9punkt - Die Debattenrundschau

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.

Februar 2022

Ein Schritt in den Abgrund

28.02.2022. Wladimir Putin ist nicht realitätsfern, stellt James Meek im LRB-Blog klar, er ist die Realität. Der Handel mit Autokraten wandelt nicht, sondern korrumpiert, schreibt Ivan Krastev in der New York Times. Putin wollte die Welt so gern als maskuliner Kraftprotz beeindrucken, jetzt tut es der heldenhafte Wolodimir Selenski, stellen SZ und Welt fest. In der NZZ möchte sich Georgi Gospodinov nicht ins Gefängnis der Geschichte stecken lassen. Osteuropa übersetzt den Offenen Brief, in dem russische Wissenschaftler Putin vorwerfen, das Land in einen Paria-Staat zu verwandeln. Ljudmila Ulitzkaja hat in der FAZ dennoch wenig Hoffnung, dass Putin die Unterstützung der Eliten verliert.

Obervolta mit Atomraketen

26.02.2022. In der SZ beklagt Vladimir Sorokin, dass sich in Russland das Prinzip der absoluten Macht seit Iwan dem Schrecklichen nicht geändert habe. Die FR seziert Putins Maskulinismus und das russische Militär als Schule brutaler Gewalt. In der FAZ kann Viktor Jerofejew keine großen Hoffnungen mehr auf den Westen setzen. Auch The Atlantic bemerkt die Beschämung Europas. In der taz fragt Nora Bossong, warum es ihrer Generation nicht gelungen sei, eine politische Haltung zu entwickeln. Außerdem: In der WamS zieht Harald Martenstein gegen den "Totalitarismus" der Wokeness zu Felde. In der Berliner Zeitung erklärt Svenja Flaßpöhler den Shitstorm als massenhafte Gefühlsansteckung.

Oft wütend und anarchisch

25.02.2022. Die Ukraine sieht dem zweiten Tag nach dem Einmarsch russischer Truppen entgegen. Im Guardian hält Timothy Garton Ash dem Westen vor, fahrlässig Putins Kriegskasse mit mehr als 600 Milliarden Dollar aufgefüllt zu haben. In Atlantic beschreibt Anne Applebaum, wie sich die ukrainische Identität unter Bauern und Leibeigenen bildete. In der FR betont Ilija Trojanow, dass die Sowjetunion eine imperiale Macht war. Ebenfalls in der FR fürchtet Viktor Jerofejew, dass die Mehrheit der Russen Putins Rachegelüste teilt. 

Verdeckte Arbeit und offene Aggression

24.02.2022. Wladimir Putin hat den Krieg gegen die Ukraine begonnen. Russische Truppen dringen nicht nur in die Separatistengebiete vor, Angriffe werden auch auf Kiew und Odessa gemeldet. Putin wird mit seinem imperialen Gebaren auch Russland selbst ins 19. Jahrhundert zurückschicken, ahnt die FR. In der Zeit erinnert Navid Kermani daran, dass die militärische Gewalt nicht erst mit Putin in die Politik zurückkam. SZ und FAZ schaudern über den selbstgefälligen Sadismus des Kreml-Herrschers. Außerdem: Bari Weiss erklärt in der NZZ, warum die Medien so anfällig für die Polarisierung wurden. In der Zeit warnt Alice Schwarzer vor falscher Toleranz in der Trans-Politik.

In der Wahl seiner Mittel

23.02.2022. Der Westen verhängt erste Sanktionen gegen Russland, doch die fallen milde aus. Nordstream 2 ist gestoppt, aber Putins Kriegskasse wird vor allem durch den Export von Erdöl gefüllt, weiß Osteuropa. Und die Briten gehen auch nicht ernsthaft gegen die Oligarchen in London vor, ärgert sich der Guardian. Atlantic mahnt, auch Belarus im Auge zu behalten, aus dem Russland seine Truppen auch nicht so bald abziehen wird. Auf Spiegel Online erklärt der Historiker Serhii Plokhy, wie der Holodomor und Tschernobyl die ukrainische Unabhängigkeit befeuerten. Und warum demütigt Wladimir Putin seinen Geheimdienstchef?

