9punkt - Die Debattenrundschau

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.

April 2020

Vom katastrophalsten Datum ausgehen

30.04.2020. Der Guardian erzählt, wie die Idee der "Herdenimmunität" die britische Regierung zunächst in die falsche Politik trieb. In Le Monde fordern Künstler Subventionen bis zum Herbst nächsten Jahres. In der taz schreibt der Politologe und Europa-Aktivist Alberto Alemanno: "Das große Hindernis für die Fähigkeit der EU, Probleme zu lösen, sind unsere nationalen politischen Systeme." In der SZ schreiben Khaled al-Khamissi und Orhan Pamuk über den Islam und die Viren. In Spiegel online fordert Tagesspiegel-Herausgeber Sebastian Turner Subventionen für die Lokalpresse.

Können Sie die Sonne patentieren?

29.04.2020. Welt und Tagesspiegel blicken auf das deutsch-italienische Verhältnis - und vor allem auf die Taubheit der deutschen Politik und Gesellschaft für die Stimmung in Italien. In der Zeit wird über die innerdeutschen Wirkungen der Corona-Politik gestritten. In der Washington Post ist Margaret Sullivan bestürzt, dass sich die großen amerikanischen Medien auch in der Coronakrise nicht aus dem Bann Donald Trumps lösen können. Die taz erzählt von einem bitteren Krieg innerhalb der queeren  Szene  in Marokko. Und in der Türkei macht der oberste Boss der Religionsbehörde laut Deniz Yücel in der Welt die Schwulen für Corona verantwortlich.

Selbstbeweihräucherungen, etwa 600 davon

28.04.2020. In der SZ erklärt die Philosophin Eva Weber-Guskar, warum pluralistische Ansätze die besten sind, um eine Krise zu bekämpfen. In La Règle du jeu weigert sich Bernard-Henri Lévy kategorisch, dem Virus Sinn zu geben. Politico.eu  beobachtet, wie China Druck auf Europa ausübt, um seine Version der Corona-Geschichte durchzusetzen. Die NZZ fragt, warum Stalin das Gerücht von Hitlers Weiterleben verbreitete, obwohl er wusste, dass er tot ist. Die Welt fragt, ob das mit der dezentralen Corona-App wirklich so eine gute Idee war. Und im Perlentaucher schreibt Lazlo Kornitzer einen zornigen Brief an Ursula von der Leyen.

Die Disruption ist unfassbar

27.04.2020. In der FAZ benennt Jan-Werner Müller das doppelte Dilemma der amerikanischen Qualitätsmedien in Bezug auf  Trump. In Zeit online spricht die Anthropologin Shalini Randeria über globale Ungleichheiten in der Coronakrise. In China legt die Coronakrise den  Rassismus gegen Afrikaner frei, berichtet der Guardian. Agamben und Sloterdijk erleiden in ihren Äußerungen zu Corona einen "Schiffbruch mit Zuschauer", diagnostiziert die FAS.

Ist von jetzt grade

25.04.2020. Erste Lockerungen. Die Berliner drängeln sich in Parks. Endlich wieder Wegbier trinken! Unterdessen geht die Krise weiter. Die taz erzählt vom Sterben in Zeiten von Corona in Ecuador bei 34 Grad im Schatten. Le Monde recherchiert, wie Frankreich bei der Bewältigung der Krise wieder über seinen Zentralismus stolperte. Die FAZ vergleicht Sterblichkeitsstatistiken, an denen Deutschland nicht teilnimmt. Und in der NZZ attackiert Giorgio Agamben den Papst. Außerdem: Achille Mbembe ist nur Symptom für ein antirassistisches Denken, das sich keinen Begriff vom Antisemitismus machen will, schreiben Meron Mendel und Saba-Nur Cheema vom Frankfurter Anne-Frank-Zentrum in der taz.

Die Tauben sind schwach

24.04.2020. "Die Auswirkungen von Corona sind nicht banal, sondern im Guten wie im Schlechten ein Spiegelbild unserer engen Vernetzung und Abhängigkeit ", sagt der Historiker Andreas Möller in der NZZ. Die taz setzt uns anlässlich eines Prozesses gegen zwei syrische Folterknechte über das "Weltrechtsprinzip" in Kenntnis. Die Islamwissenschaftlerin Susanne Schröter nimmt in der FAZ  das Feindbild des "alten weißen Mannes" auseinander. Im Tagesspiegel schreibt die Historikerin Susanne Spahn über russische Desinformation in der Corona-Krise. Le Monde recherchiert zu den Tausenden von Toten in französischen Pflegeheimen.

