern sind ungesund und unmenschlich. Das Leben stagniert, die Kinder fallen zurück. No future. Vergangenheit ist Selbstblockade."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 11.03.2024 - Ideen

Die amerikanischen Politologen William J. Dobson und Christopher Walker erklären in einem ganzseitigen Essay für die "Gegenwart"-Seite der FAZ, was sie unter "scharfer Macht" (sharp power) verstehen, Techniken der Einflussnahme von Autokratien, um Demokratien zu unterminieren. Die Demokratien hätten ihre Stärke - Transparenz und Meinungsfreiheit - bei weitem nicht entschieden genug verteidigt. "Weil die Demokratien die Augen vor den korrupten Praktiken autoritärer Regime verschlossen, Selbstzensur übten oder den diktatorischen Machthabern erlaubten, die Bedingungen der Zusammenarbeit zu diktieren, verloren sie und ihre zentralen Institutionen an Boden. So öffneten sich Universitäten in offenen Gesellschaften viel zu bereitwillig den von staatlicher Seite getragenen Konfuzius-Instituten zur Förderung der chinesischen Kultur und Sprache oder ließen auf andere Weise zu, dass autoritär gelenkte Initiativen die akademische Integrität untergraben konnten."

Antisemitismus kann gar nicht links sein, sondern war immer rechts, "das wissen wir aus der Geschichte, aus dem Geschichtsunterricht", erklärt allen Ernstes der Antisemitismus-Forscher Wolfgang Benz im FR-Interview mit Michael Hesse. "Die Linke ist ideologisch an sich nicht antisemitisch, weder in der religiösen Spielart des Antijudaismus noch in der rassistischen des Antisemitismus. Wenn man generell gegen Juden Stellung bezieht, ist das Antisemitismus. Mir ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass die unbedingte, einseitige und völlig unhinterfragte Parteinahme für oder gegen die eine oder die andere Seite das Problem darstellt."

Im Standard-Interview mit Oliver Geyer spricht Alexander Kluge, der vor Kurzem mit Stefan Aust das Buch "Befreit die Tatsachen von der menschlichen Gleichgültigkeit" herausgebracht hat, darüber, wie man der drohenden Gefahr durch die AfD besser begegnen solle. "Wenn ich das Erstarken der AfD betrachte, dann muss ich zurückgehen in das Jahr 1929. Da hätte man den Hitler verhindern können. 20.000 Lehrer und Lehrerinnen in der Erwachsenenbildung hätten den Mann (...) das Handwerk legen können. Dann hätten wir 1945 nicht im Keller sitzen müssen. Auch heute können wir uns um das kümmern, was 2032 nicht passieren soll." Konkreter wird er leider nicht.

9punkt - Die Debattenrundschau vom 09.03.2024 - Ideen

Die postmoderne Philosophie glaubt, dass die Welt durch Sprache konstruiert wird. Judith Butlers Äußerungen zum 7. Oktober und ihre tendenzielle Leugnung des Antisemitismus und der sexuellen Gewalt bei den Hamas-Pogromen ist für Andreas Rosenfelder in der Welt so etwas wie der Super-GAU dieses Glaubens: "Auch wenn Judith Butlers Pariser Auftritt fassungslos macht, folgt er doch einer inneren Logik. Wer nur noch die 'strukturelle Gewalt' der Sprache in den Blick nimmt und sich besessen an der symbolischen Ordnung abarbeitet, der wird irgendwann blind für die reale, physische, ereignishafte Gewalt. So ist es fast schon wieder konsequent, dass Butler den Terror als 'Widerstand' bezeichnet und somit einen Lieblingsbegriff der postmodernen linken Zeichentheorie auf das Morden überträgt."

