9punkt - Die Debattenrundschau

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.

Mai 2021

Innerhalb der Bubble

31.05.2021. Baschar al-Assad hat sich gerade mit 95 Prozent wiederwählen lassen. In The Atlantic denkt die Autorin Janine di Giovanni darüber nach, wie an die Verbrechen Assads erinnert werden soll, solange er nicht selbst zur Rechenschaft gezogen werden kann. In American Purpose kritisiert  der Historiker Jeffrey Herf Benjamin Netanjahu, der jedes Bündnis der Mitte in Israel verhindere. Die SZ legt offen, wie der dänische Geheimdienst dem NSA half, deutsche Politiker abzuhören. In der NZZ attackiert der Ideenhistoriker Jürgen Große die Gründer des Humboldt Forums, die sich "als ehrliche Makler im endlosen Spiel der 'Narrative'" inszenieren wollten.

Bloß kein Präzedenzfall

29.05.2021. In der Welt fürchtet der Historiker Karl Schlögel, dass Alexander Lukaschenko wirklich alles tun wird, um die belarussische Opposition zu vernichten. Die Aktivisten blicken in FAZ, taz und Standard entgeistert auf die Reaktionen der EU: Jetzt können sie das Land nur noch Richtung Osten verlassen. In der Financial Times ahnt Timothy Garton Ash, wie Boris Johnson einen Keil in die EU treiben will - Viktor Orban steht bereit. Die Welt erinnert auch an das Pogrom von Tulsa 1921. Und die SZ befindet, dass sich Deutschland bei den Herero und Nama inzwischen auch dafür entschuldigen müsste, dass sie so lange auf eine Geste warten mussten.

Tendenz zur Kontraktion

28.05.2021. In Ruanda hat Emmanuel Macron für die französische Rolle beim Völkermord an den Tutsi um Verzeihung gebeten, die FAZ zitiert aus seiner Rede. Zugleich erkennt die deutsche Regierung die Verbrechen des Deutschen Reichs im heutigen Namibia als Völkermord an, meldet Spiegel online. In der FR schreibt der Politikwissenschaftler Rainer Forst über die Dialektik von Solidarität: Sie braucht Grenzen. In Zeit online beschreibt der Islamwissenschaftler Bernard Rougier, wie die westliche Linke und der Islamismus konvergieren.

Diese Frischhaltefolie

27.05.2021. Die beste Waffe gegen das Lukaschenko-Regime sind nicht Sanktionen, sondern Migration, meint der britische Historiker Alexander Clarkson in Zeit online. Die beste Waffe sind nicht Sanktionen, sondern die Unterstützung der Zivilgesellschaft, findet dagegen politico.eu. Emma staunt über die Theorien der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zum "Jungfernhäutchen". Die Schweiz will kein Rahmenabkommen mit der EU: In der Republik zeichnet Roger De Weck das Bild einer dysfunktionalen und arroganten Schweizer Politik und eines gleichgültigen Publikums.

Strategische Klagen

26.05.2021. Russische Oligarchen nutzen das britische Justizsystem, um mit Klagen gegen unliebsame Bücher Informationen über das Putin-Regime und ihre Verwicklung darin zu verhindern, berichtet die FAZ. Die SZ veröffentlicht interne Briefe über mögliche Sicherheitsprobleme im Humboldt-Forum. Der amerikanische Historiker A. Dirk Moses prangert bei geschichtedergegenwart.ch den "Katechismus der Deutschen" an, der an der Singularität des Holocaust festhalte.

Eine gewisse Infrastruktur

25.05.2021. Der belarussische Diktator Alexander Lukaschenko hat ein Flugzeug, das zwischen zwei EU-Ländern unterwegs war, zur Landung gezwungen, um den oppositionellen Blogger Roman Protassewitsch festzunhemen: Das hätte er nicht ohne die Unterstützung Russlands tun können, sind sich Timothy Snyder, Anne Applebaum und viele Medien einig. Für den Guardian-Journalisten Chris McGreal ist es eine ausgemachte Sache, dass Israel ein Apartheid-Regime ist. Hans-Georg Maaßen könnte für das Zustandekommen einer schwarz-grünen Koalition noch zu einem erheblichen Problem werden, prophezeit Patrick Bahners in der FAZ nach Lektüre einiger Schriften Maaßens in abgelegenen Quellen. Und der Streit übers Gendern geht weiter.

