9punkt - Die Debattenrundschau

Auch wie ein Schrotthaufen

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.09.2018. Morgen wird im EU-Parlament ein zweites Mal über die Urheberrechtsreform mit den strittigen Punkten Leistungsschutzrecht und Uploadfilter abgestimmt. FAZ und Welt fahren nochmal alle Geschütze auf, um die widerspenstigen Abgeordneten umzustimmen. Bei boingboing schildert Cory Doctorow, wie nach dem Gesetz Verlinken geht. Buzzfeed hat herausgefunden, wie die Medien Klicks bekommen: mit "clickbait" vom Ströer-Konzern. Politico.eu und taz analysieren das schwedische Wahlergebnis.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 11.09.2018 finden Sie hier

Urheberrecht

Zweiter Versuch: Morgen wird im EU-Parlament über die Urheberrechtsreform mit den strittigen Fragen Uploadfilter und Leistungsschutzrecht abgestimmt. Bei der ersten Abstimmung vor ein paar Wochen kam der Gesetzentwurf des CDU-Politikers Axel Voss nicht durch (unser Resümee).

Cory Doctorow schildert in Boingboing nochmal die Risiken eines Leistungsschutzrechts: "Artikel 11 definiert nicht wirklich, was ein 'Link' oder eine 'Nachrichtenseite' ist (das ist ein ziemlich krasser Flüchtigkeitsfehler). Aber Artikel 11 ist eine EU-weite Version der lokalen Gesetze, die bereits in Spanien und Deutschland versucht wurden, und unter diesen Gesetzen wurden Links verboten, die die Überschrift im 'Anker-Text' (das ist der unterstrichene, blaue Text, der zu einem Hyperlink gehört) enthalten. In den vorliegenden Änderungsanträgen hat Axel Voss vorgeschlagen, dass die Verwendung von mehr als zwei aufeinanderfolgenden Wörtern aus einer Überschrift ohne eine Lizenz nicht zulässig wäre." Wichtig auch die Stellungnahme der "European Policy for Intellectual Property" (EPIP), eines wissenschaftlichen Verbands zum Thema "Intellectual Property", der schlicht eine Streichung des Paragrafen 11 (Leistungsschutzrecht) empfiehlt.

Die deutsche Wikipedia ist heute nicht wie gewohnt nutzbar - die AutorInnen der Wikipedia proetstieren damit ebenfalls gegen einige der Reformvorschläge. In einer Erklärung formulieren sie: "Die Upload-Filter (Artikel 13) und das Verlegerrecht (Artikel 11) sind dabei nur die umstrittensten Stellschrauben im Fokus der Reformvorschläge. Auf sie konzentriert sich auch der Protest der Wikipedianerinnen und Wikipedianer, weitere wichtige Punkte für freie Wissensprojekte betreffen den Schutz der Gemeinfreiheit, die Panoramafreiheit sowie eine zeitgemäße Regelung beim sogenannten Text und Data Mining."

Welt-Chefredakteur Ulf Poschardt sagt den "Monopolen von Facebook und Google" den Kampf an und setzt sich nochmal für die Reform ein, die im ersten Anlauf im Parlament gescheitert war: "Wir benötigen sie, um anspruchsvollen Journalismus auch künftig unabhängig zu finanzieren. Ungern würden wir - aber auch andere Redaktionen - als Bettler auftreten, wenn wir einfach nur das bürgerliche Eigentumsrecht ernst genommen sehen wollen. Geistiges Eigentum muss in Zeiten von Copy-and-paste besser geschützt werden." Poschardt meint eigentlich das geistige Eigentum, das die Verlage den Autoren in Buy-Out-Verträgen zur Verwertung abkaufen. Nicht ganz so streng waren sie damit, als sie den rechtlich unzulässigen Verlegeranteil an den Einnahmen der VG Wort kämpften.

Die Welt lässt dann noch ein paar Verleger und Autoren zum Rapport antreten, die alle brav die richtige Meinung vertreten - so etwa Sibylle Lewitscharoff: "Natürlich bin ich für einen möglichst hochrangigen Schutz kreativer Leistungen." Etwas anders nur die Agentin Elisabeth Ruge: "Traurig, aber nicht überraschend, dass auch die Diskussion um die Urheberrechtsreform in eine virtuelle Schlammschlacht abgeschmiert ist."

"Woher dieser Hass auf geistiges Eigentum", fragt im Aufmacher des FAZ-Feuilletons der ultrareaktionäre Verfechter "geistigen Eigentums" Roland Reuss und schreibt den erwartbaren Artikel pro Leistungsschutzrecht und Uploadfilter.