Lösung in der Zustellung

23.04.2020. In der Zeit antwortet Achille Mbembe auf seine Kritiker und bleibt bei seiner Position zu Israel. Er will auch kein "Nachbeten von Katechismusartikeln ohne Überzeugung". Ebenfalls in der heute so reichhaltigen Zeit konstatiert der Psychiater Hans-Ludwig Kröber, dass das Attentat von Hanau eher als  "finaler psychotischer Amoklauf denn als ein ideologisch motivierter Terroranschlag" zu sehen sei. Und nochmals die Zeit bringt erste neue Archivfunde über Papst Pius XII. und den Holocaust. Laut Meedia wird inzwischen intensiv Über Pressesubventionen nachgedacht. Die Verleger sind dafür, fragt sich nur wie. Die FAZ betrachtet schon mal das österreichische Modell.

Denkbar ungünstiger Zeitpunkt

22.04.2020. Eine gute Nachricht in der Coronakrise: Der menschlichen Fähigkeit zum fröhlichen Schwadronieren hat das Virus bisher nicht geschadet. Wir bringen einige der gedankenreichsten Auszüge: Ist es der Kult des Marktes, der Menschen dazu bringt, in der Krise Opfer von den Alten zu verlangen, fragt Thomas Assheuer in Zeit online. Heinz Bude freut sich im Tagesspiegel, dass nun auch Soziologen eine Welt mitgestalten können, in der "nicht mehr Freiheit die große Formel sein kann". Richard David Precht schlägt in der FR eine Amazon-Steuer vor. Und laut Gusel Jachina in der Berliner Zeitung hat die Welt gerade eine "Impfung gegen Aggression" erhalten.

Im weißen Happyland

21.04.2020. Heute beginnt in Frankfurt ein Prozess gegen einen IS-Anhänger, der ein fünfjähriges jesidisches Mädchen ermordete. Die Frage wird unter anderem sein, ob die Verbrechen der Islamisten gegen die Jesiden einen genozidalen Charakter hatten, schreiben Düzen Tekkal und Alexander Schwarz in der FAZ. Der Streit um Achille Mbembe geht weiter: Die Ruhrbarone zitieren einen Text, wo Mbembe die internationale Isolierung Israels fordert. Die taz erklärt, warum die österreichischen Boulevardzeitungen Kanzler Kurz so lieben: Er schaltet Anzeigen! Laut Netzpolitik und Zeit online wird weiter über  eine Corona-Tracking-App gestritten.

Fantasie der Ausgrenzung

20.04.2020. Viel Streit um Achille Mbembe, dem in der Welt, der Jüdischen Allgemeinen und von Felix Klein, dem Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung, Antisemitismus vorgeworfen wurde. Mbembe ist laut SZ fassungslos: Nie würde er das Apartheidsystem in Südafrika mit dem Holocaust vergleichen. Für Jürgen Kaube in der FAZ ist Mbembe mindestens ein "Nanoantisemit". In der SZ erinnert der italienische Ministerpräsident Giuseppe Conte daran, dass das angeblich so verschwenderische Italien Nettozahler in der Union ist und fordert Eurobonds. Politico rechnet nach, warum die Corona-Sterberate in Belgien so hoch ist.

Schinken besorgen in Klein-Quenstedt

18.04.2020. Alexander Kluge erkennt in der SZ die Reparaturbedürftigkeit der modernen Gesellschaft. In der Welt fürchtet Byung-Chul Han die biopolitische Disziplinargesellschaft und das Ende des Liberalismus. In der NZZ erzählt Mansura Essedin, wie Corona in Ägypten zum Stigma wird. Die FAZ wird wohl künftig den Wald meiden, in dem sich Prepper und Urbanophobiker tummeln. Für Aufregung sorgt außerdem die ungeklärte Finanzierung der Heinsberg-Studie. Und in Koblenz steht der erste Kriegsverbrecherprozess gegen einen syrischen Folterer bevor.