Für den Autor Leander Scholz sind die Resakralisierung der Hagia Sophia durch Erdogan und die Restitution von geraubter Kolonialkunst an die Ursprungsländer Ausdruck eines selben Phänomens, wie er in der NZZ darlegt: "Die Restitution der Gegenstände folgt dabei nicht nur dem Grundsatz, dass unrechtmäßig Erworbenes zurückgeführt werden muss. Es geht darüber hinaus auch darum, dass bedeutende Kulturgüter wieder den angestammten Platz in ihrer Herkunftsgesellschaft einnehmen sollen. Dem liegt die Vorstellung von intakten und integralen Kulturen zugrunde. Auch wenn es für die Rückgabe kolonialer Gegenstände ethische Motive gibt, gehört dieser Prozess der Wiederherstellung ebenso dem tiefgreifenden kulturellen Wandel an, der die erneute Umwidmung der Hagia Sophia in eine Moschee bestimmt hat. In diesem Wandel bereitet sich eine neue Weltordnung vor."
Stichwörter: Butler, Judith, 7. Oktober

9punkt - Die Debattenrundschau vom 08.03.2024 - Ideen

Wer dachte, Judith Butler hätte den absoluten Tiefpunkt der Debatte erreicht mit ihrer Behauptung, die Hamas-Massaker am 7. Oktober an israelischen Zivilisten seien ein Akt des Widerstands gewesen (unser Resümee), hat sich getäuscht. In ihrem Pariser Vortrag bezweifelte sie auch, dass Vergewaltigungen stattgefunden hätten: Dafür wolle sie erst mal die Beweise sehen. (Die UNO hat lange gebraucht, "berechtigten Grund für die Annahme" zu finden, dass sexuelle Gewalt stattgefunden hat, sie hat inzwischen aber einen entsprechenden Report veröffentlicht, eine Zusammenfassung finden Sie hier). Butler erklärte nun bei ihrem Auftritt: "Whether or not there is documentation for the claims made about the rape of Israeli women (*sie verzieht das Gesicht*), OK, if there is documentation then we deplore that, but we want to see that documentation and we want to know that it is right." Ein Incel, der einen Vergewaltigungsvorwurf bestreitet, hätte das genauso formuliert.


Auch dies ist eigentlich nichts, was man am Weltfrauentag lesen will, aber leider Realität: Eva Ladipo überlegt in der FAZ, welchen Anteil Frauen (Alice Weidel, Marine LePen, Giorgia Meloni, Isabel Diaz Ayuso, Riikka Purra, Suella Braverman und Priti Patel, Nikki Haley) am Höhenflug des rechten Populismus haben: "Ausländerfeindliche Politik, gespickt mit Ressentiments gegen vermeintliche Eliten, hat einen immensen Aufschwung erfahren, seit sie keine reine Männerdomäne mehr ist und nur von glatzköpfigen Kerlen mit Springerstiefeln vertreten wird." Ihre Wut und Ressentiments verkleiden diese Politikerinnen gerne als Sorge um ihre Kinder, so Lapido, was sie sympathischer wirken lässt. Und weil Frauen eh so emotional sind, können sie gern auch mal für (wenn es gegen Migranten geht), mal gegen den Feminismus sein (wenn es gegen LGBTQ-Rechte geht). "So gesehen besitzen rechte Politikerinnen größere Bein- und Bewegungsfreiheit als ihre männlichen Kollegen. Sie geraten weniger schnell in Verruf und können sich Widersprüche leisten. Ihre wachsende Anhängerschaft scheint nicht zu stören, dass weder die lesbisch lebende Alice Weidel noch die zweimal geschiedene Marine Le Pen oder die alleinerziehende Giorgia Meloni das traditionelle Familienbild leben, das sie hochhalten. Der Vorwurf der Heuchelei kann Donald Trumps Schwestern im Geiste nichts anhaben. Im Gegenteil: Je widersprüchlicher ihre Positionen, desto menschlicher und wählbarer wirken sie."

In Geschichte der Gegenwart denkt der Literaturwissenschaftler Robert Stockhammer über die juristische Bedeutung des Wortes "Genozid" nach. "Als jemand, der sich, ohne ausgebildeter Jurist zu sein, seit über zwanzig Jahren mit Verwendungen des Genozid-Wortes beschäftigt, tendierte ich bis vor wenigen Wochen zum resignativen Ergebnis, dessen juristische Bestimmung sei zunehmend unklarer geworden und seine implizite politische Funktion habe sich entleert. Einige Etappen, die mich dazu geführt haben, seien hier kurz rekapituliert." Das tut Stockhammer dann auch und hofft am Ende, dass die Klage Südafrikas gegen Israel vor dem IGH wieder etwas mehr Klarheit bringt.