Auf Twitter antwortet auf Alexander Stirn auf Reuss' Frage:


Ein paar Seiten weiter überlässt die FAZ Jan Nicolaus Ullrich von der VG Media, die das gescheiterte deutsche Leistungsschutzrecht verwaltet, noch fast einen Seite, um den Standpunkt der Verlegerlobby zu erläutern. (Einen Gegenstandpunkt hat es in der FAZ in der Frage unseres Wissens nie gegeben.)
Archiv: Urheberrecht

Medien

"Clickbait" - das sind Artikelanreißer wie "Nach jahrelanges [sic!] High-Heels-Tragen: So sehen Heidi Klums Füße aus" und "Herzogin Meghan: Damit wird sie von ihrer Familie blamiert! Gehen sie damit zu weit?", die jeder überall im Netz und ganz besonders auf bestimmten Facebook-Seiten sehen kann. Sie setzen auf besonders niedrige Instinkte und enttäuschen die Leser dann meist auch noch. Karsten Schmehl weist nun auf Buzzfeed nach, dass die Pseudo-Artikel im Auftrag von Medienkonzernen wie Gruner und Jahr und Springer bei Facebook laufen, damit die Leser draufklicken und bei den Medienkonzernen höhere Klickzahlen und damit bessere Statisken und Werbeeinnahmen erzeugen. Es sind also die Medien selbst, die per Facebook das Vertrauen in sie zerstören! Fabriziert werden diese Anreißer vom Ströer-Konzern: "Bei der Analyse aller 62 von BuzzFeed News gefundenen Ströer-Seiten zeigt sich, dass auf den allermeisten dieser Seiten regelmäßig Clickbait eingesetzt wird. Auf vielen dieser Seiten werden auch für die Zielgruppe passende Bilder mit Sprüchen verbreitet, allerdings deutlich seltener als die zahlreichen Clickbait-Inhalte. Ströer hat sich zum Einsatz von Clickbait auf mehrfache Nachfrage nicht geäußert."

Die oppositionelle türkische Zeitung Cumhuriyet wird von einer Gruppe von Journalisten um den jetzigen Chef Alev Coskun übernommen, die in den Prozessen gegen die Kollegen aussagten und nun einen streng an Atatürk orientierten Kurs fahren wollen. Viele Journalisten haben das Blatt darum inzwischen verlassen, berichtet Ali Celikkan in der taz: "'Diese Zeitung ist die Zeitung Atatürks. Hier gibt es Prinzipien, hier ist man Atatürk und der Republik verbunden. Das ist nicht der Ort, an dem man eine Terrororganisation auf den Ehrenplatz setzt', hatte Alev Coskun im September 2017 im Terrorprozess ausgesagt." Beim Deutschlandfunk berichtet Christian Buttkereit über die Gleichschaltung der Zeitung.
Archiv: Medien

Geschichte

Der Historiker Götz Aly besucht für die Berliner Zeitung mit seinem 11-jährigen Enkel und dessen Freund die neue Dauerausstellung zur Berliner Geschichte im Märkischen Museum Berlin: "Am meisten beeindruckte sie das von der Königlich Preußischen Eisengießerei hergestellte Schachspiel ('total cool'). Dem siebenminütigen Bericht von Paul Koby darüber, wie er 1933 im Columbia-Haus am Tempelhofer Feld gefangen gehalten und gefoltert wurde, folgten die zwei gebannt. Vor den Trümmerfrauen verharrten sie, um das Gespräch sofort auf Syrien zu lenken. ('Berlin sah damals auch wie ein Schrotthaufen aus.') Statt der von der Museumsleitung vorgesehenen Zeit 'Berlingeschichte in einer Stunde' brauchten wir zwei Stunden. Mein Angebot im Café zu pausieren, lehnten die beiden Elfjährigen ab. Donnerwetter - tadellos!"

Weitere Artikel: Emmanuel Macron will erstmals den kostbaren, fast 1000 Jahre alten Teppich von Bayeux für eine Ausstellung nach England reisen lassen, ein Politikum, meint Martina Meister in der Welt. Arno Widmann vertieft sich für die FR in das Berliner Uni-Abgangszeugnis von Karl Marx von 1841, das wieder im Archiv der Humboldt-Universität liegt. Und in der SZ stellt Lothar Müller das von der Alexander-von-Humboldt- Stiftung geförderte internationale Projekt "Geschichte der Psychoanalyse in Polen im deutsch-polnisch-jüdischen Kulturkontext 1900-2015" vor: Die Forschergruppe tagte gerade in Berlin, unter dem Titel "Psychoanalyse im Schatten von Krieg und Holocaust. Deutsche - Juden- Polen", und "es zeigte sich, dass sich wie in Westdeutschland 1968 die Psychoanalyse im Polen der Gegenwart nicht darauf beschränkt, eine Behandlungstechnik zu sein. Sie verbündet sich mit der kritischen Gesellschaftstheorie und Geschichtswissenschaft."
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Gesellschaft