Ein radikal transparenteres Netz

17.04.2020. Stirbt eventuell angesichts der neuen Liebe zu den Regierungen nun auch der Rechtspopulismus am Coronavirus? In Westeuropa ist er geschwächt, in Osteuropa gestärkt, beobachten taz und Libération.  Sehr viel wird über Überwachung und Information diskutiert: Yuval Noah Harari will in der SZ eine App, aber auch eine Überwachung der Regierungen, die sie einführen. Peter Pomerantsev möchte den Internetkonzernen in der Krise ihre Algorithmen wegnehmen. Ungerecht behandelt fühlen sich in den unterschiedlichen Feuilletons außerdem: Unternehmer, Kulturschaffende, Frauen.

Stupende Möglichkeiten

16.04.2020. Die taz begrüßt die ersten Schritte zur Lockerung in Deutschland, die FAZ erzählt, wie Frankreich auch bei der Lockerung an seinem Zentralismus scheitert. Bei den "großzügigen Hilfen" für Soloselbständige erweist sich so langsam die allerüblichste Bürokratie - besonders wenn es dann um Hartz IV geht, berichtet die SZ. In Tagesspiegel und SZ erklären Infektionsforscher, warum es Herdenimmunität erst in 25 Jahren geben wird. In der NZZ erzählt der Blogger Florian Ngimbis, wie in Kamerun gegen Corona gekämpft wird. Die Republik beleuchtet die wirtschaftliche Lage der NZZ.

Das Überschreiten der Artengrenze

15.04.2020. Heute beraten Bund und Länder über mögliche Lockerungen der Kontaktsperren. Es werden eine Menge Positionen in die Debatte geworfen: Die Riffreporter, eine wissenschaftsjournalistische Website, nehmen die Vorschläge des Virologen Hendrick Streeck zu einer Öffnung schon jetzt auseinander. Aber auch die vorsichtigeren Vorschläge der Leopoldina zu einer Öffnung, die mit den Schulen beginnt, stoßen auf Kritik: Was ist mit den Frauen, fragt Jutta Allmendinger, Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin im Tagesspiegel. Übrigens war es gerade die Schließung der Schulen, nicht die Kontaktsperre, die etwas gebracht hat, wendet heise.de ein.

Mit Fahrrädern und Kastenwagen

14.04.2020. Arundhati Roy spricht in der SZ über die Armen in Indien, die, auch ohne an Covid-19 erkrankt zu sein, die ersten Opfer der Krise sind. Der Philosoph Martin Seel fordert in der SZ angesichts der Krise eine Politik der "eingestandenen Ungewissheit". Die Ruhrtriennale war in Verruf geraten, weil sie Israelboykotteuren ein Forum verschaffte, nun lädt sie den Israelboykotteur Achille Mbembe zur Eröffnungsrede im August ein, berichtet das Blog Mena-Watch. Bei heise.de erklärt Julia Reda, warum sie ihren Kampf gegen Uploadfilter fortsetzt.

Wenn sich die Seerosen jeden Tag verdoppeln

11.04.2020. Sollen sich die Alten in freiwillige Quarantäne begeben? Die taz zitiert Stimmen, die das fordern - auch weil ihre Generation den Klimawandel zu verantworten hätte. Auch über China wird gestritten: Der Guardian zeichnet das Versagen der Behörden in den ersten Wochen  nach, aber der Mediziner Paul Robert Vogt warnt in einem viel retweeteten Artikel in der Mittelländischen vor "dümmlichem China-Bashing". Die Rolle der Medien in der Krise ist ebenfalls umstritten. Steven Pinker rät in der NZZ trotz allem zu Optimismus und zur Schulung des Kopfes.

Allah hat das Virus geschaffen

09.04.2020. Wie soll ein Staat "Social Distancing" verordnen, wenn ein Drittel der Bevölkerung weniger als 44 Euro im Monat zum Leben hat, fragt der ägyptische Autor Khalid al-Khamissi in der SZ. Auch in Amerika sind es vor allem die Ärmsten, und damit oft Schwarze, die an Covid-19 sterben, notiert Zeit online. In Weißrussland wird das Virus mit den Methoden der ruhmreichen Sowjetunion behandelt, berichtet die taz: einfach leugnen. In der Türkei gibt der Staat den Bürgern keine Hilfe, sondern bittet selbst um Spenden, schreibt Bülent Mumay in der FAZ. China spielt sich als Musterknabe auf - aber gerade China war eigentlich vorbereitet und hat darum umso schmählicher versagt, ruft Matthias Küntzel im Perlentaucher.

