9punkt - Die Debattenrundschau

Wo weltliche Träger rar sind

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.09.2018. Der CSU-Politiker Manfred Weber kann nicht EU-Kommissionspräsident werden, solange er einen Schutzschild vor Viktor Orban hält, schreibt der Politologe Jan-Werner Müller in der SZ.  In Zeit online fordert auch die Europaabgeordnete Judith Sargentini Sanktionen gegen Ungarn - über das heute im EU-Parlament debattiert wird. Abgestimmt wird dort auch über die umstrittene Urheberrechtsreform, die Wyclef Jean in Politico kritisiert. In der FAZ rotieren Thilo Sarrazin und sein Kritiker Rainer Hermann. Und der Guardian fragt: Wo ist Fan Bingbing?
Efeu - Die Kulturrundschau vom 12.09.2018 finden Sie hier

Europa

Heute stimmt das Europäische Parlament darüber ab, ob die Rechtsstaatlichkeit in Ungarn so gefährdet ist, dass sie überprüft werden muss. Bisher wurde Viktor Orbans Fidesz in der EU vor Kritik immer durch die Europäische Volkspartei (EVP) geschützt, einen Zusammenschluss der konservativen Parteien in Europa. Damit muss jetzt Schluss sein, fordert der Politologe Jan-Werner Müller in der SZ und erinnert den Vorsitzenden der EVP, Manfred Weber (CSU), daran, dass der Schulterschluss mit den Rechtspopulisten ein guter Grund ist, ihn nicht zum nächsten Präsidenten des EU-Kommission zu wählen. Für Orban wäre der Ausschluss aus der EVP ein schwerer Schlag, egal, mit wem er sich dann noch verbündet: "Keine neue Gruppierung hätte den Einfluss, den die EVP hat - und könnte deshalb auch keinen entsprechenden Schutzschild für das korrupte, menschenverachtende Regime in Budapest bieten. Smarte Rechtspopulisten wissen schon lange, dass sie mit dem Opportunismus des Mainstreams am besten fahren. Man darf im Zelt sein und trotzdem pissen. Wenn die EVP sich im nächsten Jahr bei den Europa-Wahlen als Brandmauer gegen die europafeindlichen Rechtspopulisten verkaufen möchte, dann kann sie nicht gleichzeitig den großen Brandbeschleuniger Orbán schützen."

Die EU hätte Ungarn schon längst sanktionieren müssen, meint im Interview mit Zeit online die Europaabgeordnete Judith Sargentini, die die demokratischen und rechtsstaatlichen Veränderungen in Ungarn recherchiert und in einem Bericht für das Parlament zusammengetragen hat. Doch jetzt kommt endlich Bewegung in die Sache, meint sie: "Wir haben gesehen, wie Präsident Emmanuel Macron zu Manfred Weber von der EVP gesagt hat, dass man nicht gleichzeitig Merkel und Orbán unterstützen kann. Wir haben gesehen, dass die italienischen Mitglieder der Europäischen Volkspartei nicht gut fanden, dass Orbán sich mit Matteo Salvini angefreundet hat. Die Abstimmung führt also jetzt schon zu Bewegung in der Debatte. Und lassen Sie uns nicht das politische Signal unterschätzen, das schon alleine davon ausgeht, dass das Parlament diesen Bericht geschrieben und veröffentlicht hat. Fünf Ausschüsse des Parlaments haben schon gesagt: Wir wollen, dass das Artikel-7-Verfahren beginnt."

Zeit online meldet derweil, dass es keinen Fraktionszwang bei der Abstimmung in der EVP geben wird, jeder Abgeordnete kann wählen, wie er will. Weber selbst will für eine Überprüfung der Rechtsstaatlichkeit in Ungarn stimmen, sagte er auf einer Pressekonferenz: "Auf die Frage, wieso die EVP sich dennoch nicht von der ungarischen Fidesz trenne, ging Weber nicht direkt ein. Die rechtsnationale Fidesz-Partei von Regierungschef Orban gehört ebenfalls zu der EVP. Der Dialog mit Ungarn solle fortgesetzt werden, sagte Weber. Er selbst wolle dabei ein 'Brückenbauer' sein."
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Politik

