9punkt - Die Debattenrundschau

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.

Juni 2020

Hermeneutische Gegenoffensive

30.06.2020. Nach den Kommunalwahlen in Frankreich freut sich Libération über die Wiederherstellung der politischen Lager von Rechts und Links. Die NZZ überlegt, ob sich die Polizeigewalt vielleicht nicht gegen Schwarze, sondern gegen Arme richtet. Mit drei weißen Frauen in der Chefredaktion steht die taz auf einmal ganz schön gestrig dar, erkennt die Berliner Zeitung. Die FR  blickt auf die prekäre Situation von Frauen und Männer im Kulturmarkt. Und während sich in Deutschland Presseverlage mit Google zusammentun, trennt sich die New York Times in den USA von Apple News

Angst vor seinem Zorn

29.06.2020. Die Washington Post rekonstruiert, wie Mark Zuckerberg sich in Donald Trumps Arme warf. Im Observer wundert sich Nick Cohen nicht, dass Russlands früherer London-Botschafter aufgezeichnet wurde: Weil er das Land zu Boden geworfen habe. Die SZ fragt, was wir eigentlich für Denkmäler hinterlassen, die später einmal gestürzt werden können. Die Welt hadert allerdings mit dem curatorial turn in der Geschichtspolitik. Und die Berliner Zeitung fragt Rezo, wie er eigentlich recherchiert.

Sadismus am toten Objekt

27.06.2020. Im Guardian stellt Jonathan Freedland klar, dass Israel weder für den Klimawandel noch für amerikanischen Rassismus verantwortlich ist. In der Welt betont Aleida Assmann, dass sie nicht die Singularität des Holocaust infrage stellen, aber die Fixierung darauf. Die FR sieht mit der Identitätspolitik ein Regime der Affekte aufziehen. Die taz debattiert über die Polizei: Schikaniert sie Menschen mit dunklerer Hautfarbe? Oder hilft sie einem gegen die Nazi-Meute?

Lust am eigenen Irresein

26.06.2020. Entsetzt beschreibt Timothy Garton Ash im Guardian die Wahlkampfpropaganda der staatlichen Medien für die polnische Regierungspartei. In Deutschland verkündet Google, einige ausgewählte Medien mit ein bisschen Geld zu unterstützen - die Zeit mag nicht mal sagen, mit wieviel. Wer Achille Mbembe kritisiert, hat das Holocaust-Trauma nicht verstanden, sagt der Politologe Henning Melber in der taz. In geschichtedergegenwart.ch erzählt der Berliner Soziologe Aydin Süer, wie die türkische Regierung Jahr für Jahr die Eroberung Konstantinopels im Jahr 1453 begeht.

Abgeräumter Stadtschmuck

25.06.2020. Denkmäler stürzen überall: In der taz plädiert Aktivistin Simone Dede Ayivi zunächst mal für leere Sockel. Dann sollten afrikanische Künstler*innen zur Umgestaltung der Denkmäler eingeladen werden. In der FAZ erinnert Wolfgang Reinhard daran, dass auch Afrikaner mit Sklaven handelten und Sklaven hielten. Nochmals in der taz erklärt Christian Jakob, warum Intersektionalität den Betroffenen das Recht auf alles gibt. In der NZZ staunt Pascal Bruckner, wie schnell manche in der Coronakrise die Alten wegsperren wollten, um den Jungen mehr Freiraum zu verschaffen.

Kein Drinnen & Draußen

24.06.2020. Die Debatte um Achille Mbembe weitet sich immer weiter aus: Nora Bossong verteidigt in der Welt Aleida Assmann, in der FAZ stellt sich Stephan Detjen gegen den BDS-Beschluss des Bundestages. In der NZZ hält Maria-Sibylla Lotter nichts von Sprechverboten zum Schutz von Minderheiten. Das Einzige, was Waldimir Putin noch aufhalten kann, glaubt Viktor Jerofejew in der FAZ, ist der Geschmack der Russen am Leben. Die taz blickt auf das Chaos, das der Regisseur Ilya Khrzhanovsky in Babyn Jar anrichtet. Und die SZ erlebt einen Ort, an den sich Irans religiöse Sittenpolizei nicht traut.

Es gibt Grenzen!

