9punkt - Die Debattenrundschau

Vor allem Bilder von Notsituationen

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.02.2015. Wenn wir sagen, es sei falsch zu beleidigen, statten wir die Terroristen erst mit Argumenten aus, sagt Kenan Malik in information.dk. In den USA tobt eine intrikate Debatte über die Frage, ob man den Islamischen Staat islamisch nennen dürfe, wir verlinken auf die Protagonisten. In der Zeit fragt sich Boris Schumatsky, was Linke eigentlich gegen Revolutionen haben. In der SZ erinnert Horst Köhler an die Aufteilung Afrikas in Berlin vor 130 Jahren. Laura Poitras' Oscar-prämierter Film "Citizenfour" steht legal zum Download bereit.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 26.02.2015 finden Sie hier

Europa

"Wenn wir sagen, es sei falsch zu beleidigen, statten wir die Terroristen erst mit Argumenten aus", sagt Kenan Malik im Gespräch mit Anton Geist in information.dk (englisch auf der Website von Malik). Und wer wie in Deutschland Andreas Zielcke (mehr hier) oder Christian Geyer (mehr hier) Verzicht auf Beleidigung verficht, macht sich mit Forderungen der populistischen Rechten gemein: "Heute mag es inakzeptabel sein, Bilder von Mohammed zu zeigen. Morgen mag irgendetwas anderes als inakzeptabel gelten. In den Niederlanden zum Beispiel gibt es eine Kampagne, den Koran zu verbieten, weil manche ihn als "beleidigend" empfänden. Akzeptieren wir, dass freie Rede mit dem Argument der Beleidigung eingegrenzt wird, sollten wir dann auch den Koran verbieten? Und wenn nicht, warum nicht?"

Nicht verbieten, aber in einheitlicher deutscher Übersetzung reglementieren soll den Koran in Österreich künftig ein neues "Islamgesetz", das unter dem Eindruck zunehmender islamistischer Gewalt verabschiedet wurde, berichtet Ralf Leonhard in der taz: "Der Punkt, der am meisten Empörung hervorgerufen hat, ist das Verbot der Finanzierung von Vereinen und Imamen aus dem Ausland. Die Konsequenzen sind enorm. Denn von den rund 300 in Österreich tätigen Vorbetern werden über 60 vom türkischen Staat bezahlt." Daniel Bax kritisiert ebenfalls in der taz den doppelten Maßstab, mit dem Religionen damit künftig gemessen werden und bevorzugt den deutschen Weg, an den Universitäten Lehrstühle für islamische Theologie einzurichten.

Was haben eigentlich viele Linke gegen die Revolutionäre aus der Ukraine, fragt Boris Schumatsky in der Zeit mit Blick auf die vielen Linken, die kein Problem haben, sich zusammen mit vielen Rechten für eine Handkuss bei Putin anzustellen: "Die ukrainische Revolution der Würde wird von vielen Linken gerade deswegen abgelehnt, weil sie links im ursprünglichen Sinne ist. Der vielleicht noch tiefere Grund für die linke Aversion gegen die Revolution heißt Liberté, Égalité, Fraternité. Diese Grundsätze der Aufklärung prägten sowohl den Volksaufstand in Paris als auch den in Kiew. Auch in der Ukraine ging es um den "Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit", wie Immanuel Kant die Aufklärung definierte. Viele, die sich als links bezeichnen, können mit diesem Erbe der Aufklärung in Wahrheit wenig anfangen."
Archiv: Europa