Der "Global Assembly", die ihre Veranstaltung aus Sorge als antisemitisch gebrandmarkt zu werden, abgesagt hatte, hat offenbar die Courage gefehlt (unser Resümee), meint der Historiker Moshe Zuckermann in der FR. Aber gab es überhaupt Vorwürfe gegen die Veranstaltung? Für Zuckermann jedenfalls ist auch so klar, dass sich Martin Walsers "Auschwitz-Keule" inzwischen bewahrheitet, da "sich der Antisemitismus-Vorwurf im öffentlichen Diskurs Deutschlands immer mehr verdinglicht hat und mittlerweile zum regelrechten Fetisch der ihn Erhebenden geronnen ist… Mit Antisemitismusbekämpfung hat dieses Diktum längst nichts mehr zu tun, mit der zynischen Maulkorb-Taktik der sich in ihrer Rolle offenbar sehr gefallenden 'Antisemiten'-Jäger dafür umso mehr."

Im FR-Gespräch mit Michael Hesse betont die Philosophin Kristina Engelhard die Aktualität von Kant: "Kant ist der Meinung, dass es unsere Aufgabe als Menschen ist, unsere Vermögen zu entwickeln, also einen höheren kulturellen Status zu erreichen, gerade indem wir in der Lage sind, von unseren individuellen Neigungen abzusehen. Was er als Kultivierung bezeichnet, sieht er als einen fortschreitenden Prozess. Ein wichtiger Auftrag, besonders wenn man die zahlreichen Krisen unserer Gegenwart betrachtet. Wir leben in einer Zeit, in der die negativen Seiten des Partikularismus offensichtlich sind, beispielsweise in zunehmenden internationalen Konflikten und Umweltkrisen, die ihren Ursprung in Partikularinteressen haben. Daher ist Kants Auftrag, von den eigenen Interessen zu abstrahieren und stattdessen unsere Fähigkeiten als handelnde Subjekte in den Blick zu nehmen, d. h. uns bewusst zu werden, dass wir fähig sind, vernünftig, auf der Grundlage unseres sichersten Wissens und unter der Maßgabe von Moralität und Freiheit zu handeln, von unschätzbarem Wert."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 07.03.2024 - Ideen

"Butler spuckt auf Gräber, über die sie vorschlägt, ein Seminar zu Wertungsgesichtspunkten bei Abschlachtungen abzuhalten", antwortet ein zorniger FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube auf Judith Butlers Behauptung, die Pogrome der Hamas seien kein Terror und auch nicht antisemitisch gemeint. Vielmehr versteht sie den Blutkarneval als "Widerstand" (unser Resümee): "Die Eltern der toten Kinder und die Kinder der toten Großeltern werden ihr für diese Unterscheidung danken. Judith Butler will sie wie uns erkennbar für dumm verkaufen. Denn sie weiß ja, dass am 7. Oktober am Rande des Gazastreifens auch Nicht-Israelis massakriert worden sind. Sie weiß, dass unter den Toten Kleinkinder waren und Jugendliche, die mit dem Staat Israel zu identifizieren das Abstraktionsvermögen von Killern erfordert. Der Überfall auf sie war weder eine militärische Operation, noch galt sie staatlichen Zielen. Es ging um ein Blutbad in der Bevölkerung."

Ähnlich sieht es Jan Feddersen in der taz. Butlers Verklärungen der Hamas seien zwar nichts Neues. Markant sei aber unter anderem folgender Umstand: "Dass Butler sich explizit auch politisch argumentierend versteht und dabei (empirisch blind) verkennt, dass der 7. Oktober kein Hamas-Angriff auf israelische Militärs war, sondern ein Schlachten und Morden an Wehrlosen (sehr oft: Teilen der israelischen Friedensbewegung). Die Hamas-Marodeure zeigten sich nicht in Gefolgschaft Mandelas und Gandhis, sondern in der Tradition der SS in Osteuropa."