Symptomfreie Spreader

08.04.2020. Natürlich gibt es auch heute so gut wie kein anderes Thema: Eugen Ruge verhaftet in Zeit online die üblichen Verdächtigen, die Globalisierung und den Kapitalismus. In der taz kritisiert der Politologe Martin Unfried anderseits gerade die lokale Reaktion auf ein Phänomen, das global ist. Die EU hat versagt, konstatiert politico.eu. Aber einer weiß zum Glück Bescheid, und das ist Giorgio Agamben in der NZZ: "Man muss wohl sagen, dass die Menschen an nichts mehr glauben - außer an das nackte biologische Leben, das es um jeden Preis zu retten gilt."

Differenzierter Risikobegriff

07.04.2020. Corona-Bonds oder ESM? Eine EU ohne Großbritannien ist denkbar, aber eine ohne Italien nicht, mahnt Timothy Garton Ash im Guardian. Die SZ schlägt ein originelles Ausstiegsszenario aus der Kontaktsperre vor: Ladies first, denn sie sind ja weniger gefährdet. In der FR unterstützt Jürgen Habermas die Maßnahmen gegen die Corona-Krise. In der Welt erklärt Deborah Feldman, warum die gemäßigten Juden in Israel jetzt die Ultraorthodoxen überzeugen müssen, sich der Krise gemäß zu verhalten.

Fassade eines versteckten Albtraums

06.04.2020. In Libération schlägt der Soziologe Michel Wieviorka eine Art politische Graswurzelbewegung vor, um die politische Zukunft nach Corona zu denken.  Die Corona-Krise ist ein Triumph für Viktor Orban, schreibt Gergely Márton, ehemals Redakteur von Népszabadság, in der taz. Thomas Gebauer von "Medico International" fordert in der taz eine "kosmopolitische Solidarität", denn die Krise droht sich nun in armen Ländern zuzuspitzen. Die Autorin Katherine Funke bestätigt das in der SZ für Brasilien. Auch Observer-Kolumnist Kenan Malik findet eine Solidarität, die sich nur auf die "Community" bezieht, nicht ausreichend.

Manche lernen etwas, manche nicht.

04.04.2020. In der SZ wundert sich Juli Zeh, warum eigentlich niemand über Bewegungsfreiheit oder Schulpflicht diskutieren will. In Tel Aviv funktioniert das Prinzip Dafka nicht mehr, erzählt Sarah Stricker. Christoph Höhtker fragt in der NZZ, wer jetzt noch die Schweiz beneidet. Annie Ernaux auf France Inter und Georg Kremnitz im Standard beklagen den Rückbau der Gesundheitssysteme, der Spanien, Italien und Frankreich im Zuge der Austerität abverlangt wurde.

Deutlich mehr Toilettenpapier

03.04.2020. Wenn Solidarität ausbleibt, wäre es das Ende der EU, schreibt die in Italien lebende Schriftstellerin Helena Janeczek in der SZ. Immerhin scheint sich in der EU einiges zu regen, notiert die taz. In Zeit online erläutert der Staatsrechtler Tonio Walter das kaum zu lösende Dilemma der "Triage". Laut Guardian fürchten in Ungarn Journalisten, die zu Corona recherchieren, ins Gefängnis gesteckt zu werden.

Eine neue Klaustrophobie

02.04.2020. "Leben darf nicht gegen Leben abgewogen werden", sagt der ehemalige Bundesverfassungsrichter Hans-Jürgen Papier in der SZ zum Thema Triage. In der Zeit wendet sich der italienische Premier Giuseppe Conte ans deutsche Publikum und fordert eine gemeinsame europäische Anstrengung. Libération zeigt, warum die Angaben über Todesfälle in Frankreich und Italien untertrieben sind. NZZ und taz berichten über evangelikale Superspreader in Brasilien und Südkorea.

Zehn bis zwölf Seiten Todesanzeigen

01.04.2020. In Spiegel online erklärt der Medizinstatistiker Gerd Antes, warum die Zahlen zur Corona-Krise, die überall diskutiert werden, total unzuverlässig sind. In der taz spricht die Biologin Simone Sommmer über die spezifische Gefahr, die von Wildtieren ausgeht. In der SZ spricht der Psychoanalytiker Eckhard Frick über einen der schrecklichsten Aspekte der Krise, das einsame Sterben der Menschen. Die Auswirkungen der Krise auf den Buchmarkt sind drastisch, berichtet das Börsenblatt. Außerdem: Die SZ fragt, wie es mit dem Jüdischen Museum in Berlin weitergeht.