Leicht unheimlich wird einem bei der Geschichte der Schauspielerin Fan Bingbing, einer der größten Celebrities im chinesischen Filmbusiness, die seit zwei Monaten nicht mehr in der Öffentlichkeit gesehen wurde. Sie hatte wegen ihrer Gagen 0 Punkte im "2017-18 China Film and Television Star Social Responsibility Report", schreibt Benjamin Haas im Guardian. Es gibt Gerüchte, dass Fan wegen Steuerhinterziehung im Gefängnis sitzt. Der "Responsibility Report" aber sei "Teil einer Strategie der kommunistischen Führer, der Unterhaltungsindustrie Grenzen zu setzen und das, was sie als  'Anbetung des Geldes' kritisiert, zu bekämpfen, da sonst 'soziale Werte verzerrt' würden und 'junge Menschen dazu gebracht würden, blind den Stars hinterherzulaufen'. Chinesische Behörden haben im Juni auch eine Honorargrenze festgelegt, so dass die Hauptdarsteller nicht mehr als 70 Prozent der Gesamtkosten für das Team beanspruchen dürfen."

Deutschland disqualifiziert sich moralisch mit einer Weigerung, selbst nach einem Giftgas-Einsatz in Syrien zusammen mit Alliierten einen Gegenschlag auszuführen, meint Richard Herzinger in der Welt: "Gegen eine deutsche Beteiligung an der möglichen Militäraktion formiert sich eine breite Phalanx, von Linkspartei über AfD bis SPD. Ihr Argument, ein derartiger Einsatz sei völkerrechtswidrig, weil ohne UN-Mandat, klingt zynisch. Verhindert doch Russland - als ein Hauptverantwortlicher für die Kriegsverbrechen in Syrien - mit seinem Vetorecht, dass so ein Mandat zustande kommt. Und welcher Schlag gegen das Völkerrecht ist verheerender als der Einsatz von Massenvernichtungswaffen?"
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Urheberrecht

Heute stimmt das EU-Parlament über die Urheberrechtsreform ab. Leonhard Dobusch erläutert bei Netzpolitik das Prozedere: "Üblicherweise debattiert das Plenum des EU-Parlaments nicht mehr über einzelne Änderungsanträge, sondern es segnet nur noch die Vorlagen des jeweils federführenden Ausschusses ab. Da die vom deutschen EU-Abgeordneten Axel Voss maßgeblich vorangetriebene Vorlage mit Upload-Filterpflicht und weitreichendem Leistungsschutzrecht aber im Juli diesen Jahres überraschenderweise keine Mehrheit fand, müssen alle Abgeordneten jetzt in allen Punkten Farbe bekennen."

Vor einigen Tagen schon hatte der Rapper Wyclef Jean bei Politico gegen eine Verschärfung des Urheberrechts im Internet argumentiert. Seine Devise sei: "Don't tear down the building, be the landlord." "Es ist viel vorteilhafter für mich, die Community, die meine Kunst remixed, anzunehmen, eigene Regeln aufzustellen, wie mein Werk benutzt wird und die gemeinsame Kreativität und den Gewinn zu akzeptieren, die daraus entstehen. Es war nicht leicht für mich, mein Denken anzupassen, aber jetzt arbeite ich mit einigen Online-Diensten, die den Fans geben, was sie wollen, und verdiene dennoch Geld."
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Religion

Die Humboldt-Uni besteht offenbar auf einem islam-theologischen Institut, in dem nur die drei konservativen Verbände Zentralrat der Muslime in Deutschland, Islamische Föderation Berlin und Islamische Gemeinschaft der schiitischen Gemeinden Deutschlands (IGS) im Beirat sitzen - Proteste haben nichts gebracht, schreibt Rita Breuer bei emma.de: "Dabei stehen alle drei Verbände für ein erzkonservatives, von Ungleichheit geprägtes Frauenbild und die Pflicht der Frauen zur Verhüllung. Unverschleierte Frauen haben in keinem der Islam-Verbände ein Mitspracherecht. 'Gleichbehandlung ist nicht immer Gleichberechtigung', so die entlarvende Antwort des Zentralrats zur Frage des Gleichheitsgrundsatzes."

Katholische oder evangelische Krankenhäuser werden keineswegs aus Kirchensteuern bezahlt. Sie gehören zu den Unternehmen der Kirchen, die aus Sozialabgaben finanziert werden und nebenbei aber als "Tendenzbetriebe" ein ganz eigenes Arbeitsrecht haben. Ein Chefarzt eines katholischen Krankenhauses hat nun vor dem Europäischen Gerichtshof Recht bekommen - er hatte geklagt, weil er wegen einer zweiten Heirat gefeuert werden sollte (mehr hier). Diese Fälle sind nicht isoliert, schreibt Tanja Tricarico in der taz: "Immer wieder müssen staatliche Gerichte durchsetzen, dass Angestellte christlicher Institutionen sich als Belegschaft überhaupt organisieren dürfen. Und wer bewusst Nein zur Kirche sagt, hat in manchen Gegenden kaum Chancen auf einen Job im Sozialbereich. Etwa in der Region Köln, wo 'weltliche' Träger rar sind."

