9punkt - Die Debattenrundschau

Dorf der Globalisierungsenttäuschten

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.03.2019. Der Streit um genderneutrale Sprache geht weiter: Wenn schon "Gendersternchen" dann doch bitte "Geschlechtersternchen", seufzt in der NZZ die Ethnologin Brigitta Hauser-Schäublin. Die Debatte wird als Kampf um kulturelle Hegemonie geführt, fürchtet Thomas Steinfeld in der SZLiteraturcafé macht auf Artikel 12 der EU-Urheberrechtsreform aufmerksam, mit dem die Verlegerbeteiligung an Einnahmen der Verwertungsgesellschaften wieder hergestellt wird. Die SZ hofft auf öffentlich-rechtliche soziale Plattformen, die die Debatte zähmen. In der Zeit streiten Bruno Latour und Mark Lilla über Heimat.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 14.03.2019 finden Sie hier

Gesellschaft

Welt-Autor Thomas Schmid zeigt am Beispiel der jüngsten Debatte um gendergerechte Sprache, wie Debatte heute funktioniert. Wer das gleiche kritisiert, was auch "Rechte" kritisieren, dem wird wie jüngst durch die SZ (unser Resümee): "im Handumdrehen die geistige Prokura entzogen. Weil er in schlechter Gesellschaft daherkommt, zählen seine Argumente nicht mehr. Zwar beobachtet man in der SZ und der FAS den sprachlichen Genderzug ebenfalls mit einigem Missfallen. Aber man traut sich nicht, ihn offen und frontal zu kritisieren. Aus einem ebenso einfachen wie kläglichen Grund: Die Kämpfer für die gendergerechte Sprache geben erfolgreich vor, die Speerspitze des fortschrittlichen Milieus zu sein."

Ganz offen kritisiert dann doch Thomas Steinfeld in der SZ den Vorstoß der Sprachrevolutionäre, denen er entgegnet, eine geschlechtergerechte Sprache reproduziere lediglich die "Dominanz des Männlichen". Er wünscht sich einen unbeschwerten Sprachgebrauch, der Männer und Frauen nicht auf ihre biologischen Voraussetzungen zurückstoße: "Schlimmer noch: Viele Anhänger der geschlechtergerechten Sprache bestehen darauf, das Geschlecht sei etwas 'konstruiertes' oder kulturell 'gemachtes'. Wenn ausgerechnet Verfechter solcher Lehren den Menschen mit allem Nachdruck in die Bedingtheit des natürlichen Geschlechtes zurückdrängen wollen, verwandeln sich Fragen nach Wahrheit oder Unwahrheit in der Sprache in Konflikte um eine kulturelle Hegemonie."

Wenn schon "Gendersternchen" dann doch bitte "Geschlechtersternchen", seufzt in der NZZ derweil die Ethnologin Brigitta Hauser-Schäublin, die die deutsche Sprache zumindest vor der Amerikanisierung bewahren will. Sie kritisiert "ein selbst gewähltes Kolonisiertwerden durch eine Kultur, die bewundert wird und der man sich angleichen möchte. Damit reiht sich die deutsche Sprache, die im Nachgang zum Zweiten Weltkrieg und im Unterschied zu Englisch, Französisch, Spanisch, Arabisch, Chinesisch und Russisch von den Vereinten Nationen nie zu einer ihrer offiziellen Sprache ernannt wurde, unter jene Sprachen ein, die Gefahr laufen, ihre Eigenständigkeit verlieren."

Im Interview mit der Zeit spricht der Journalist Philippe Lançon, der knapp den Anschlag auf Charlie Hebdo überlebt hat, über sein Buch "Der Fetzen", Kafka und den "republikanischen Traum, durch Erziehung einen freien und gleichen Citoyen zu kreieren. Er mag eine intellektuelle Konstruktion sein, aber wir haben keinen besseren. Wir müssen alles für ihn tun, damit er in der gegenwärtigen Welt überlebt."

Weitere Artikel: Ebenfalls in der NZZ sorgt sich Slavoj Zizek um die Vulva, die von Feministinnen "entmystifiziert" werde: "Was dann noch bleiben würde, wäre eine langweilige gewöhnliche Welt, in der keine erotische Spannung mehr zwischen Menschen existierte."
Archiv: Gesellschaft

Ideen

In der Zeit sucht Bruno Latour in Zeiten des Klimawandels nach einer neuen Bedeutug des Begriffs "Heimat": "Heimat ist nicht das Land der Kindheit, in das uns die Nostalgie zurückversetzt; auch nicht der alte provinzielle und bäuerliche Boden, aus dem man sich immer herausreißen musste, um endlich Anschluss an die hektische und universelle Welt der Modernisierung zu finden; und noch weniger ist sie die Rückkehr in das Dorf der Globalisierungsenttäuschten, die wieder Lederhose tragen und altväterlich patriotische Hymnen anstimmen. Das Wort Heimat bedeutet vielmehr die Möglichkeit, dass wir das, was uns leben lässt, mit dem, was uns bewusst ist, zusammenbringen. Dann erscheinen die Passagen aus dem alltäglichen Leben in Farbe und nicht in Schwarz-Weiß."