Queersein allein macht auch nicht glücklich. Otamere Guobadia gibt bei Dazed einen interessanten Einblick in Konflikte der Szene: Er schildert, wie er in bestimmten auf extreme Maskulinität getrimmten Diskos gemobbt wird, weil er gern Frauenkleider trägt, und beschreibt die Problematik der hypermaskulinen "Tom of Finland"-Ästhetik in der Schwulenszene: "Diese Art von schwuler Muskel-Ästhetik ist wohl in unserem kollektiven Trauma verwurzelt - sie boomte nach der HIV/Aids-Krise. In einer Zeit, in der abgemagerte und schwule Männer an der Pest litten und starben, die unsere Community heimsuchte, kam diese Gesundheitsästhetik in Mode. Muskelmasse und Adonis-Körper wurden zu Symbolen eines blühenden Immunsystems und vielleicht zu eienr Art Amulett gegen HIV und Aids. Das gab Hoffnung angesichts von Tod und Zerstörung... Aber zu theoretisieren, woher der Wandel in der Kultur kam, rechtfertigt ihn nicht, auch wenn seine Wurzeln verständlich sind."
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Europa

Nicht die Einwanderungspolitik, sondern das Schrauben am "Volksheim" hat den schwedischen Sozialdemokraten das schlechteste Wahlergebnis seit 1911 besschert, meint der Politologe Gunnar Hinck in der taz: "Die Einkommensungleichheit im Land steigt rasant, wie die OECD feststellt. Im Gesundheitssystem sind Mangel und lange Wartezeiten für Operationen seit Jahren ein Problem. Wer das nötige Geld hat, kauft sich private Leistungen. Gewinnorientierte Privatschulen sind inzwischen erlaubt, was die soziale Auslese verstärkt, denn Privatschulen siedeln sich vorzugsweise in 'besseren' Vierteln an."

"Selbst wenn die Schwedendemokraten nicht so gut abschnitten, wie manche gefürchtet hatten, bleibt der Aufstieg der Partei die Hauptstory", insistiert Matthew Karnitschnig bei politico.eu. "In einem inzwischen bei rechtspopulistischen Parteien vertrauten Muster schafften es die SD, die Parteien des Establishments Angst einzujagen. Die gesamte Kampagne drehte sich nur um die populistische Agenda inklusive (wenn auch nicht nur) des heißen Themas Migration."

Die Rechtspopulisten sind nicht das Hauptproblem in Italien, meint der italienische Schriftsteller und Journalist Thomas Leoncini in der Süddeutschen. Das Hauptproblem ist das Fehlen einer echten Alternative. Die Linke ist es leider nicht: "Das universalistische Ideal hat sich aufgelöst, nach der Ernüchterung herrscht degenerierter Moralismus. In der Öffentlichkeit gilt die Linke nun als Partei des Sammelns und Lagerns. Nur für wenige Themen erwärmen sich linke Politiker regelmäßig und es ist kein Zufall, dass eines davon die bedingungslose Aufnahme ist, dabei kein Wort zur Organisation. So wird die aktuelle Linke als Partei des Sammelns und Lagerns aussortierter Menschen wahrgenommen; die regierenden Rechten stehen für Saubermachen und Abfallentsorgung."
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Ideen

Descartes hat noch gefordert, alles zu bezweifeln, was nicht klar und deutlich erkannt werden könne. Aber kann man das im digitalen Zeitalter so aufrecht erhalten? Der Philosoph Walther Ch. Zimmerli bezweifelt es in der NZZ: "Wir Menschen sind durch die Notwendigkeit der - analogen - Interpretation nolens volens immer Mitspieler im Bereich des Digitalen. Ja, noch mehr: Wir sind zwingend natürliche Digital-analog-Wandler (DAW). Allen modischen begrifflichen Pseudoversprechen wie 'autonomes Fahren', 'künstliche Intelligenz' oder 'Singularity' zum Trotz wird es nie bloẞ binär operierende Maschinen alleine, sondern immer Mensch-Maschine-Tandems geben. Dann aber greift das schon seit langem diagnostizierte 'informationstechnologische Paradox': Je besser der Maschinenteil des Mensch-Maschine-Tandems 'funktioniert', desto unmöglicher wird die Einlösung des Descartes-Postulats, nichts für wahr zu halten, was nicht klar und unterscheidbar perzipiert wird."
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