Beim Humanistischen Pressedienst begrüßt die SPD-Politikerin Ingrid Matthäus-Maier - eine der wenigen Kirchenkritikerinnen in der Partei - das Urteil als "Anfang vom Ende des kirchlichen Arbeitsrechts in Deutschland": "Die Politik hat sich seit Jahren davor gedrückt, die 1,2 Millionen Beschäftigen von Diakonie und Caritas vor religiöser Diskriminierung zu schützen. Stets hieß es in Berlin, dies müsse die Kirche selbst lösen, doch dieses Argument hat spätestens durch das heutige Urteil seine Gültigkeit verloren."
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Wissenschaft

In der NZZ berichtet der knapp 20 Jahren in den USA lehrende Zoologe Axel Meyer entsetzt, wie sich die amerikanischen Universitäten immer mehr vor offenen Diskussionen verschließen: "Das neue Mantra in den Geisteswissenschaften heißt Diversität. Dabei wird ausgeblendet, wie rassistisch Diversitätsdenken per se sein kann, denn seit wann ist es denn wieder in Ordnung, Menschen nach Hautfarbe einzuteilen? Als ob alle Afrikaner gleich wären oder alle Hispanics gleich dächten. Man sagt, dass man mehr Diversity wolle, allerdings nur in Hautfarbe, aber nicht in Meinungen oder Fähigkeiten oder Talenten."
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Geschichte

Paul Ingendaay folgte für die FAZ einem Streitgespräch zwischen dem ehemaligen RAF-Anwalt Christian Ströbele und dem ehemaligen Stammheimer Haftrichter Klaus Pflieger: "In der Sache hatte Ströbele dem Hauptargument des schwäbischen Juristen nichts entgegenzusetzen: Der Rechtsstaat musste zeigen, dass es sich bei den deutschen Terroristen nicht um verblendete Träumer, sondern um Straftäter handelte."
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Ideen

Regelrechtes Gekabbel auf der Leserbriefseite der FAZ. Thilo Sarrazin antwortet auf eine Kritik des FAZ-Redakteurs Rainer Hermann an seinem neuen Buch "Feindliche Übernahme" (unser Resümee). "Dass ihm mein Vorgehen bei der Interpretation des Korans nicht gefällt, macht er deutlich. Aber es gelingt ihm nicht, mir ein falsches Zitat nachzuweisen", so Sarrazin. Hermann repliziert auf den Leserbrief ungewöhnlicher Weise genauso lang - und genauso erregt: "Ihre Unkenntnis in Sachen Islam zeigt sich auch bei Ihrer 'Auslegung' von Koran-Sure 3, Vers 110. Sie werfen mir 'Gaukelei' vor, wenn ich das Auserwähltsein erst in dritter Linie auf den Glauben beziehe. Auch an dieser Stelle haarsträubend, mit welcher Unkenntnis Sie den Passus 'auslegen'. Er liegt mir auf Arabisch vor." Sarrazins Leserbreif steht bei achgut.de online.

Houssam Hamade und Viola Nordsieck denken auf Zeit online darüber nach, welche Bedeutungsrahmen man beim Reden über rechtsradikale Ausschreitungen wie in Chemnitz verwendet. Ob man Hetzjagd sagt, Pogrom, Ausschreitung, ob man von angegriffenen Ausländern spricht, von Flüchtlingen oder von Menschen mit Migrationshintergrund ist ein Unterschied und prägt die Debatte, so die zwei: "Wenn es eine Debatte zu einem Thema gibt, so sind die dabei verwendeten Deutungsrahmen weder zufällig noch notwendig vorgegeben. Sie werden immer ausgewählt, und man kann jederzeit danach fragen, wie diese Auswahl zustande kommt. Entscheiden wir uns, über Chemnitz als eine 'Hetzjagd auf Ausländer' zu sprechen, oder reden wir von 'rechtsradikalen Ausschreitungen', die 'ein Viertel der deutschen Bevölkerung' zum Ziel haben? Gerade in einem aufrichtigen Gespräch wird genau diese Auswahl immer auch ein Element der Debatte sein. Anderenfalls wird sie fremdbestimmt."
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