Geschichte

"Hans Robert Jauss, der weltberühmte Romanist: ein Kriegsverbrecher", staunt Joachim Güntner in der NZZ angesichts des an der Universität Konstanz aufgeführten Stücks "Die Unerwünschten" von Gerd Zahner (wir berichteten). Für das Jauss von Zahner angelastete Kriegsverbrechen waren allerdings französische, nicht deutsche Offiziere verantwortlich, erklärt Güntner und verweist auf das für Anfang Mai angekündigte Gutachten des mit Nachforschungen zu Jauss beauftragten Historikers Jens Westemeier: "Seine Biografie der Jaussschen Jahre von 1921 bis 1948 dürfte umfangreiches neues Material präsentieren. Details verrät der Historiker zurzeit nicht. Nach wie vor fehlen der Öffentlichkeit Belege, die Hans Robert Jauss eine Beteiligung an Kriegsverbrechen nachweisen. Man sollte also dem Moralismus, so wenig appetitlich der große Romanist uns auch erscheint, nicht vorschnell die Zügel schießen lassen."

Der ehemalige Bundespräsident Horst Köhler erinnert in der SZ an die Berliner Konferenz vor 130 Jahren, in der die Aufteilung Afrikas unter den Kolonialmächten beschlossen wurde, und an genozidale, auch von Deutschen begangene Verbrechen in Afrika, die folgten: "In der Breite der Gesellschaft ist dieses Ereignis fast vergessen, und damit auch, dass es Berlin war, wo die geregelte Aufteilung Afrikas durch Europa ihren Anfang nahm."
Archiv: Geschichte

Kulturpolitik

Sven Felix Kellerhoff bezweifelt in der Welt, dass noch berechtigte Erben-Ansprüche auf den Welfenschatz bestehen: "Die bekannten Dokumente belegen dicht, dass das Konsortium auf eigene Initiative Preisnachlässe von bis zu 20 Prozent anbot. Das geschah zu einem Zeitpunkt, als die antisemitische Politik des Dritten Reiches bereits erhebliche Auswirkungen auf deutsche Juden hatte. Andererseits war der Verhandlungsführer des Konsortiums, Saemy Rosenberg, bereits ausgewandert, und der Schatz selbst lag in Tresoren in Amsterdam."
Archiv: Kulturpolitik
Stichwörter: Tresor, Welfenschatz

Überwachung

Am vergangenen Sonntag wurde der Dokumentarfilm "Citizenfour" von Laura Poitras mit einem Oscar ausgezeichnet, jetzt ist steht er bereits zum Download bereit. Die für uneingeschränkte Meinungs- und Informationsfreiheit eintretende Organisation cryptome.org veröffentlicht den Film als entlastendes Beweismittel in einem Prozess, berichtet Kurt Sagatz im Tagesspiegel: "Ein ehemaliger Navy-Offizier hat vor einem Bundesgericht in Kansas Klage gegen Filmemacherin Poitras, The Weinstein Co., Participant Media und andere eingereicht, "die für den Missbrauch der gestohlenen Informationen durch ausländische Feinde verantwortlich sind", wie es in der Klageschrift heißt. Nach US-Recht müssen die Beweismittel öffentlich zugänglich sein."
Archiv: Überwachung
Stichwörter: Citizenfour, Poitras, Laura

Politik

Auch in den USA ist die Debatte über den Islam ein bisschen intrikat. Roger Cohen veröffentlichte in der New York Times vor ein paar Tagen eine Kolumne, nach der der Westen mit dem Islam "im Krieg" sei. Dagegen wendet sich nun im New Yorker Robert Wright, dem die Unterscheidung zwischen Islam und Islamismus wichtig ist. Darum bezieht er sich auch kritisch auf Graeme Woods großen und sehr einflussreichen Artikel über die IS-Milz im Atlantic (wir resümierten), der authentisch islamische Wurzeln bei den Mordbuben ausmacht. Wood bezieht sich dabei auf den Islamforscher Bernard Haykel, und Wright ist nun sehr froh in ThinkProgress ein Interview mit Haykel zu finden, in dem dieser sich von der Theorie der "authentisch islamischen" Killertruppe distanziert: "Ich habe es gegenüber Wood betont, aber er hat es nicht gebracht: Die Vorstellung des ISIS vom Islam ist ahistorisch. Sie sagen, dass wir in das siebte Jahrhundert zurückgehen sollen. Er verleugnet die die Komplexität der islamischen Rechtstradition seit über tausend Jahren."