23.06.2020. Kant war nicht nur Rassist, sondern auch ein Antisemit und Frauenfeind, stellt Marcus Willaschek in der FAZ klar. In der taz erklärt Isolde Charim Identitätspolitik mittels Denkmalsturz zum gesellschaftlichen Rückschritt. Der Guardian meldet weitere Kapriolen im Streit um J.K. Rowling. Politico stellt den neuen Star der italienischen Rechten vor. Und groß ist die Empörung über Horst Seehofers mögliche Klage gegen taz-Autorin Hengameh Yaghoobifarah.

Tendenz zur Säuberung des öffentlichen Raums

22.06.2020. In der SZ erklärt Armin Nassehi, wie es Systeme ins Stottern bringt, wenn Kultur und Sprache permanent verhandelt werden. Natürlich war Kant ein Rassist, meint Floris Biskamp im Tagesspiegel, deswegen müsse sein Denkmal noch lange nicht gestürzt werden. Wie weiß die Vernunft ist, wird auch in der taz weiter diskutiert.  Die New York Times fragt, ob es eine Überkunft zwischen Donald Trump und Mark Zuckerberg gibt. In der NZZ lernt Giorgio Agamben, in der Bank zu beten.

Geste sozialer Verachtung

20.06.2020. Die NZZ rekapituliert, wie der Krieg gegen Drogen in den USA zur Masseninhaftierung schwarzer Männer führte. In der Welt meldet Jeremy Adler Zweifel am Konzept des kulturellen Gedächtnis an, mit dem Aleida und Jan Assmann Wissenschaft im Irrationalen angeblich grundierten. Ebenfalls in der Welt entschlüsselt Adrian Lobe die paranoide Logik des Tracings. Und die Polizei-Kolumne schlägt in der taz immer höhere Welle: Unter anderem kritisiert Stefan Reinecke die Hybris, aus der Minderheitenposition diskursive Regeln ignorieren zu dürfen.

Legal und billig

19.06.2020. Polen ist das schwulenfeindlichste Land Europas. Die PiS-Partei nutzt die Ressentiments für den Präsidentschaftswahlkampf - gegen schwachen Widerstand der demokratischen Kandidaten, berichtet politico.eu. In der SZ plädiert Mark Terkessidis gegen das Bestehen auf der Singularität des Holocaust - und für ein "multidirektionales" Erinnern. Die FAZ möchte Immanuel Kant nicht als Rassisten vom Sockel stürzen.

Jene Zone des Verdachts

18.06.2020. SZ, FAZ und taz freuen sich über den Friedenspreis für den indischen Wirtschaftsphilosophen Amartya Sen, der den rationalen Trottel in die Wüste schickte. Und der nicht so kontrovers ist wie Achille Mbembe oder Pankaj Mishra, ergänzt der Tagesspiegel. In der NZZ will Slavoj Zizek Rassismus, Pandemie und Ökologie zusammendenken. Die New York Times zitiert genüsslich aus John Boltons Buch. In der Zeit sieht Jens Jessen die antirassistische Bewegung in eine Kulturrevolution umschlagen. Aber der Guardian meldet: Rhodes Will Fall.

Personen mit Prostata

17.06.2020. Im Merkur erinnert Claus Leggewie daran, dass sich die Debatten um Kolonialismus und Holocaust überkreuzen, seit Joschka Fischer auf der PLO-Konferenz von Algier 1969 die Befreiung Palästinas forderte. Auf ZeitOnline fragt Till Randolf Amelung, warum Transgender-Aktivisten eigentlich nur Frauen verbal abschaffen wollen, nicht aber Männer. Weiterhin diskutiert wird, wie rassistisch Kant, Churchill und Indro Montanelli waren. Die NZZ fragt sich, ob es die miesen Zukunftschancen sind, die die Generation Kulturkampf auf höhere Werte verpflichtet.

Das Team sei sehr woke

16.06.2020. Der Sturm um J.K. Rowling  weitet sich auf ihren Verlag Hachette aus, wo Mitarbeiter ihr neues Kinderbuch "The Ickabog" nicht herausbringen wollen, um gegen Rowlings Kritik an Transgender-Diskursen zu protestieren, berichtet Daily Mail. Überall in Europa wird über einzureißende Denkmäler diskutiert: In Politico.eu erzählt die  Autorin Giulia Blasi , warum sie das beim Denkmal des italienischen Journalisten Indro Montanelli für mehr als gerechtfertigt hält. Auch im Guardian und der NZZ befürworten Autoren die Schleifung von Denkmälern. In Nigeria protestieren laut FR die Frauen. Im Observer warnt Kenan Malik vor dem Begriff des "weißen Privilegs" Und die Debatte um Achille Mbembe geht ebenfalls weiter.