Eine Reihe von Bomben

22.02.2022. Man hätte wissen können, dass Wladimir Putin so handelt, wie er handelt - denn er handelte noch nie anders, schreibt Timothy Snyder in einer ersten Reaktion in Atlantic auf den von Putin begonnenen Krieg. Eine Gruppe von Autoren in der New York Times rückt Putins Verzerrungen der ukrainischen Geschichte gerade. Die SZ wirbt um Verständnis für Putin - Russland sei nach dem Mauerfall versprochen worden, dass sich die Nato nicht ausdehnt. Die Historikerin Mary E. Sarotte sieht das in der Welt anders. Und Timothy Garton Ash fragt im Guardian: "Wo stünde Estland heute ohne die harte Sicherheit der Nato?"

Kalt servierter Zynismus

21.02.2022. Schon ohne einen Angriff ist die Ukraine Opfer einer massiven Destabilisierung, schreibt Anne Applebaum nach der Münchner Sicherheitskonferenz in Atlantic, und sie versteht, warum Wolodymyr Selensky das Wort "Appeasement" benutzt. Die SZ liest eine Untersuchung über die Frage, wie heute Lebensläufe formuliert werden und staunt über die "stählerne Konkurrenz von Anwärtern". In der Zeit fragt die britische Autorin Otegha Uwagba, warum wir so wenig über unser Vermögen und unser Einkommen reden. Die taz hält fest: Nicht die französisch-deutsche Mali-Mission ist gescheitert, sondern die malische Regierung.

Aus eigenem imperialen Antrieb

19.02.2022. Die prorussischen Separatisten in der Ukraine erklären sich für angegriffen und ordnen die Generalmobilmachung an, melden viele Zeitungen. In Foreign Affairs fragen zwei PolitologInnen: Was ist, wenn Putin mit einem Krieg in der Ukraine - ähnlich wie in Syrien -  Erfolg hätte?  In der SZ plädiert Nele Pollatschek für die Abschaffung der Kategorie "Frau". Die New York Times wirbt mit dem Bild einer queeren jungen Frau und der Schlagzeile "Lianna is Imagining Harry Potter without its Creator" um Publikum. taz und Berliner Zeitung gedenken des Attentats in Hanau vor zwei Jahren.

Das sichtbarste Symbol

18.02.2022. Wladimir Putins Gebaren zeigt, dass jenseits neuer Konzeptionen von Außen- und Sicherheitspolitik am Ende die schiere Militärmacht zählt, fürchtet der Tagesspiegel. Nur eine unabhängige Aufarbeitung kann die Geschichte des sexuellen Missbrauchs in der Katholischen Kirche bewältigen, meint der Jesuitenpater Klaus Mertes in der FAZ. In der NZZ zerstört Masih Alinejad die Idee, dass das Kopftuch Ausdruck von Freiheit sein könnte.

Orientbar mit Stripteasestange

17.02.2022. Sofi Oksanen beschreibt in der Zeit, was Finnlandisierung ist: freiwillige Unterwerfung, inklusive willfähriger Medien, Bildungsinstitute und Kulturschaffender. SZ und taz freuen sich über den juristischen Erfolg der EU gegenüber Polen und Ungarn. Die FAZ begeht virtuell Putins Versailles am Schwarzen Meer und findet viele Doppeladler. In der Zeit wird außerdem über die Absage der Leipziger Buchmesse und das Verhalten der Kulturwelt in der Pandemie gestritten. Anmerkung vom 18. Februar: Der Hoffmann und Campe Verlag antwortet auf eine Frage zu John McWhorter.

Angst vor der Demokratie

16.02.2022. Alexej Nawalny drohen weitere 15 Jahre Gefängnis - die FAZ berichtet über die Prozess-Farce. Die französische Politik gibt Eric Zemmour nicht genug Contra, aber die Historiker tun es, berichtet die SZ. Emphatisch verteidigt Susan Neiman im Freitag die Aufklärung gegen die Kritik, ihr Universalismus sei nur eine Maskerade, die der Unterwerfung der Welt dient. Rassismus hat nichts mit schwarz und weiß zu tun, schreibt Ilija Trojanow in der taz. Und in der NZZ zeichnet Sergei Lebedew ein Psychogramm der Russen und ihrer Anführer: Corona gibt Aufschluss.

Seither verschlechterte sich das Verhältnis

15.02.2022. In der SZ findet Ingo Schulze den russischen Standpunkt in der Krise nicht so abwegig: Der Mauerfall sei so schnell gegangen, und schon hätte sich die Welt neu geordnet. In der Welt sieht der polnische Schriftsteller Szczepan Twardoch die Verantwortung für den Konflikt dagegen in Russland. Der Zeitungsverlegerverband droht sich laut FAZ.Net zu spalten, weil er nun doch nicht über eine Zukunft ohne Mathias Döpfner sprach. Hitler hasste den Kapitalismus mehr als den Bolschewismus, behauptet Brendan Simms in der NZZ.