Liest man den Kirchenhistoriker Dietmar W. Winkler auf der Glauben-&-Zweifeln-Seite der Zeit, fürchtet man um neue Massenmorde durch die IS-Milizen im Norden Syriens: "Die Dörfer... am Fluss Chabur liegen in einer der letzten Regionen, wo die Christen des Nahen Ostens ein geschlossenes Siedlungsgebiet haben. Die christlichen Assyrer gehören einer der ältesten Kirchen an und haben sich durch die Geschichte hindurch ihre traditionelle Liturgie und Spiritualität bewahrt - trotz Flucht und Vertreibung im 20. Jahrhundert. Wenn wir demnächst des Genozids an den Armeniern gedenken, werden die Deportationen und Massaker an Assyrern und Chaldäern wohl wieder unerwähnt bleiben, gegen die im Ersten Weltkrieg die Türken und Kurden des Osmanischen Reichs schrecklich wüteten."

Im Tagesspiegel berichtet Christiane Peitz, dass das Teheraner Kulturinstitut Sarcheshmeh gemeinsam mit dem dortigen "Haus der Karikatur" als Reaktion auf die Mohammed-Karikaturen in Charlie Hebdo einen Karikaturen-Wettbewerb über den Holocaust abhält: "Die Karikaturen für den Teheraner Wettbewerb können bis zum 1. April eingereicht werden, dem Sieger winkt ein Preisgeld von umgerechnet rund 20.000 Euro. Geplant sind außerdem ein Katalog und eine Ausstellung."
Archiv: Politik

Medien

Und dann noch diese Meldung aus den Ruhrnachrichten: "Rund 800 Flüchtlinge, die in Dortmund vorübergehend in Sammelunterkünften untergebracht sind, haben vom Rundfunkbeitragsservice, der früheren GEZ, Zahlungsaufforderungen bekommen. Wie kann das sein?"

Die Intendantin des Rundfunks Berlin-Brandenburg Dagmar Reim widerspricht im Tagesspiegel Malte Lehming, der den Öffentlich-Rechtlichen Intransparenz und "Demokratieresistenz" vorgeworfen hatte: "Der öffentlich-rechtliche Rundfunk ist demokratisch verfasst. Ebenso wie die freie Presse ist er eine Säule der Demokratie und so transparent wie wenig hierzulande. Wir sind kein Geheimbund. Wir finanzieren uns nicht aus Steuern. Und - besonders wichtig - wir sind kein Staatsfunk." Das musste aber auch wirklich mal betont werden!
Archiv: Medien

Gesellschaft

Im Interview mit Catrin Lorch macht der Urbanist Philipp Misselwitz die Medien mitverantwortlich für die populistische Stimmung gegenüber Flüchtlingen in Deutschland: "In Deutschland, einem der reichsten Länder der Erde, gingen 2014 um die 200000 Asylanträge ein, das entspricht 0,2 Prozent der Gesamtbevölkerung. Kann man ernsthaft von Überforderung sprechen, wenn gleichzeitig der Libanon mit 1,2 Millionen syrischen Flüchtlingen - das entspricht 20 Prozent der Bevölkerung - zurechtkommen muss?" Aber "Die Berichterstattung ist eindeutig: In den Medien werden vor allem Bilder von Notsituationen reproduziert. Wenn Zeitungen titeln "Turnhalle für Flüchtlinge geräumt", schlussfolgern Leser, dass der Ansturm der Flüchtlinge so groß ist, dass die Ausbildung ihrer Kinder gefährdet ist."

Weiteres: Marie Schmidt besucht für den Aufmacher des Zeit-Feuilletons die britische Feministin und Kapitalismuskritikerin Laurie Penny, die gerade in Harvard gastiert.
Archiv: Gesellschaft