Recht happy damit, Geld auszugeben

22.05.2021. taz und FR stellen fest, dass in den Debatten über Nahost die Extremisten die Regie übernehmen, wie auch in der Realität. Robert Misik versucht sich in der NZZ an einer Versöhnung zwischen Sozialisten und Identitätslinken. In der SZ untersucht Timothy Garton Ash, was den neuen plutokratischen Populismus erfolgreich macht. Und im Guardian blickt Marina Hyde ungläubig auf das Rennen zwischen den Tabloids und der BBC um die schmutzigsten Diana-Berichte.

Einsatz automatisierter Verfahren

21.05.2021. Die EU-Urheberrechtsreform ist jetzt auch in Deutschland durch. Die Verlegerverbände haben viel bekommen, sind aber trotzdem nicht zufrieden. Die Reform ist so komplex, dass sie vor allem den Berufsstand der Anwälte absichern wird, vermuten taz und golem.de. Jörg Häntzschel analysiert in der SZ einen Text Hans-Georg Maaßens und kommt zu dem Ergebnis, dass dieser die indirekten Codes des Rechtsextremismus perfekt beherrscht. In der Welt bewundert Ulf Poschardt die Virtuosität von Luisa Neubauers Antisemitismusvorwurf gegen Maaßen - denn "Fridays for Future" sei in den letzten Tagen selbst durch antisemitische Äußerungen hervorgetreten. In Britannien wird über das Selbstverständnis von BBC und Guardian diskutiert.

Spiel mit den Zeichen

20.05.2021. In Deutschland wird zwar gern über Israel diskutiert, aber eigentlich handeln diese Diskussionen von Deutschland, schreibt Richard C. Schneider in der Zeit. Antisemitismus ist in Deutschland alles andere als "importiert", insistiert Ronen Steinke in der SZ. Der jetzige Konflikt in Israel ist kein religiöser Konflikt, betont die israelisch-palästinensische Journalistin Rajaa Natour in der taz. FAZ-Kolumnist Bülent Mumay legt offen, welchem Druck er in der Türkei wegen seiner Artikel ausgesetzt ist. Die EU-Urheberrechtsreform ist unter Dach und Fach. Jens Balzer spricht sich in der Zeit gegen die EU-Urheberrechtsreform aus, die ihm trotz allem Lobbydruck immer noch zu lasch ist.

Eine derart hervorgehobene Position

19.05.2021. Marko Martin stellt in der Welt die Frage, warum gerade in Deutschland die Apokalyptik, verbunden mit Technikfeindlichkeit, ein so beliebtes Genre ist. Im Tagesspiegel spricht der Migrationsforscher Ruud Koopmans über muslimischen Antisemitismus. In der Welt erklärt Deniz Yücel, mit welchen Versatzstücken Rechte und Linke ihren Antisemitismus kaschieren. emma.de erklärt, warum es keine Selbstverständlichkeit ist, dass das "LesbenFrühlingsTreffen" in Bremen stattfindet. In der SZ spricht der Flüchtling und Politiker Shoan Vaisi von der Linkspartei über seine Kandidatur für den Bundestag. In der Berliner Zeitung plädiert Götz Aly für den Erhalt der Mohrenstraße in Berlin.

Woher die Sprache und die Begriffe stammen

18.05.2021. Die Franzosen sind müde, schreibt Martina Meister in der Welt und schildert ein Land, das über sich selbst verzweifelt. Was in Israel ausgebrochen ist, ist nicht ein Konflikt, es sind mehrere, die sich überlagern, schreibt der Historiker Dror Wahrmann in der FAZ. Die Hoffnung liegt für ihn in der israelischen Gesellschaft selbst. Der Politologe Armin Pfahl-Traughber fächert bei hpd.de Geschichte und Ideologie der Hamas auf. Der amerikanische Autor Peter Beinart erklärt im Guardian, warum er für eine Aufnahme der palästinensischen Flüchtlinge in Israel ist.