Allerdings will Latour weder vom globalisierten Weltbürger wie dem neuen Neonationalismus etwas wissen. Aber was will er dann, fragt sich ratlos Mark Lilla in einer Antwort. "Wenn eine Heimat, wie er behauptet, dadurch definiert ist, dass sich Subsistenzmittel und kollektives Vorstellungsvermögen entsprechen, und wenn diese Mittel heute unweigerlich globale Dimensionen haben, könnte man zu dem Schluss gelangen, dass unsere kollektive Vorstellungskraft an unsere materielle Realität anschließen und global werden muss. Latour aber lehnt den Globalismus ab. Ebenso lehnt er den 'Neonationalismus' ab, wie er ihn verächtlich nennt, leider ohne uns zu verraten, was an ihm 'neo' ist. Was aber ist die Alternative? Nur ein (grüner) Gott kann uns noch retten? ... In seiner republikanischen Form bleibt der Nationalstaat das einzige vernünftige Mittel zur Herstellung menschlicher Solidarität, das uns zur Verfügung steht, um es mit den Folgen der Globalisierung aufzunehmen, so gut wir eben können."
Archiv: Ideen

Internet

Friedhelm Greis zitiert bei Golem jüngste Äußerungen zur Debatte um Uploadfilter für Internetplattformen, unter anderem vom Verhandlungsführer des Europaparlaments, Axel Voss, dessen Interviewaussage bei der Deutschen Welle klingt, als wolle er Youtube ganz abschaffen: "'Sie [Youtube] haben ein Geschäftsmodell auf dem Eigentum anderer Leute aufgebaut - auf urheberrechtlich geschützten Werken', sagte er dem Sender und fügte hinzu: 'Wenn es die Absicht der Plattform ist, Leuten Zugang zu urheberrechtlich geschützten Werken zu geben, dann müssen wir darüber nachdenken, ob diese Art von Geschäft existieren sollte.'" Greis zitiert auch den UN-Sonderbotschafter für Meinungsfreiheit David Kaye, der Zensur fürchtet: "Ein solch großer Druck für eine Vorfilterung ist eine weder notwendige noch angemessene Antwort auf Urheberrechtsverletzungen im Internet."

Während Facebook verstärkt auf "Dark Social", also die private Kommunikation der User untereinander setzt, träumt Philipp Bovermann in der SZ von einer öffentlich-rechtlichen Plattform, in der eine demokratisch digitale Öffentlichkeit jenseits von Filterblasen moderat (und moderiert?) miteinander diskutiert: "Ein Anreiz, sich auf diesen europäischen - eventuell entlang der politischen Verwaltungsebenen untergliederten - Marktplatz zu begeben, könnten Formen der Bürgerbeteiligung sein: Umfragen zu politischen Sachthemen, öffentliche Diskussionsformate oder eine Petitionsplattform. Auf europäischer Ebene sind Bürgerinitiativen per Software bereits rechtlich möglich. Außerdem wächst die Zahl der Bürger, die sich nun endlich berechtigte Sorgen um ihre Daten machen. Als Nutzer eines öffentlich-rechtlichen Netzwerks würden diese nicht mehr bei einem halbseidenen Konzern jenseits des Atlantik landen."

Einige prominente russische Autoren, unter ihnen Ljudmila Ulizkaja, Olga Sedakowa, Sergej Gandlewski und Konstantin Asadowsk, wenden sich in einem Aufruf gegen die neuen russischen Internetgesetze, meldet die FAZ: "Die neuen Gesetze gäben Beamten das Recht, willkürlich, ohne juristisches Verfahren die Verbreitung von Informationen zu verhindern und Internetportale zu blockieren. Dadurch würden Journalisten und Schriftsteller unterdrückt, für die russische Medienindustrie würden unerträglich diskriminierende Bedingungen geschaffen."
Archiv: Internet

Kulturpolitik

Auf Tagesspiegel Causa fordert auch  der SPD-Politiker Helge Lindh eine rigorose Rückgabe kolonialer Kulturgüter - und die Aufgabe der Kontrolle über die konservatorische und restauratorische Sicherung der Artefakte: "Wir haben uns von dem Geist des Misstrauens und der Bevormundung zu lösen. Es ist nicht an uns, zu entscheiden, was mit den Objekten geschehen soll und wie mit ihnen umzugehen ist. Wir sind nicht in der Position, um Bedingungen zu stellen. Darüber hinaus offenbart sich in der konkreten Forschungszusammenarbeit mit den Herkunftsländern oft ein anderes Bild: Es gibt sehr häufig eine funktionierende museale Infrastruktur und adäquate Aufbewahrungsmöglichkeiten."
Archiv: Kulturpolitik