Es sei richtig, Judith Butlers Aussage über den "bewaffneten Widerstand" der Hamas zu verurteilen - und trotzdem: "Die Feststellung, dass dem 7. Oktober andere Gewalt vorangegangen ist, ist so banal wie richtig", meint Nils Markwardt auf Zeit Online. Das Leid von Juden anzuerkennen, sei auch wichtig: "Aber wenn Debatte kein ideologischer Teamsport sein soll, muss im Gegenzug auch das Leid der Palästinenser anerkannt werden. Oder konkreter gesagt: Es ist skandalös, wenn - wie etwa im Zuge der Abschlussveranstaltung der Berlinale - manchen Leuten die über 1.000 am 7. Oktober getöteten oder in Geiselhaft genommenen Israelis kein Wort wert sind. Doch ebenso skandalös ist es, wenn anderen wiederum die mittlerweile über 30.000 toten Palästinenser im Gazastreifen offenbar lediglich wie ein unvermeidbarer Kollateralschaden des israelischen Rechts auf Selbstverteidigung nach einem Terrorangriff erscheinen."

Warum verteidigt die "berühmteste linke Denkerin der Gegenwart" eine Terror-Organisation wie die Hamas, fragt sich Jens-Christian Rabe in der SZ. "Butler ist der Ansicht, dass die Deutung und Verurteilung der Ereignisse am 7. Oktober als antisemitischer Terror jede Diskussion über die 'politische und gewaltsame Struktur, aus der der Aufstand hervorging' sofort unmöglich mache. Dies erscheint allerdings, auch das ist Teil des Bildes, nicht nur auf der postkolonialen Linken längst viel mehr Menschen plausibel, als einer vernünftigen Diskussion zu wünschen ist."

In Frankreich gibt es übrigens, trotz der kommentarlosen Absage von Vorträgen in der Ecole Normale Supérieure, so gut wie keine Reaktionen der größeren Medien. Nur die trotzkistische Postille Révolution permanente zitiert einige Tweets rechter Politiker und solidarisiert sich mit Butler. "Die Angriffe auf Judith Butler sind Teil der Kriminalisierung des Ausdrucks der Solidarität mit Palästina und mit dem Kampf des palästinensischen Volkes."


In der Frankfurter Paulskirche sollte eine "Global Assembly" stattfinden und sich mit postkolonialen Fragen befassen. Sie wurde sozusagen in vorauseilender Unterwerfung abgesagt, weil man fürchtete, sowieso als antisemitisch gebrandmarkt zu werden. Hier das Statement der Veranstalter. Thomas Thiel bekennt in der FAZ seine Befremdung: "Ein Vorwurf ist keine Zensur, man kann ihm mit Argumenten begegnen."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 06.03.2024 - Ideen

Schwerpunkt Judith Butler

Die Hamas-Pogrome vom 7. Oktober waren nicht antisemitisch, und sie waren auch kein Terrorismus, sondern bewaffneter Widerstand, sagt Judith Butler in diesem Video, das in Paris aufgenommen wurde - bei Twitter ist der Aufruhr riesig.


Bei Unherd hat Laurel Duggan Butlers Äußerungen dankenswerter Weise bereits resümiert: "Butler sagte bei einer Diskussionsveranstaltung in Frankreich, die vom Videopodcast 'Paroles d'Honneur' veranstaltet wurde, dass die Angriffe 'erschütternd' und 'schrecklich' seien, aber dennoch einen 'bewaffneten Widerstand' gegen staatliche Gewalt darstellten und als solcher behandelt werden sollten. Sie sagte auch, man könne darüber diskutieren, ob die Angriffe der Hamas richtig gewesen seien. 'Wir können unterschiedliche Ansichten über die Hamas als politische Partei haben. Wir können unterschiedliche Ansichten über den bewaffneten Widerstand haben', so Butler. 'Aber ich denke, es ist ehrlicher und historisch korrekter zu sagen, dass der Aufstand vom 7. Oktober ein Akt des bewaffneten Widerstands war. Es handelt sich nicht um einen terroristischen Angriff und auch nicht um einen antisemitischen Angriff', sagte sie. 'Es war ein Angriff gegen Israelis.'"

Die Meldungen sind alle recht neu, aber offenbar haben Butlers Äußerungen in Frankreich bereits für Ärger gesorgt. Die Ecole Normale Supériere, eine der berühmtesten "großen Schulen" des Landes, hat einen Vortrag von Butler abgesagt:

Judith Butler sollte in der ENS ausgerechnet über "Trauer" sprechen, heißt es in der Ankündigung ihres Vortrags auf der Seite der Hochschule: "Für Judith Butler ist es notwendig, mit dem Anthropozentrismus zu brechen und die Interdependenz aller Lebewesen zu betonen. Es geht ihr darum, ihre Analysen zur 'Beweinbarkeit' von Leben zu verdeutlichen und zu erweitern, um nicht nur Lebewesen und Lebensprozesse zu umfassen, die bereits verloren, sondern auch solche, die noch am Leben sind."