In Wahrheit eine Projektionsfläche

17.05.2021. Der Nahostkonflikt ist das einzige Thema, das zugleich zu einer Ritualisierung und zu rauschhafter Emotionalität führt, stellen verschiedene Autoren in den Debatten über die jüngsten Ereignisse fest. Auch andere Debatten gehen weiter: Kolonialismushistoriker Jürgen Zimmerer schlägt in der taz  Stacheldraht an der Fassade des Humboldt-Schlosses vor, um kolonialer Verbrechen zu gedenken. Sprachwissenschaftler Jürgen Trabant fragt in der Welt, ob Gendern wirklich "außerhalb unseres Einflussbereichs" liegt. Und hpd.de fragt, ob Frank-Walter Steinmeier Säkularisierung für etwas Böses hält.

Ein undankbares, zweibeiniges Tier

15.05.2021. Wie gehen Medien und Politik mit den antisemitischen Ausschreitungen der letzten Tage um? Die Empörung darüber wird immerhin vielfach formuliert. Aber es bleibt ein Unbehagen, das Alfred Bodenheimer in der NZZ benennt: Schon in normalen Zeiten trauen Juden sich oft nicht, sich in der Öffentlichkeit frei zu bewegen. In der FAZ attackiert Jürgen Kaube jene Intellektuellen, die den Antisemitismus vor allem rechts verorten. In der SZ erklärt die Grünen-Politikerin Aminata Touré, warum sie nicht gefragt werden will, woher sie kommt. Bei hpd.de macht Ralf Nestmeyer eine eigenartige Beobachtung: Die Kirchen verlieren an Rückhalt in der Bevölkerung, aber nicht an Einfluss in der Politik.

Was sonst noch so sein könnte

14.05.2021. In Israel geht die Gewalt weiter, und in den Medien wird weiter über sie diskutiert. Die neue Qualität ist, dass sich die Gewalt auch in gemischten israelischen Städten zwischen israelischen Arabern und extrem rechten Israelis fortsetzt, berichtet etwa die SZ. Ebenfalls in der SZ wirft David Grossman Israel Apartheid vor. Bari Weiss beobachtet in ihrem Blog mit Sorge, wie sich Lügen über die aktuelle Situation in den sozialen Medien verbreiten. Wer gegen israelische Politik vor Synagogen protestiert, ist ein Antisemit, hält die taz fest.

Diejenigen, die die Tür öffnen

12.05.2021. Vielleicht ist das Problem mit den sozialen Medien, dass sie das, was früher "eine saudämliche Bemerkung in einem privaten Gespräch" war, heute zu einem Zeugnis der Schriftkultur adeln, fragt die Welt. Boris Palmer entschuldigt sich in der Zeit nicht. Aber der Tagesspiegel entschuldigt sich für seine Berichterstattung über #allesdichtmachen. In der Zeit fordert Götz Aly einen wesentlich offeneren Umgang der Museen mit der Gewaltgeschichte einiger ihrer Exponate. 

Klar darf es da auch Geschäfte und Spätis geben

11.05.2021. Jan-Werner Müller denkt in der Welt über eine neue "demokratische digitale Infrastruktur" ganz ohne "Aufhetzungskapitalismus" nach. Einverstanden wäre sicherlich Christian Humborg, der neue Chef von Wikimedia Deutschland, für den die offene Struktur aber schon da ist: Sie heißt offenes Internet, sagt er in der SZ. SZ und Welt erläutern die neuen Unruhen in Jerusalem.  In der taz widersprechen zwei jüdische Studenten dem Zeit-Online-Essay von Fabian Wolff.  Und in der FAZ antworten einige bayerische Künstler ihrem Akademiepräsidenten.

Die Zeit der großen Freiheit ist wohl vorbei

10.05.2021. In der FR blickt Soziologe Sighard Neckel leicht amüsiert auf das bürgerliche Publikum, das sich plötzlich von zu viel Staat gemaßregelt sieht. In der FAZ erzählen die Historiker Stephan Lehnstaedt und Daniel Brewing, wie die polnische Regierung den Begriff des "Genozids" für die polnische Geschichte mobilisiert, um aktuelle politische Ansprüche zu untermauern. Die NZZ freut sich, dass soziale Medien jetzt von der Politik wohl doch stärker kontrolliert werden sollen. In Afghanistan ziehen die westlichen Truppen ab. Und in Kabul wird eine Mädchenschule in die Luft gejagt. Die taz fragt nach den möglichen Tätern.