Urheberrecht

"Kommt das von der EU vorgegebene Urheberrecht, werden sich die Einnahmen der Autorinnen und Autoren merklich reduzieren", konstatiert Wolfgang Tischer literaturcafe.de mit Blick auf den selten diskutierten Artikel 12 der EU-Urheberrechtsreform. Hier sollen die Verlage zurückbekommen, was ihnen in Deutschland durch die von Martin Vogel geführten Prozesse (mehr hier) genommen wurde, nämlich einen Anteil an den von Verwertungsgesellschaften verwalteten Einnahmen aus Kopien, Geräteabgaben und anderen Quellen. "Mit Artikel 12 der neuen EU-Urheberrichtlinie wäre die Verlegerbeteiligung nun sogar auf europäischer Ebene vorgeschrieben. Er trägt die Überschrift 'Claims to fair compensation' (Ansprüche auf angemessene Entschädigung). Es ist davon auszugehen, dass die VG Wort versuchen wird, den derzeitigen freiwilligen Verteilungsschlüssel wieder grundsätzlich anzuwenden, so dass die Autorinnen und Autoren von Fachbüchern auf die Hälfte ihrer VG Wort Einnahmen verzichten müssten und Romanautorinnen und -autoren auf 30 Prozent, wenn die EU-Richtlinie nationales Gesetz wird."
Archiv: Urheberrecht

Politik

Mit Politikerinnen wie Ilhan Omar, die übrigens von Barack Obama möglich gemacht worden seien, hält der Corbynismus Einzug in die Demokratische Partei, deren alternde Repräsentanten wie Nancy Pelosi ihnen das Feld überlassen, meint Lee Smith im Tablet Magazine mit Blick auf die junge Kongressabgeordnete Ilhan Omar und ihre israelkritischen Äußerungen: "Omars Aussagen sind kein Zufall, keine Versprecher, und sie werden nicht durch mehr Dialog verschwinden - egal, wie viel Ratschläge sie von den ehrlichen Makler ds interreligiösen Dialogs erhält... Nein, es ist alles wirklich so gemeint - es geht ihr um Israel, seine physische Existenz, sowie die amerikanischen Juden, die es wagen, einen US-Verbündeten zu unterstützen, der auch von einer großen Mehrheit der amerikanischen Öffentlichkeit unterstützt wird." In der taz wird unterdessen gemeldet, dass die palästinensische Terroristin Rasmea Odeh in Berlin sprechen wird, der es sicherlich ebenfalls nur um den Dialog der Religionen geht.
Archiv: Politik

Europa

"Normalerweise müsste May zurücktreten", sagt im Zeit Online Interview mit Steffen Dobert der Labour-Politiker Sir Mark Phillip Hendrick: "Seit Monaten sehen wir, wie große Investoren - Autohersteller aus Japan, Industrieunternehmen aus Deutschland - wegen dieses Theaters unser Land verlassen. Milliarden Pfund haben wir bereits verloren durch diesen Brexit. Dyson, ein gigantischer Staubsaugerhersteller, hat seine Unternehmenszentrale von London nach Singapur verlegt. Andere Firmen ziehen nach Kontinentaleuropa. Wir wissen, was da passiert. Es ist ein Desaster. Die einzigen Wege da raus sind entweder ein Deal, der etwas wert ist, oder ein Verbleib in der EU. Aber keine dieser Optionen existiert heute."

In der NZZ attestiert Peter Rasonyi May, die kommende Woche ein drittes Mal über ihr Abkommen abtsimmen lassen will, allerdings eine beachtliche "Chuzpe": Ihr "Vorgehen ist durchaus rational und konsequent. Mit den Abstimmungen vom Mittwoch ist das Szenario eines harten Brexit am 29. März erst einmal vom Tisch. Es bleibt eigentlich nur noch die für die Brexiteers äußerst unappetitliche Option einer Verzögerung mit der Aussicht auf eine Aufweichung oder gar eine Stornierung des Brexit. Das gibt May die Chance, ihren Deal als das kleinere Übel noch einmal aufzutischen."

In der Zeit ist Thomas Assheuer abgestoßen vom linken Nationalismus, der seine antisemitischen Ressentiments offen zur Schau stellt. Er empfiehlt der Linken die Lektüre des britischen Philosophen Brian Klug, der kürzlich Jeremy Corbyn ins Stammbuch schrieb: "Die bei radikalen Linken ortsübliche Unterscheidung zwischen Antizionismus und Antisemitismus ist eine Illusion, es gibt sie nicht, und es kann sie nicht geben. Der Zionismus gehört zum Schicksal der Juden dazu, und wer ihn als Rassismus oder Imperialismus dämonisiert, den lasse seine Entstehungsgeschichte kalt. Er interessiere sich nicht für das Leid der Juden, für die 'jahrhundertelange Unterdrückung des jüdischen Volkes in Europa'. Damit, so muss man Klug verstehen, bedient die Verteufelung des Zionismus genau jenes antisemitische Stereotyp, von dem die Linke sich glaubt abgrenzen zu können: Es macht 'den Juden' zum Anderen, zum Fremden, zum ewig Unzugehörigen."
Archiv: Europa