Butler ist zur Zeit eine Art "Intellectual in Residence" beim Centre Pompidou (mehr hier). In der Ecole Normale Supériere war sie zu einer Vortragsreihe eingeladen. Einen Vortrag hat sie bereits im Februar gehalten, die für gestern und nächste Woche geplanten Vorträge sind wie gesagt "verschoben". Butlers Video entstand am Sonntag bei einer Veranstaltung einer linken Migranten- (oder "Indigenen"-) Organisation, berichtet Paul Sugy im Figaro. Auf der Seite der Organisation ist das Butler-Video in ganzer Länge allerdings inzwischen verschwunden.

Auf Twitter hat Butler bereits prominente Fürsprecher gefunden. FAZ-Redakteur Patrick Bahners schreibt: "Sie bleibt konsequent in einem politischen Realismus, der ethischen Streit ermöglicht und nicht vorab für gegenstandslos erklärt. Sie ist eben eine Philosophin." Und weiter: Es gehe ihr "um einen realistischen politischen Begriff, der den Disput über die Legitimität der Mittel eröffnet und nicht als vorab entschieden ausgibt." Die Autorin Mithu Sanyal twittert: "Wo ist der Unterschied zwischen bewaffnetem Widerstand und Terrorismus? Ich dachte das sind Synonyme nur von unterschiedlichen Seiten... auch Nelson Mandela wurde vom Westen lange als Terrorist bezeichnet."

====================

Eine "fröhliche Hexenjagd auf Andersdenkende" wirft Thomas Thiel auf den Geisteswissenschaften-Seiten des FAZ Geraldine Rauch, Präsidentin der TU Berlin, vor, die den Vorwurf erhob, das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit stärke das Narrativ der Rechten. (Unser Resümee) Das Netzwerk formuliere deutliche Kritik an der AfD, auch eine pauschale Verurteilung von Migration sei nicht zu finden, so Thiel. "Rauch wirft dem Netzwerk außerdem Kritik an der Dekolonisierungsbewegung vor. Nach dem Massaker der Hamas vom 7. Oktober hatte das Netzwerk ein Schreiben verschickt, in dem es vor der Hegemonie postkolonialer Konzepte an den Universitäten warnt. Gemeint sind Konzepte wie der 'weiße Jude', das zur Verbreitung von Antisemitismus benutzt wird, oder Bestrebungen, das Rederecht nach Hautfarbe und Sprecherposition zu bemessen. Das Netzwerk erkennt darin zu Recht eine wissenschaftsfeindliche Tendenz und regt eine kritische Debatte an. Es wendet sich gegen politischen Bekenntnisdruck und identitäre Tendenzen und ausdrücklich nicht gegen postkoloniale Wissenschaft per se, sondern gegen Exzesse innerhalb des Postkolonialismus. Es muss sich aber den Vorwurf gefallen lassen, hier selbst Druck auf die Wissenschaftsfreiheit ausgeübt zu haben. Mit Rechtsextremismus hat das alles nichts zu tun."

taz-Kolumnistin Charlotte Wiedemann durfte bei einem internationalen Kolloquium über politische Macht, kollektives Gedächtnis und nachkoloniales Erinnern in Togo über ihr Buch "Den Schmerz der Anderen begreifen" sprechen. Aber Wiedemann schämte sich bald unter den Blicken der GermanistInnen aus Benin, Kamerun, der Elfenbeinküste und aus Brasilien, wie sie bekennt, vor allem nachdem der deutsche Botschafter kein Grußwort mehr halten wollte, offenbar, weil es in einem der Vorträge um den BDS ging: "Lieber eine Riege westafrikanischer Professoren brüskieren als bei irgendeinem Fuzzi in Deutschland einen Antisemitismus-Alarm auslösen - ungewollt ein luzider Beitrag zum Gegenstand der Tagung, zumal in einer ehemaligen deutschen Kolonie", schreibt sie und wirft den deutschen Feuilletons "feindselige Pauschalisierung" vor.