Keine amerikanische Schule mehr in der Schweiz!

14.02.2022. Die Kriegsangst wächst. 35 Staaten haben ihre Bürger mittlerweile aufgerufen, die Ukraine zu verlassen, Konsulate werden in den Westen des Landes verlegt, berichtet die taz. Szczepan Twardoch ruft in der FAS auf, "uns das Unvorstellbare vorzustellen". Peter Pomerantsev kritisiert bei Zeit online deutsche Realitätsverweigerung. Pascal Bruckner zählt in der NZZ all die Menschen auf, die in Frankreich wegen islamistischer Morddrohungen unter Polizeischutz stehen. Oliver Zille von der Leipziger Buchmesse erklärt im Börsenblatt, warum er weiter an die Zukunft der Messe glaubt.

Nerven behalten, please

12.02.2022. In den Nebeln des Krieges: Was bedeutet es, fragt Spiegel Online, dass die CIA die russische Invasion in der Ukraine auf nächsten Mittwoch terminiert? Atlantic fürchtet mit Blick auf die Proteste in Ottawa, dass die amerikanische Rechte sich globalisiert. Demütigend für Leipzig findet die SZ, wie die Verlagskonzerne das Zentrum der ostdeutschen Literatur torpedieren. Der Schlag zielt nicht gegen Osten, vermutet Jörg Sundermeier dagegen in der taz, sondern gegen die softe Buchhandelsökonomie.

Die DNA des Präsidenten

11.02.2022. Die SPD irrt, wenn sie ihrer Entspannungspolitik den Mauerfall und die deutsche Einheit gutschreibt, meint Peter Schneider in der FAZ. Der russische Ton gegenüber der EU hat sich laut Spiegel online nochmal deutlich verschärft. Offenbar "waren die bösen Geister der Vergangenheit nicht wirklich tot", schreibt Rainer Moritz in der FAZ mit Blick auf die Absage der Leipziger Buchmesse: Die Konzernverlage hätten sie noch nie gemocht. Die SZ sieht das neue Buch über den Verrat an Anne Frank als Produkt des "Non-Fiction-Bestseller-Engineering". In der FR warnt  die Expertin Annika Brockschmidt vor der religiösen Rechten in Amerika.

Keine Kraft mehr, panisch zu sein

10.02.2022. Putins stärkste Waffe wäre die Aufrechterhaltung der Kriegsdrohung ohne zuzuschlagen, fürchtet Ivan Krastev in der SZ. Timothy Garton Ash fordert in der Financial Times eine neue deutsche Ostpolitik. Was bringt den Duden eigentlich dazu, vom Gebrauch des Worts "Jude" abzuraten? Eine Kapitulation vor Schulhof-Rassisten, fürchtet Naomi Lubrich im Tagesspiegel. Steht hinter der Absage der Leipziger Buchmesse eine Machtprobe der Konzernverlage gegen den Rest der Branche, fragt die SZ.

Viele Antikörper

09.02.2022. Die Financial Times bringt neue Enthüllungen über Springer: Die Frauen, die Ex-Bild-Chef Julian Reichelt beschuldigten, seien nicht geschützt worden, und Mathias Döpfner habe sogar eine private "Gegenuntersuchung" gegen sie einleiten wollen. Es geht Amnesty International nicht darum, Menschenrechtsverletzungen in Israel anzugreifen - es geht darum, Israel abzuschaffen, fürchtet Meron Mendel bei Zeit online. Eugen Ruge vermisst in der SZ die Friedensbewegung und ein Zugehen auf Russland. Michael Rothberg staunt in der Berliner Zeitung, dass die Deutschen Immer noch an einem falschen Antisemitismusbegriff festhalten.

Die Regierung spricht katastrophales Russisch

08.02.2022. Auch Tayyip Erdogans Macht hat Grenzen, freut sich Emma: Gegen die Sängerin Sezen Aksu kam er nicht an, und sie besingt das auch noch. Wladimir Putin lässt sich laut taz von seinem Kulturministerium "traditionelle russische Werte" ins Gesetzbuch schreiben. Währenddessen wachsen seine Truppen an der Grenze zur Ukraine auf 150.000 Mann, berichtet die FAZ. Im Perlentaucher erklären Helen Pluckrose und James Lindsay, wie die Postmoderne woke wurde. Die SZ schildert den Kampf der französischen Verlagsgiganten. Und der deutsche Gigant Randomhouse wird nicht an der Leipziger Buchmesse teilnehmen, meldet das Börsenblatt.