Wie es sich anfühlt, eine gemeinsame Welt zu bevölkern

15.06.2020. Zeit online schildert, wie LGBT-Rechte in Polen zur Not mit Gewalt bekämpft werden. Antirassismus kann zu Ideologie werden, fürchtet Alain Finkielkraut in einem Gespräch in der Welt - aber das bürgerliche schlechte Gewissen werde so keine Erlösung finden. In der FAS findet der Kulturheoretiker Paul B. Preciado in seiner Transition von Frau zu Mann das Vorbild für die Transition von Demokratie in "Somatokratie". Der New Statesman muss J. K. Rowling gar nicht erst lesen, um die Distanzierungen der Harry-Potter-Stars von ihrer Autorin zu unterstützen. 

Auf Faxgeräte angewiesen

13.06.2020. Dass die antirassistischen Proteste auf Europa übergesprungen sind, ist im Zeitalter der Migration nur logisch und gut, meint Gustav Seibt in der SZ. Die Debatte um J.K. Rowling wird in Britannien weitergeführt: Dass Geschlecht nicht einfach eine Frage der eigenen Entscheidung ist, macht Alex Massie vom Spectator am Sport deutlich. Und Zoom beugt sich laut Tagesspiegel China, Twitter laut Welt nicht.

Paradoxe Intervention

12.06.2020. Die Debatten über Rassismus in verschiedenen Aspekten bestimmen nach wie vor die Medien: taz und SZ feiern die Stürzung von Denkmälern ehemaliger Sklavenhalter. Laut Zeit online sind die Parteien fast schon einig, dass sie den Begriff "Rasse" aus dem Grundgesetz streichen wollen und suchen nach Formulierungen, um den Begriff zu vermeiden. Der Soziologe Armin Pfahl-Traughber wendet sich in hpd.de gegen eine kulturelle Aufladung des Antirassismus wie etwa in dem Begriff des "antimuslimischen Rassismus". Die Berliner Zeitung versteht J.K. Rowlings Problem mit dem "verflüssigten Frauenbegriff".

Die Bedeutung von Geschlecht

11.06.2020. J.K. Rowling antwortet in einem großen Essay in ihrem Blog auf Angriffe der Transgender-Community und beharrt darauf,  "dass Frauen ihre eigene biologische Realität haben ". Die Zerstörung von Statuen ehemaliger Sklavenhalter stößt auf Zustimmung und Kritik. Nochmal zur Mbembe-Debatte: Perlentaucher Thierry Chervel antwortet auf den FAZ-Autor Ralf Michaels. In Zeit online fürchtet der Juraprofessor Lawrence Douglas, dass Donald Trump eine mögliche Wahlniederlage nicht akzeptieren wird.

Das Spiel der Identitätspolitik

10.06.2020. Rassismus ist universal, ruft die Menschenrechtsaktivistin Naïla Chikhi bei hpd.de, es gebe ihn auch, wo kein "weißes Privileg" im Spiel sei. Der Begriff des "weißen Privilegs" lässt sich ohnehin nicht auf Länder wie Frankreich übertragen, warnt die Politikerin Corinne Narassiguin in Le MondeSusan Neiman schöpft beim RND Hoffnung aus den breiten Bündnissen in den Demos gegen Rassismus. In der Welt warnt der Nordamerikahistoriker Michael Hochgeschwender vor einer "Säuberung" der Vergangenheit.

Über Bord geworfen

09.06.2020. Postkoloniale Kritik braucht keinen Rekurs auf Israel, insistiert die Grünen-Politikerin Kirsten Kappert-Gonther in der taz. Auch die Welt thematisiert die Beziehung des Postkolonialismus zu Israel. Politico.eu porträtiert den französischen Stand-Up-Comedian Jean-Marie Bigard, der sich angeblich für die Gelbwestenbewegung bei der nächsten französischen Präsidentschaftswahl bewerben will.  Die FAZ erzählt, wer Edward Colston war, dessen Denkmal in Bristol nun wohl endgültig gekippt wurde.  Die taz fürchtet, dass nun nicht nur der Turm, sondern auch das Kirchenschiff der Garnisonkirche in Potsdam wiederaufgebaut werden soll.