Jemand, der ein Krokodil füttert

08.05.2021. Der deutsche Antisemitismus ist nicht ein Problem mit den Juden, sondern ein Problem mit uns selbst, schreibt Peter Longerich in der FAZ. In Zeit online warnt Josef Joffe: "Mikroaggression bedeutet universelle Sprachkontrolle." In der taz ist Andreas Fanizadeh Jürgen Habermas dankbar, dass er einen Preis eines Scheichs letztlich ausschlug. Rico Grimm erinnert bei den Krautreportern daran, was ein Patent eigentlich ist. Die Katastrophe am Berg Meron war eine Katastrophe mit Ansage, stellt hpd.de fest. Und Richard Herzinger will die Welt nach Herfried Münkler lieber nicht betreten.

Eine gewisse akademische Arroganz

07.05.2021. Amerika spricht sich für eine Freigabe der Patente auf Impfstoffe aus - und löst damit die größte Debatte des Tages aus. Bei CNN begründet Özlem Türeci, Miterfinderin des Biontech-Impfstoffs, warum sie dagegen ist. Netzpolitik plädiert für eine Open-Source-Politik. Bei emma.de erzählt die ehemalige Prostituierte Huschke Mau, warum sie von Antirassisten als Rassistin beschimpft wurde, obwohl sie Rassismus in der Prostitution anprangerte. Für die SZ schickt Serhij Zhadan einen Lagebericht aus der Ukraine. Der Guardian fragt, warum sich ausgerechnet Jacinda Ardern, die neuseeländische Ministerpräsidentin, nicht stärker für die Uiguren einsetzt.

Widersprüche und Ambivalenzen

06.05.2021. Der Perlentaucher druckt ein Kapitel aus Götz Alys neuem Buch "Das Prachtboot". Er kritisiert das Humboldt-Forum, das immer noch nicht deutlich über den gewaltsamen Erwerb einiger seiner Glanzstücke aufkläre. Die Zeit setzt sich in einem epischen Artikel mit  der Nazigeschichte einiger ihrer prominenten frühen Redakteure auseinander. Das Bundesverfassungsgericht setzt die moralische Lebensführung über die Freiheit, schreibt Jan Grossarth in der Welt zum Klimaurteil. Die taz porträtiert die niederländische Autorin Lale Gül, die im Versteck leben muss.

Das Beste des Kaisers

05.05.2021. Die SZ befasst sich mit der Künstlergruppe "Peng", die Biontech-Mitarbeiter auffordert, Impfstoffpatente zu leaken - leider lässt sich der Stoff aber nicht nachbacken wie ein Rezept von chefkoch.de, erläutert die Zeitung zugleich. Die taz ist erleichtert, dass "NSU 2.0" gefasst ist und froh, dass er nur ein arbeitsloser Berliner und nicht ein ganzes Netzwerk in der Polizei ist. Aus Anlass des 200. Todestages von Napoleon beleuchten die Medien das schillernde Verhältnis Emmanuel Macrons zur Geschichte.

Die Unterschiede auflösen und überwinden

04.05.2021. Nordirland wird hundert. Kevin Rooney, Betreiber eines neuen Referendums für Nordirland, erzählt in Spiked online, warum er eine Vereinigung zwischen Nordirland und der Republik näherrücken sieht. Neben dem Staat trägt vor allem eine Bevölkerungsgruppe die Kosten der Corona-Pandemie, die Sebständigen - der Regisseur Achim Michael Hasenberg schlägt darum in der taz einen Solibeitrag vor. In der SZ erklärt der afroamerikanische Publizist Thomas Chatterton Williams, warum er anders als die Antirassisten an der Idee der Farbenblindheit festhält. Die Welt repliziert auf Tagesspiegel-Artikel über die Aktion #allesdichtmachen.

Immer nach Feierabend

03.05.2021. hpd.de berichtet über den Aufruf des pakistanischen Premierministers Imre Khan zu einem Handelsboykott gegen alle westlichen Staaten, die Blasphemie nicht unter Strafe stellen. Die Beleidigung des Propheten Mohammed setzt Khan mit einer Leugnung des Holocausts gleich. In den armen Ländern beginnt die Coronakrise erst, fürchtet die taz. In den reichen endet sie auch nicht, fürchtet die FAZ. Auf Zeit online erzählt Fabian Wolff, wie er als linker Jude in Deutschland leidet. In der SZ lässt Gerhard Matzig hemmungslos seinem Abscheu vor dem deutschen Eigenheim und seinen Besitzern freien Lauf. Ist das "Klassismus", würde die taz vielleicht fragen.