Ein veritables Sahelistan

07.02.2022. Das Recht auf freie Bündniswahl ist existenziell für die osteuropäischen Länder, betont Heinrich August Winkler in der FAZZeit online und taz fordern ein Umdenken der westlichen Länder im Blick auf die Sahelzone. Der Apartheidsvorwurf von Amnesty UK gegen Israel geht so weit, dass Israel eigentlich gar nicht existieren dürfte, schreibt Richard C. Schneider bei Spiegel online. Ebenfalls in der FAZ erklärt Claudia Roth ihre Ziele.

Das bedingte Weißsein

05.02.2022. Der Israel-Bericht von Amnesty UK sorgt für Debatten. Amnesty hat sich damit disqualifiziert, meint Jan Feddersen in der taz. Am Apartheidsvorwurf scheint schon deshalb etwas dran zu sein, weil ihn auch andere erheben, findet Hanno Hauenstein in der Berliner Zeitung. Israel entziehe sich der Kontrolle, weil es über Beziehungen zu mächtigen Staaten verfüge, klagen die Amnesty-Funktionäre Agnes Callamard und Philip Luther in der Times of Israel. Die Berliner Zeitung bringt eine Recherche über die Vermengung von Geschäftsinteressen und Berichterstattung im Holtzbrinck Verlag.

Biden zieht nicht

04.02.2022. Die Olympischen Spiele beginnen: Und in Xinjiang wird nach wie vor gefoltert. Die Spielstätten zerstören Naturschutzgebiete. Die Sportler sind bedrückt. Und Xi Jinping und Wladimir Putin tauschen sich bei der Gelegenheit über den "Umgang mit wichtigen globalen Fragen" aus. Die Medien berichten ausführlich. Die FAZ erzählt, was bei CNN los ist. Und Anne Applebaum versucht in Atlantic zu erklären, warum Putin die Ukraine bedroht.

Akut an die Pleiße

03.02.2022. Die Strategie von BDS besteht darin, "Redeformen und geschichtliche Ereignisse wie mit einem Magneten zu entstellen, damit sie so aussehen wie andere: Palästinenser werden dann zu Schwarzen, Juden werden zu Nazis", schreibt Thomas E. Schmidt in der Zeit. Sascha Lobo attackiert in Spiegel online die deutsche Sektion von Amnesty, die sich nicht inhaltlich zum Israel-Bericht der britischen Amnesty-Sektion äußern mag. Der Tagesspiegel fragt mit Annekathrin Kohout: Hat der Nerd die Frau verdrängt? Aber eins ist schon mal gut, meldet das Börsenblatt: die Leipziger Buchmesse findet statt.

Das Andere des Staates

02.02.2022. Gestern stellte die britische Sektion von Amnesty International einen Bericht vor, der Israel in scharfen Worte Verbrechen gegen die Menschlichkeit und ein Apartheidssystem vorwirft. Jüdische Organsationen protestieren. Das Blog Belltower.net erklärt, warum der Apartheidsvorwurf gegen Israel nicht zutrifft. Aber es gibt auch begeisterte Reaktionen auf den Bericht, etwa in Zeit online. Die FAZ berichtet über neue islamistische Morddrohungen gegen französische Medien. Nicht nur die Katholische Kirche, auch der Staat hat bei der Aufarbeitung der Missbrauchsvorwürfe versagt, erklärt der Theologe Friedrich Wilhelm Graf in der SZ.

Retten, was zu retten ist

01.02.2022. Die Frage ist nicht, was Russland, sondern was der Westen will, schreibt Timothy Garton Ash im Guardian. Desk Russie macht auf die massive Welle der Emigration aus Russland aufmerksam. Navid Kermani fürchtet im Gespräch mit der FR, dass der Islam sich selbst vergisst. In der Welt greift Anna Staroselski einen "Aspekte"-Beitrag an, der zum Holocaust-Gedenktag neue Relativierungen des Holocaust stark macht. Der Verlag des neuen Anne-Frank-Buchs mit umstrittenen Thesen zum Verrat an der Familie Anne Franks, hat sich entschuldigt, berichtet die SZ.