Ein deutsches Narrativ

08.06.2020. Nach den großen Demos gegen Rassismus geht die Debatte weiter: Es ist der Satz "I can't breathe", der den Protesten ihre Sprengkraft verlieh, schreibt der Guardian-Kolumnist Ben Okri. In Zeit online sagt Nora Bossong gar gleich eine Revolution an, und zwar eine französische. In den amerikanischen Medien ist ein Konflikt zwischen engagierter und distanzierter Berichterstattung entstanden, schreibt der New-York-Times-Kolumnist Ben Smith nach heftigem Streit in seiner Zeitung. Die Mbembe-Debatte scheitert daran, dass Deutsche nur ihre Sicht auf den Holocaust zulassen wollen, fürchtet der Dekolonisierungsforscher Ralf Michaelis in der FAZ.

Schwarze brauchen die Polizei

06.06.2020. In der Welt fürchtet Thomas Chatterton Williams, dass Donald Trump und die Verfechter der Identitätspolitik Amerika gemeinsam in die Sackgasse führen. Die NZZ fordert mehr ökonomische Gleichheit in den USA. Die gewalttätigste Polizeitruppe der Welt wütet noch immer in Brasilien, gibt J. P. Cuenca zu bedenken: Für Schwarze ist die Militärdiktatur hier nie zu Ende gegangen. Außerdem geißelt John Burnside in der taz Trägheit und Verleugnung im Angesicht einer tödlichen Krankheit. Und der FAZ zufolge hat die Wissenschaft festgestellt, dass die Coronamaßnahmen wirksam waren.

Diese Vertrautheitslücke

05.06.2020. In der NZZ erklärt Hans Ulrich Gumbrecht, warum man den Begriff "systemischer Rassismus" in den USA wörtlich verstehen muss.  Die Coronakrise hat nationales Versagen gezeigt, das aber nicht national bekämpft werden kann, schreibt der schwedische Autor Johan Norberg in der Welt. SZ und Tagesspiegel berichten über kulturpolitische Auswirkungen der Coronakrise und das neue Hilfsprogramm der Regierung. Bei voxeurop.eu erzählt die nordirisch-protestantische Autorin Jan Carson über ihre immer größere Sympathie für Dublin.

Schockierender Weg

04.06.2020. Heute jährt sich zum hundertsten Mal der Abschluss des Trianon-Vertrags. Die Ungarn verloren zwei Drittel ihres Staatsgebiets. Politico.eu und NYRB blicken auf die Spannungen in der Region. Die Geschichte der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung zeigt, dass gewaltloser Protest zu Erfolg führt, Gewalt zum Gegenteil sagt der Politologe Omar Wasow in der Zeit. In der SZ träumt der Black-Panther-Aktivist Jamal Joseph von einer neuen Regenbogenkoalition. In Zeit online erklärt der Ökonom Dilip Ratha, warum so vielen Ländern im Moment die "Remittances" fehlen.

Die Liste wird länger und länger

03.06.2020. Dass es mit dem Rassismus in der amerikanischen Polizei und Gesellschaft irgendwann besser wird, bezweifeln die Juristin Derecka Purnell in Spiegel online und der William C. Donahue in der FAZ. Zaghaft hoffnungsfroh stimmen allenfalls von Reuters präsentierte Umfragezahlen, die besagen, das 55 Prozent der Amerikaner die Proteste unterstützen. Auf Zeit online malt sich der Wissenschaftsphilosoph Alfred Nordmann schon mal aus, wie man auf eine zweite Ansteckungswelle mit dem Coronavirus im Herbst reagieren könnte. George Monbiot fragt sich im Guardian, ob das Emblem des britischen Parlaments wirklich für Demokratie steht. Und Rapunzel muss laut taz immer mehr Haar herunterlassen.

Sich jedes Mal innerlich anzuspannen

02.06.2020. Was die Demonstranten in den USA wollen, ist eine Polizei, die ihre Bürger schützt, nicht umbringt, kommentiert die New York Times die Demonstrationen in den letzten Nächten. "Wie muss das sein, sich ständig kleiner machen zu müssen vor Menschen einer anderen Rasse, sodass man nur ja nicht bedrohlich rüberkommt", fragt die südafrikanische Autorin Zukiswa Wanner  in der SZ. Die kommende Corona-App braucht das Vertrauen der Bürger, mahnt die taz. Die Debatte um Achille Mbembe geht weiter: Aleida Assmann und Jan Assmann schicken Repliken auf den Essay "Je nach Schmerz" von Perlentaucher Thierry Chervel.